Tage mit mir (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
304 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9647-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tage mit mir -  Charlotte Wood
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Raus aus dem Alltagsstrom

Sich fernab vom hektischen und geselligen Stadtleben einfach mal ins Kloster zurückziehen, sich diesem neuen, stark verlangsamten Rhythmus anpassen und ganz neu aufs eigene Leben schauen, das ist Thema dieses einfühlsamen Romans. Wie lange der Aufenthalt im Kloster in den Monaro Plains dauern würde, war ihr nicht klar, aber er dauerte länger, als es die Städterin mittleren Alters aus Sydney erwartet hätte. Denn weder glaubt sie an Gott, noch hat sie jemals gebetet, aber müde von Arbeit und Stadtleben, hat sie sich eher zufällig für diese Form von Rückzug entschieden und ist vorerst einfach mal geblieben. Das ermöglicht ihr, auf überraschende Weise, zu sich selbst zu finden und sich mit Fragen zur Vergangenheit, Liebe, zu Krankheit und Tod, zum Älterwerden, zu Freundschaft und was es bedeuten könnte, »gut zu sein«, auseinanderzusetzen. Es ist die ungewohnte Umgebung, die ungewohnte Situation, die grundsätzliche Fragen zulässt, fern von Religion, Esoterik, Dramatik.

CHARLOTTE WOOD stammt aus New South Wales, Australien, und lebt in Sydney. Sie ist Journalistin und Autorin von mehreren Romanen und Sachbüchern und wurde unter anderem mit dem Stella Prize und dem Prime Minister's Literary Award ausgezeichnet. Bei Kein & Aber erschienen der Bestseller Ein Wochenende (2020) sowie Tage mit mir (2023).

ERSTER TAG


Gegen fünfzehn Uhr endlich angekommen. Das Ganze erinnert an ein Kurheim aus den Siebzigerjahren oder an eine Öko-Kommune, hat aber nichts Einladendes. Schilder an Zäunen oder an kurzen Pfosten entlang der Zufahrtswege: Kein Zutritt. Parken verboten. Ein Ort der Arbeit, nicht der Erholung.

Ich parke irgendwo an einem Zaun und bleibe im stillen Wagen sitzen.

~

Auf dem Weg hierher habe ich einen Zwischenstopp in der Stadt eingelegt und zum ersten Mal seit fünfunddreißig Jahren das Grab meiner Eltern besucht. Ich musste ziemlich lang suchen, bis ich es auf dem sogenannten Rasenfriedhof gefunden hatte, dem neueren Teil, den sie – warum eigentlich? – vom ursprünglichen Stadtfriedhof abgetrennt haben, wo schiefe weiße Grabsteine in krummen Reihen stehen. Dieser alte Teil wird von riesigen Kiefern überragt, auf deren hohen Ästen Raben und Kakadus kreischen. Der Rasenfriedhof dagegen ist eine öde ebene Fläche mit hässlichen niedrigen Grabsteinen in leicht geschwungenen Reihen, alle gleich groß. Ordentlicher, das schon (aber warum sollte ein Friedhof ordentlich sein?).

Kein Rasen, nur staubiges totes Gras.

Um meine Eltern zu finden, musste ich das kalte, unbehauste Gefühl in mir zurückrufen, das ich – physisch, meine ich – bei beiden Bestattungen gehabt hatte. An der Stelle, wo mein Vater und später meine Mutter in ihre nebeneinanderliegenden Erdschächte befördert wurden, war es mir so vorgekommen, als wäre um mich herum zu viel Raum. (Ich fand es damals lieblos, einen Menschen mit Seilen und Stricken statt mit den Armen in ein Loch in der Erde zu senken.) Doch nun half mir die Erinnerung an dieses Gefühl auf meinem Gang durch den Friedhof, die Stelle wiederzufinden. Ich stand vor den Gräbern meiner Eltern, zwei maschinell zugeschnittenen und polierten Steinen. Die Farbe und Ausführung dieser Steine und die Inschriften darauf hatten für mich nicht den geringsten Bezug zu den beiden. Und doch musste ich mich für sie entschieden, sie für gut befunden haben.

Irgendwer hatte hässliche Plastikblumen in das kleine Metallgitter neben den Steinen gesteckt. Vielleicht gibt es Freiwillige, die auf dem Friedhof herumgehen, um auf Gräbern, die niemand besucht, unechte Blumen abzulegen. Wem sonst wäre es wichtig, die Grabstelle meiner Eltern noch nach so langer Zeit hervorzuheben? Das Plastik war durchgehend grau verfärbt, dabei mussten diese Blumen einmal genauso kräftig gewesen sein wie die in den kleinen Metallvasen neben anderen Steinen – ausgefranste synthetische Blüten in Kastanienbraun, Weinrot und Weiß mit dunkelgrünen Stielen und da und dort einem künstlichen Knötchen oder Blättchen.

Ich stand auf dem Gras und betrachtete die hässlichen Blumen, dann die Namen meiner Eltern auf ihrem jeweiligen Stein. Und plötzlich wurde mir bewusst: Hier unter meinen Füßen liegen eure Knochen. Da ging ich in die Hocke – nur zwei Meter Erde zwischen ihren Körpern und meinem –, küsste meine Finger und drückte sie auf das knisternde Gras.

~

Auf dem Rückweg zum Auto kam mir noch eine Erinnerung: ein Anruf, viele Monate nach dem Tod meiner Mutter. Ein Mann teilte mir leise mit, dass ihr Grabstein nun fertig sei. Ich stand mit dem Telefon in der Hand vor der Waschküchentür und war äußerlich unverändert, aber in meinem Inneren donnerte alles nach unten. Als würde in mir eine Sandbank einstürzen.

~

Gegen Ende der Fahrt wurde der Himmel dunkel, und es begann zu nieseln. Die Straße wand sich eine steile Anhöhe hinauf, mündete in einen Tunnel aus dichtem Urwald – mein Auto hatte seine liebe Not mit dem nassen Asphalt – und führte auf der anderen Seite auf diese endlose, flache, unwirtliche Ebene, rau wie Wildleder.

Nacheinander fielen mir Ortsnamen ein, die ich glaubte vergessen zu haben: Chakola, Royalla, Bredbo, Bunyan, Jerangle, Bobundara, Kelton Plain, Rocky Plain, Dry Plain, wie die Perlen an einem Rosenkranz. Als würde ich die Knochen meines Körpers aufzählen.

~

Kurz vor dem Ziel zeigt sich die Sonne. Ich steige aus, lehne mich an die Wagentür, sehe mich um und versuchte zu entscheiden, wohin ich gehen soll. Schmale Zypressen, ein paar Eukalyptusbäume, sehr viel Stille. Drei, vier graugrün gestrichene Holzhütten mit grünen Spitzdächern aus Blech.

Ich gehe ein bisschen herum, entdecke eine Hütte mit der Aufschrift Büro und klopfe an. Eine Frau erscheint in der Tür und stellt sich als Schwester Simone vor. Sie spricht den Namen mit einem leichten Akzent aus (französisch?). Undefinierbares Alter, geschäftsmäßig, gleichzeitig wirkt sie sanft. Ziemlich mager. Sehr gelbe Zähne. Sie bittet um Entschuldigung, dass sie mich nicht draußen begrüßt hat; sie habe zu tun, eine Hauswirtschafterin werde mir in der Zwischenzeit alles zeigen. Erklärt mir mit breitem Grinsen – eher einer Grimasse –, dass sie mich gegoogelt hat und meine Arbeit »sehr beeindruckend« klingt. Ihr Ton hat etwas leicht Süffisantes. Ich erwidere lächelnd, dass das Internet sehr täuschen kann. Nach kurzem Schweigen entgegnet sie kühl, die Rettung der Geschöpfe Gottes sei mit Sicherheit eine wichtige Arbeit. Sie wirkt ein bisschen verärgert. Nicht an Meinungsverschiedenheiten gewöhnt. Wir grinsen einander noch einmal an, dann schließt sie die Tür des Büros.

~

Anita, die Hauswirtschafterin. Geschwätzig, breiter Arsch. Fröstelt ein bisschen in ihrer weinroten Fleeceweste über dem türkisen T-Shirt. Dunkelblaue Hose. Sie führt mich über das Gelände und durch die Gebäude, ich immer hinter ihr, während sie vor sich hin plappert. Nie im Leben könnte sie Nonne sein – allein das Aufstehen um fünf, die Vigil. Im Winter! Außerdem dürfen sie nicht Netflix schauen. »Also, für mich wär das nix.«

Hin und wieder öffnet sie die Arme, deutet auf etwas – den Laden, alte Obstbäume, die Gästeunterkünfte; zeigt auf die Weiden dahinter, auf ein kleines Wasserreservoir –, verschränkt sie dann wieder gegen die Kälte, und wir machen uns auf den Weg zu einer steinernen Kapelle. Um ein Haar sage ich: Schon gut, ich muss da nicht rein, möchte aber nicht unhöflich wirken. Wir drücken eine dicke Holztür auf. Anita plappert ununterbrochen weiter, jetzt aber flüsternd, obwohl drinnen niemand ist. Sie hat gerade erst gelernt, sagt sie, dass das keine Kapelle ist – Kapellen sind immer in Privatbesitz. Das hier ist eine geweihte Kirche. Hier beten sie die Horen, flüstert sie und spricht das Wort wie eine fremdsprachige Vokabel aus. Was es ja auch ist.

Sie deutet auf eine Ecke: »Und da sitzen Sie

Vier Holzbänke an der Seite, ein Stück entfernt von denen in der Mitte, die wahrscheinlich den Schwestern vorbehalten sind. Die Gästebänke sind kleiner, moderner und aus hellgelbem Kiefernholz. Auf jedem Platz liegt ein flaches, quadratisches braunes Kissen, und unten verläuft auf ganzer Länge ein mit braunem Leder bezogenes Kniepolster. Anita wartet, bis ich ihr bewiesen habe, dass ich weiß, wie man sitzt. Es ist erstaunlich bequem.

Einen Altar gibt es nicht. Nur ein schlichtes Lesepult aus Holz vor einem riesigen geschnitzten Holzkruzifix an der weiß getünchten Wand.

Als wir die Kirche verlassen, bleibt Anita stehen und zeigt mir ein großes eckiges Blumengesteck, das seitlich unter dem Kruzifix auf dem Boden liegt. Das hat eine von den Oblatinnen gemacht, sagt sie. Ich erwidere: »Hm.« Ja, sagt Anita und seufzt bewundernd. Diese Oblatin hat wirklich ihren ganz eigenen Stil.

Ich sage ihr nicht, dass ich keine Ahnung habe, was eine Oblatin ist.

~

Der nächste Halt auf unserem Rundgang ist eine zweitürige Kühl-Gefrier-Kombination auf einer Veranda. Anita reißt die Kühlschranktür auf und zeigt mir die mit Eiern, Milch und einigen Äpfeln gefüllten Fächer. Wirft die Tür zu und öffnet den Gefrierschrank, in dem einzeln eingeschweißte kleine Fleischpasteten und Päckchen mit jeweils vier Scheiben Vollkornbrot liegen. Die Sachen sind für Gäste, die sich zum Mittagessen nichts aus dem Speisesaal holen wollen, erklärt sie.

Die Schwestern bekomme ich ausschließlich in der Kirche zu sehen, sagt sie in warnendem Ton, als würde mich das enttäuschen. Die Nonnen wohnen in einem langen, niedrigen, durch eine Hecke abgezäunten Gebäude hinter der Kirche, auf einem abgeschotteten, für Gäste nicht zugänglichen Areal.

Schließlich geht es noch zu meiner Hütte, die Anita mit dem Namen eines Heiligen bezeichnet, den ich sofort vergesse. Die Nachbarhütten sind offenbar nicht belegt, aber wer weiß. Ich frage nicht, ob außer mir noch jemand da ist. Alles wirkt ziemlich leer.

Anita sperrt auf und duchquert das Zimmer, zieht den Vorhang zurück und zeigt mir die Fernbedienung für das Klimagerät, mit dem auch geheizt wird. (»Sie können sich nicht vorstellen, wie heiß es hier im Sommer ist, aber jetzt ist es auf ›Heizung‹ gestellt – sehen Sie da, die kleine Sonne?«) Sie nimmt eine laminierte Broschüre vom schmalen Schreibtisch – »Hier drin steht alles, was Sie wissen müssen« – und lässt sie wieder fallen. Macht eine unbestimmte Handbewegung zu den Behältern und Schränken der Miniküche hin, dann in die entgegengesetzte Richtung, wo das Bad ist, das ich aber nicht sehen kann, lächelt mich an und seufzt mit freudiger Bestimmtheit, so als könnten wir jetzt, nach Erledigung der Formalitäten, endlich ein richtiges Schwätzchen halten. Ich bedanke mich zügig...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2023
Sprache deutsch
Original-Titel Stone Yard Devotional
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Akzeptanz • Älterwerden • Annehmen • Auszeit • Beruhigung • Einfaches Leben • Einsicht • Entschleunigung • Freundschaft • Innerer Frieden • Kloster • Klosterleben • Lebensrealität • Monaro Plains • Retreat • Rückzug • Selbstfindung • Stadtleben • Vergangenheit • Vergebung • Wunsch nach Ruhe
ISBN-10 3-0369-9647-8 / 3036996478
ISBN-13 978-3-0369-9647-9 / 9783036996479
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