Phantomschmerz (eBook)

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2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61429-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Phantomschmerz -  Arnon Grünberg
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Robert G. Mehlman, Mitte dreißig, steht zwischen drei Frauen und vor dem Bankrott. Galgenhumor ist seine letzte Überlebenschance. Auch dann, wenn er statt Gefühlen nur noch einen Phantomschmerz empfindet

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.


»Ich hab das Zeug zum Monarchen«, sagte Robert G. Mehlman eines Abends. Wir saßen auf der Terrasse des Santa-Caterina-Hotels in Amalfi. Es war kalt für die Jahreszeit. Er trug seinen blauen Mantel. An seinen Lippen klebten Erdnußreste. Er roch anders als früher. Nach Kellern, in denen viel getanzt und nie gelüftet wurde. Auf seiner weißen Sommerhose war ein Soßenfleck, und seine Hände zitterten wie kleine, kranke Vögel, die emporfliegen wollen, aber immer wieder auf den Boden fallen.

Mehlman war mit drei Schrankkoffern und einer großen Tasche voll ungeöffneter Post durch ganz Europa gereist, und jetzt war er im Hotel Santa Caterina abgestiegen, wo er ein Zimmer mit Aussicht aufs Meer zum halben Preis bekommen hatte, weil die Saison in diesem Jahr einfach nicht losgehen wollte.

Früher reiste er mit seinem Sekretär, doch der hatte sich aus dem Staub gemacht.

Als ich kam, um ihn zu sehen, wollte Mehlman mich zuerst nicht empfangen. »Hau ab«, rief er, »du siehst doch, was mit mir los ist!«

Ich wollte sofort wieder abreisen, schließlich hatte ich die ganze Reise nicht gemacht, nur um mich von ihm anschnauzen zu lassen. Aber am Telefon sagte meine Mutter: »Bleib erst mal da, er ändert seine Meinung sicher wieder.«

Beim Frühstück am nächsten Morgen hatte er tatsächlich seine Meinung geändert. »Was du da anhast«, sagte er, »das Zeug, das mußt du wegwerfen.«

Zwei Kellner starrten mürrisch auf den grauen Himmel. Die Saison war schon drei Wochen überfällig. Ein Österreicher fragte in schlechtem Italienisch: »Wann geht hier ein Zug nach Süden?«

»Hier fahren keine Züge«, sagte der Kellner auf englisch. »Wenn Sie nach Süden wollen, müssen Sie ein Taxi nehmen.« Der Kellner stellte sich an unseren Tisch. »Stimmt es, daß Sie heute zahlen möchten, Meneer Mehlman?«

Mehlman nickte, und der Kellner sagte, während er aufs Meer starrte: »Ja, wenn ein Gast erst mal da ist, wird man ihn so schnell nicht wieder los.«

Unter dem Tisch stand die Tasche voll ungeöffneter Post. Mehlman kramte darin herum, holte eine Rechnung hervor, betrachtete sie flüchtig und zerriß sie in tausend kleine Schnipsel. »Sie wissen ja doch nicht, wo ich bin«, sagte er, »und bis sie mich gefunden haben, bin ich längst tot.«

Er wischte sich etwas Marmelade von den Lippen und bestellte ein Glas Whisky. Der Kellner wollte gehen, doch er hielt ihn zurück. »Als ich so alt war wie du«, sagte er, »hatte ich auch noch Haare, und was für welche!«

»Das Leben rast wie ein D-Zug«, sagte der Kellner und starrte weiter aufs Meer.

Die Haare, die Mehlman noch hatte, waren weiß und standen in alle Richtungen.

»Jetzt ist es fast ein Jahr her«, sagte er.

»Was«, fragte ich, »was ist ein Jahr her?«

»Daß mein Sekretär abgehauen ist.«

Der Österreicher stand auf. »Und gibt’s hier Taxis, die in den Süden fahren?« fragte er mit lauter Stimme.

Alle im Frühstücksraum sahen ihn an. Viele waren es nicht, es gab mehr Kellner als Gäste.

Ein älterer Herr am Fenster mit mindestens fünf ausländischen Zeitungen vor sich sagte mit affektierter Stimme: »Ich komme schon seit dreißig Jahren hierher, ich weiß mehr über diesen Ort als das Personal. Wenn Sie ein Taxi in den Süden wollen, kann ich Ihnen ruckzuck eins besorgen.«

Eine Dame, die sich am Buffet gerade Ananasstückchen auf den Teller legte, rief: »Meine Eltern kamen auch schon immer hierher, und ich sage Ihnen: Fahren Sie nicht in den Süden, weiter südlich kommt nichts mehr, nur noch Armut.«

Der Österreicher legte keinen Wert auf ihre ungebetenen Ratschläge. »Wenn ich in den Süden will, ist das meine Sache.«

»Genau«, sagte der Herr mit den Zeitungen, »und wenn Sie ein Taxi möchten, kommen Sie zu mir. Ich kenne jeden hier im Dorf.« Er blickte triumphierend um sich, und weil niemand reagierte, fuhr er fort: »Als ich sechzehn war, sagte mein Lateinlehrer zu mir: ›Henri, die meisten Leute sind tot, weck sie nicht auf.‹ Aber ich hab mich nicht um seinen Ratschlag geschert, ich habe sie wach gerüttelt, wo immer ich konnte.«

»Hättest sie besser schlafen lassen«, murmelte Mehlman.

Die Dame, die noch immer mit ihren Ananasstückchen kämpfte, kam auf ihr Lieblingsthema zurück: »Südlich von hier beginnt die Armut, ich bin da gewesen, zuerst mit meinen Eltern und vor fünf Jahren noch mal allein, und nichts hatte sich geändert.«

Mehlman schmierte sich bedächtig ein Brötchen mit Marmelade. Ich glaube nicht, daß er wirklich vorhatte, das Brötchen zu essen.

»Ich will nicht wach gerüttelt werden«, sagte der Österreicher, »ich will in den Süden, ich brauche Sonne, ich hab’s im Kreuz.«

Einige Kellner begannen schon wieder für den Lunch zu decken. Ich bekam den Eindruck, daß manche Gäste den ganzen Tag hier saßen und auf die nächste Mahlzeit warteten; erst nach dem Abendessen kehrten sie in ihre Zimmer zurück. Höchstens zwischen fünf und sechs gingen sie vielleicht mal kurz runter ins Sportcenter zum Tischtennisspielen.

»Du mußt sterben, bevor dein Geld alle ist«, sagte Mehlman, »und nicht umgekehrt, sonst wirst du den Menschen nur zur Last. Und das haben sie nun auch wieder nicht verdient.«

 

Robert G. Mehlman ist mein Vater. Auch wenn er das in seinen Anfällen wilder Raserei immer wieder abstritt. »Ich – dein Vater?« rief er dann. »Du weißt doch, was deine Mutter für eine ist!«

Als ich geboren wurde, hatte der Ruhm Robert G. Mehlmans seinen Höhepunkt erreicht. Er war mehr als ein großes Talent. Doch nach fünf Jahren war von diesem Ruhm nicht mehr viel übrig, meine Mutter verglich meinen Vater oft mit einem Strauß Rosen, der zu lange ohne Wasser in der Vase gestanden hat.

Wahrscheinlich wurde ich gezeugt, weil mein Vater ein einziges Mal in seinem Leben ein Versprechen halten wollte. Weil meine Erzeuger sich in einer Krise befanden und nicht wußten, was sie taten. Doch wichtig ist nur, daß ich gezeugt wurde; warum, spielt keine Rolle. Obwohl mein Vater das natürlich auch wieder abstreiten würde. »Jedes Detail ist wichtig«, würde er sagen, »nichts darf unserer Aufmerksamkeit entgehen.«

Aber so ist es natürlich nicht. Viele Details sind unwichtig. Die meisten, um genau zu sein. Was hier eine Rolle spielt, ist nur, daß ich an einem kalten Januartag in einem Hotel in Long Island geboren wurde.

Am Anfang der Schwangerschaft hatten meine Eltern noch über die Vorteile einer Abtreibung gesprochen, doch diese Gespräche dauerten so lange, daß es schließlich zu spät dafür war. Meiner Mutter, die unbedingt ein Kind wollte, waren plötzlich Zweifel gekommen. Eine Geburt schien ihr ein Alptraum, doch eine Abtreibung auch, und zu guter Letzt fand sie, daß eine Geburt dann immer noch der erträglichere Alptraum war.

Meine Eltern waren gerade für ein paar Tage auf Urlaub in Montauk. Mein Vater liebte es, in Hotels zu arbeiten. Die Wehen kamen früher als erwartet. Sie wollten ins Krankenhaus, doch es war schon zu spät. Man holte eine Hebamme. Sehr viel hat die auch nicht mehr tun können.

Während der Geburt betrank sich mein Vater im Hotelrestaurant. Mit Aussicht aufs Meer. Der Rechnung zufolge, die er für mich aufhob und mir an meinem vierzehnten Geburtstag – mit Rahmen und allem Drum und Dran – überreichte, muß er an jenem Abend zwei Flaschen Chianti, vier Gläser Grappa und zwei Flaschen Champagner bestellt haben. Ich vermute, daß der Chianti und der Grappa vor meiner Geburt und der Champagner danach bestellt wurden.

Auch scheint er an jenem Abend – doch hierzu gehen die Meinungen auseinander – eine Kellnerin um ihre Hand gebeten zu haben. Meine Mutter heulte, ich kreischte wie besessen, die Hebamme schlug mir auf den Hintern, und zwei Stockwerke unter uns machte mein Vater einer anderen einen Heiratsantrag.

Bei meiner Beschneidung fiel mein Vater in Ohnmacht. Nicht wegen des Bluts oder weil er es nicht ertragen konnte, daß mir Schmerzen zugefügt wurden, sondern einfach, weil es für ihn der bequemste Ausweg war. Eine Freundin von ihm – meine Mutter konnte sie nicht ausstehen und nannte sie »die hohle Nuß« – war auch zu meiner Beschneidung gekommen. Dem Vernehmen nach hat meine Mutter gerufen: »Wenn die hohle Nuß kommt, findet die Beschneidung nicht statt.« Doch da saß die hohle Nuß schon lange in ihrer Bank.

Kurz darauf fiel mein Vater in Ohnmacht. Sie haben ihn mit süßem Rotwein wieder zu sich gebracht. Und meine Oma, die angesichts des Todes eine Vitalität entwickelte, die ihr heute so schnell keiner nachmacht, rief, sie sollten vorsichtig sein, weil mein Vater ein sehr empfindsamer Mensch sei. Als er wieder zu sich kam, versuchte er, so gut es ging, die hohle Nuß und meine Mutter voneinander entfernt zu halten. Meine Beschneidung war offenbar die erste in einer Kette kleinerer und größerer Katastrophen, obwohl...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2023
Übersetzer Rainer Kersten
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Bankrott • Frauen • Gefühl • Geld • Humor • Innenleben • Inspiration • Liebe • Muse • Phantomschmerz • Probleme • Roman • Schriftsteller • Schulden
ISBN-10 3-257-61429-2 / 3257614292
ISBN-13 978-3-257-61429-9 / 9783257614299
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