Zeit der Mauersegler (eBook)

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2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9646-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeit der Mauersegler -  Julian Schmidli
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Eine rasante Reise durch eine ungleiche Freundschaft

Nino und Tschüge sind Außenseiter. Von den anderen Kindern gehänselt, sind sie in ihrer eigenen Welt zwei unaufhaltbare Helden, sie sind wie Bud Spencer und Terence Hill, sie sind Double Trouble - bis sie auf dem Schulweg wieder mit Kuhmist beworfen werden. Immerhin haben sie einander, doch als Leila, das stille Mädchen aus dem Kosovo, im Dorf auftaucht, wird die Freundschaft der beiden auf eine harte Probe gestellt. Fünfzehn Jahre später bittet Tschüge Nino, ihn auf eine Reise in den Kosovo zu begleiten, wo Tschüges und Leilas Hochzeit stattfinden soll. Der alten Zeiten wegen. Doch als sie in Ninos viel zu kleinem Fiat 500 Giardiniera losfahren, merken die beiden Männer, wie unterschiedlich sie geworden sind. Auf einem turbulenten Trip durch die Alpen, Italien und den Balkan erkunden sie den Wert ihrer Freundschaft und die Frage, wie viele Geheimnisse sie verträgt. Wie Mauersegler sind sie unterwegs, ohne Pause, immer am Limit, bis das Herz irgendwann nicht mehr mithalten kann. Am Ende der Reise ist die Welt noch dieselbe, aber die beiden Freunde haben sich für immer verändert.

Julian Schmidli, geboren 1985 in Pasadena (Kalifornien) und aufgewachsen in Luzern, ist ein preisgekrönter Journalist und Filmemacher. 'Zeit der Mauersegler' ist sein Debütroman und basiert auf den Erfahrungen und Reisen, die er in den letzten zehn Jahren gemacht hat. Er lebt in Zürich.

1

Irgendwann konnten wir zwar davonrennen, oh ja, wie die Gämsen vor dem Wolf, aber dann warfen sie eben nach uns. Steine. Schneebälle. Säckchen voller Hundescheiße. Es gab nichts, was nicht plötzlich vom Himmel sausen konnte. Papà schimpfte manchmal, wir hätten die Köpfe in den Wolken statt die Füße am Boden. Aber er wusste auch nicht, warum wir stets nach oben schauten, wenn wir durchs Dorf liefen. Und eher wäre ich gestorben, als ihm davon zu erzählen.

Irgendwie konnte ich verstehen, warum sie uns herausgepickt hatten. Wir waren ein ungleiches Duo. Ich war schmächtig, klein und wahnsinnig verträumt. Der Junge mit dem Knautschgesicht und der wilden Frisur, der nicht ins Dorfbild passte. Tschüge war das Gegenteil. Er war riesig und rund, mit bestimmtem Schritt und kullernden Hundeaugen – und einem Berner Oberländer Stammbaum, der zurückreichte bis zur Schlacht bei Murten. Von außen betrachtet waren wir nicht gerade Heldenmaterial. Aber das waren Bud Spencer und Terence Hill auch nicht. Und hatte sie das davon abgehalten, die coolsten Typen des Universums zu werden?

Wir wohnten am Ende der Straße, am Rande des Dorfs, in einem Ausläufer der Oberländer Alpen. Ich mit Papà, Mammà und Nonno in einem kleinen Einfamilienhaus, das viele nur »Tschinggenhaus« nannten. Die einen nannten uns »Tschinggen«, weil sie es nicht besser wussten und die beleidigenden Zwischentöne nicht hörten. Die anderen nannten uns so, weil sie es genau so meinten.

Tschüge wohnte direkt gegenüber mit seinen Eltern über der Dorfmetzgerei, die sein Vater betrieb. Wir hatten beide keine Geschwister, nur einander, und so taten wir, was man als Kind in den Neunzigern in einem verschlafenen Kaff im Herzen der Schweiz so tat: Wir träumten. Von Abenteuern und großen Reisen und Heldentaten. Unsere Bibel war das Guinness-Buch der Rekorde, ein Lexikon voller kühner Wagnisse und verrückter Ideen. Wir saßen auf der Treppe zur Metzgerei, blätterten durch die Seiten und stellten uns vor, wie wir künftig Rekorde brachen. Wir würden die verrücktesten Gefährte erfinden und schneller fahren und höher fliegen als je ein Mensch vor uns. Wir würden die kühnsten Männer sein, die die Welt kannte, immer bereit, die größten Probleme der Zeit zu lösen. Man würde uns mit Ehrfurcht begrüßen, wohin wir auch kamen.

Dann kamen wir in die erste Klasse.

Wir bemerkten, dass sich eine Veränderung anbahnte, als uns unsere Eltern am Tag vor Schulbeginn in einer Ernsthaftigkeit zu sich zitierten, als hätten wir angekündigt, zu einer Expedition auf den Himalaja aufzubrechen. Wir saßen im Wohnzimmer von Tschüges Eltern, wippten aufgeregt auf dem grünen Samtsofa, und Tschüges Vater malte mit groben Strichen den Schulweg auf rosarotes wachsbeschichtetes Einschlagpapier, in das er sonst die Schnitzel wickelte. »Der Weg ist eigentlich narrensicher«, erklärte er. Wir müssten nur dem Fluss folgen, bei der alten Mühle über die Holzbrücke und von dort geradeaus über den Dorfplatz bis zur Schule. »Alles in allem ein Weg von zehn, höchstens fünfzehn Minuten.« Papa Helmiger hielt seinen enormen Metzgerzeigefinger in die Höhe, als hätte er es mit der Stoppuhr gemessen. »Und keine Umwege! Man weiß nie, wann der Wolf aus dem Wallis wieder rüberkommt.« Seine Finger zeigten durchs Fenster auf die Bergspitzen im Süden. Wir sahen uns an und nickten eifrig.

So weit der Plan. Machbar, geradezu einfach. Was wir da noch nicht wussten: Dass Pläne es so an sich hatten, etwas Wesentliches auszuklammern – das Unplanbare.

Es war an einem Nachmittag nach dem Unterricht, wir gingen erst wenige Wochen zur Schule und trippelten gut gelaunt über die Holzbrücke, als Tschüge ruckartig stehen blieb und auf das riesige Mühlrad zeigte, das am Ufer des Flusses aus einer Hauswand ragte. In der alten Mühle war früher Weizen gemahlen worden, doch nun war sie seit Jahren nicht mehr in Betrieb. Von der Straße her sah sie mit ihren verwitterten Holzplanken und dem löchrigen Giebeldach aus wie eine hohe Scheune, aber von der Brücke aus dominierte das riesige hölzerne Mühlrad mit seinen stufenartigen Fächern.

Tschüge zeigte auf einen großen Stapel von Ziegelsteinen, der an der Wand der Mühle stand, und sagte: »La Grande Dixence«, als sei damit alles klar.

Ich sah ihn fragend an.

»La Grande Dixence. Aus dem Guinness-Buch! Das ist der größte Staudamm von Europa. Zweihundertfünfundachtzig Meter hoch, zweihundert Meter breit, siebenhundert Meter lang. Wir könnten den nachbauen.« Er schnipste mit dem Finger, als würde er damit die Ziegelsteine versenken.

Ich sah ihn verblüfft an. Das war genial. »Wir bauen den größten Staudamm Europas!«, rief ich.

Tschüge lachte. »Ach was, der Welt!«

Ich streckte die Arme in die Luft wie ein Hundert-Meter-Läufer im Ziel. »Weltrekord!« Wir streiften unsere Schulranzen ab und machten uns ans Werk.

Die Steine waren rötlich-braun und hatten eingestanzte Löcher. Wenn man mit drei Fingern hineingriff und die Beine in den Boden stemmte, konnte man einen Stein heben und mit Schwung ins Wasser befördern, wo er dann mit einem befriedigenden Flumptsch versank. Nach ein paar Steinen merkten wir, dass wir mit unserer Wurfkraft nur die eine Seite des Flusses abdeckten.

»Wir müssen aufs Dach klettern«, sagte ich zu Tschüge. »Von da kommen wir bis hinüber.«

Tschüge kletterte an den Fächern des Mühlrads bis nach oben. Dann setzte ich einen Stein in eine hölzerne Rille, und wir drehten am Rad, bis der Stein, wie in einem Riesenrad, oben angekommen war. Dort nahm ihn Tschüge in Empfang, um ihn mit Anlauf ins Wasser zu schleudern.

Wir hatten vielleicht zwei Dutzend Steine im Fluss versenkt und waren in unsere selbst auferlegte Knochenarbeit vertieft, als uns plötzlich ein stechender Geruch umgab. Ein Kiesel traf mich an den Schultern.

»Ey, Dick und Doof, was tut ihr da?«

Fünf Jungs hatten sich hinter meinem Rücken aufgestellt. Sie waren ein paar Jahre älter und ein paar Köpfe größer, saßen noch auf ihren BMX oder hatten sie am Boden liegen lassen und standen nun mit verschränkten Armen vor uns. Einzelne hatten qualmende Stängel in den Mundwinkeln. Auf ihren Gesichtern lag ein Grinsen, als hätten sie beim Uno-Spiel gerade eine Plus-vier-Karte gezogen.

»Himmelherrgott«, fluchte Tschüge und ließ seinen Stein fallen. »Dävu und seine Gang.«

Ich schluckte leer. Immer mal wieder hatten wir von ihnen gehört. Dass sie das Nachbardorf unsicher machten und Schüler terrorisierten. Aber es war ein wenig wie mit dem Walliser Wolf: Nur weil man wusste, dass etwas existierte, rechnete man nicht damit, ihm irgendwann tatsächlich zu begegnen. Ich sah mich um. Hinter mir war der Fluss, neben mir das Mühlrad, vor mir die Gang. Ich war eingekesselt.

»Ich hab euch was gefragt. Was tut ihr da?«, sagte der, von dem ich annahm, dass es Dävu war, weil er sich wie ein Anführer benahm.

»Wir bauen die Grande Dixence«, stammelte ich.

Die Jungs lachten laut.

Ich zeigte südwärts, in Richtung Wallis. »Das ist der Stau–«

»Wir wissen, was die Grande Dixence ist«, sagte Dävu laut und gab ein gepresstes Lachen von sich, das klang wie Mammàs Entsafter. »Wir waren letzten Sommer da oben und haben runtergepisst. Aber was macht ihr hier, ihr Grande Wichser?« Seine Jungs lachten wieder, wie auf Kommando. »Warum werft ihr unsere Steine ins Wasser? Die Mühle gehört uns.«

»Die Mühle gehört niemandem«, rief Tschüge von oben.

Dävu zauberte ein silbernes Zippo aus der Jackentasche und ließ die Flamme züngeln. »Sagt wer? Dein Papa, der Metzgermeister?«, fragte er.

Tschüge nickte.

Dävu grinste. »Vielleicht solltest du weniger Wurst essen, Dickerchen, dann könntest du jetzt runterklettern und deinem Freund helfen.« Dann sah er mich an. »Und du bist der Tschingg, oder? Wie heißt du noch gleich?«

Ich zuckte zusammen. »Nino«, sagte ich und fügte reflexartig meinen Nachnamen hinzu. »Nino Malatesta.«

»Zu kompliziert«, fiel mir Dävu ins Wort. »Mala-Dingsda. Das kann sich niemand merken.« Dävu sah zu seinen Kumpels. »Wer hat einen besseren Vorschlag?«

»Er sieht aus wie ein Alfonso!«, rief einer auf einem BMX. Mit seinen langen aufgegelten Haaren sah er aus wie ein menschgewordenes Stacheltier.

Dävu nickte zufrieden. »Fonsi. Passt. Und was hast du hier, Fonsi? Ist uns jemand zuvorgekommen?« Er zeigte auf meine Nase.

Ich zuckte zusammen und schwieg. Meine Narbe ging niemanden was an.

Tschüge sah mich an. Er war inzwischen dunkelrot angelaufen und kaute auf seiner Unterlippe herum, wie immer, wenn er angestrengt nachdachte. »Nennt ihn nicht Fonsi, ihr Pajasse!«, rief er und balancierte auf dem Wasserrad. Mit vorsichtigen Gesten versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, übers Dach abzuhauen und sich in Sicherheit zu bringen. Doch Tschüge machte keine Anstalten, zu flüchten.

Das Stacheltier quiekte. »Schau mal an, der Dicke will auch einen Spitznamen.«

Dävu winkte ab. »Seht ihr das?«, fragte er und zog ein paar lange dünne Stängel aus der Jackentasche. »Das sind Nielen.«

Ich sah zu Tschüge. Wir wussten nicht, was Nielen waren.

Dävu ließ das Zippo aufschnappen und zündete einen Stängel an. Dann sog er daran wie Nonno an seiner Pfeife und rief zu Tschüge: »Wenn du runterkommst und mit mir eine Friedensniele rauchst, lassen wir deinen Fonsi gehen.«

Zwei der Jungs gingen auf das Mühlrad zu und begannen, daran zu drehen.

Ich...

Erscheint lt. Verlag 18.8.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Balkankonflikt • Balkanroute • Erste Liebe • Ferienlektüre • Flüchtlingskinder • Freundschaft • Geheimnisse • Jugendfreunde • Junggesellenabschied • Männlichkeit • Mauersegler • on the road • Roadtrip
ISBN-10 3-0369-9646-X / 303699646X
ISBN-13 978-3-0369-9646-2 / 9783036996462
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