Amour fou (eBook)

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2023 | 1. Auflage
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60208-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Amour fou -  Arnon Grünberg
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Auf der Suche nach der Amour fou begegnet der junge Philosophiestudent Marek van der Jagt in seiner Heimatstadt Wien Andrea und Milena. Er hofft, dass die Touristinnen aus Luxemburg ihn in die Geheimnisse der Liebe einweihen. Mareks Bruder Pavel erlebt eine wunderbare Nacht, doch Marek selbst macht eine frustrierende Entdeckung.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.

Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, lebt und schreibt in New York. Neben allen großen niederländischen Literaturpreisen erhielt er 2002 den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten verfasst Arnon Grünberg einen täglichen Blog und ist in den Niederlanden bekannt für seine Kolumnen und Reportagen.

Ich bin früh kahl geworden. Daß es irgendwann dazu kommen könnte, war nicht ausgeschlossen, aber daß es so schnell gehen würde, war doch eine Überraschung.

Dies ist die Geschichte meiner Kahlheit, und ich habe nicht vor, nach diesem Buch auch nur ein einziges weiteres Wort zu Papier zu bringen.

Es gibt Schriftsteller, die nur eine einzige Geschichte in sich tragen; sie schreiben über den Krieg, eine fürchterliche Krankheit oder eine verschwundene Tochter, die nach vier Jahren in einem Brunnen entdeckt wird. Im Vergleich dazu nimmt sich die Geschichte meiner Kahlheit eher bescheiden aus. Doch auch kleine Geschichten können bedeutsam sein.

 

Mama war eine kühle Frau von Welt, die armen Leuten viel Gutes tat, jedoch niemals ohne ihren Koffer mit Diamanten verreisen konnte.

Sie starb genau drei Wochen nach meinem achtzehnten Geburtstag.

Kaum ein Jahr danach war mein Papa wieder verheiratet; seine neue Frau hieß Eleonore.

Papa war nicht so von Welt. Er aß wie ein Schwein, auch bei offiziellen Anlässen, was Mama ihm nie verzeihen konnte. Vielleicht verdächtigte sie ihn heimlich, daß er sie vor allem wegen des guten Rufs ihrer Familie geheiratet hatte und auch ein wenig wegen ihres Geldes. Papa hat jahrelang geschuftet, um diesen Verdacht zu zerstreuen, doch Mama sagte: »Wenn ich deinen Vater sehe, rieche ich die Armut.«

Eleonore hatte schon zwei Männer verloren, den ersten bei einem Autounfall, den zweiten durch Krebs. Nach dem Tod ihres zweiten Mannes war sie vom Schmerz so überwältigt, daß sie beschloß, viel Geld zu machen. Das tat sie auch. Und darüber, wie sie das viele Geld gemacht hatte, schrieb sie ein Buch mit dem Titel: Wie alte Frauen reich werden können.

Es wurde ein sagenhafter Erfolg. Nicht nur in Deutschland, der Schweiz und in Österreich, auch in vielen anderen Ländern.

Mindestens dreimal im Monat sagte sie: »Es gibt schon wieder eine neue Auflage, was für ein Erfolg, Marek, was für ein wahnsinniger Erfolg!« Damit rief sie mir meine eigenen, gescheiterten Schreibambitionen in Erinnerung.

Papas Freunde sahen in Eleonores Reichtum den Beweis, daß er nur reiche Frauen lieben konnte, doch in Wahrheit hatte er sich selbst schon ein ordentliches Vermögen zusammenverdient, als er sie kennenlernte.

An dem Tag, als er zum zweiten Mal heiratete, tanzte er mit Eleonore Walzer und flüsterte mir ins Ohr: »Die besten Ehen sind Vernunftehen, Marek. Leidenschaft ist was für hysterische Frauen.«

Mama hatte nicht nur viel für arme Leute und hilfsbedürftige Künstler getan, sie hatte auch ihre leidenschaftlichen Anwandlungen. Zahllose arme Künstler waren ihre Liebhaber gewesen, auch wenn ich hier unterstreichen möchte, daß zwischen der Liebe meiner Mutter und der Armut der Künstler keinerlei Zusammenhang bestand. »Je ärmer, desto lieber« war jedenfalls nicht ihr Grundsatz. Gewisse Liebhaber waren so eifersüchtig, daß sich Mama am Ende eine elegante Damenpistole kaufte und eines Abends bei uns zu Hause den Kronleuchter in Stücke schoß.

Einmal, als Papa und Eleonore mich an einem Sonntag nachmittag nach Eisenstadt mitgenommen hatten, weil sie dort so ein nettes kleines Restaurant kannten und außerdem meinten, daß ich als Jüngster am meisten unter Mamas Tod zu leiden hatte, fragte ich: »Eleonore, müßtest du nicht eigentlich auch das Gegenstück zu deinem Buch schreiben: Wie junge Frauen reich werden können?« Doch sie tat, als würde sie mich nicht hören, und sagte: »Ist dieses Restaurant nicht romantisch, Fer?«

Sie war ganz anders als Mama, sie haßte Hilfsbedürftige wie die Pest, und mit Waffen durfte man ihr schon gar nicht kommen.

 

Bis ein unglücklicher Sturz Mama von diesem Leben erlöste, schrieb ich Gedichte in der Tradition Paul Celans. Daß ich mit dem Dichten aufgehört habe, hat mit dem Sturz nichts zu tun, ich schrieb sowieso kaum noch, der Sturz war gewissermaßen nur der Gnadenstoß.

Mit vierzehn jedoch hielt ich mich für einen Künstler. Ich veranstaltete literarische Salons in unserem Wohnzimmer, und wenn Mama guter Laune war, gesellte sie sich zu uns und sang. Mama war in jungen Jahren Opernsängerin gewesen, eine recht vielversprechende sogar, doch dann bekam sie ihr erstes Kind.

Zu meinen literarischen Salons lud ich vor allem Klassenkameraden und Nachbarskinder ein. Mama hatte eine riesige Hütesammlung. Wir durften uns alle einen Hut aussuchen und ihn uns aufsetzen. Die Mädchen kramten in Mamas Kosmetikfächern und schminkten sich vor dem großen Toilettenspiegel. Die Jungen rauchten Zigarren, denn Mama hatte nichts gegen Tabak, selbst rauchte sie lange, dünne Zigaretten, und ab und zu forderte sie ein Kind auf, etwas von seinem Vater zu erzählen.

So thronte ich in meinem Salon, in meiner Samtrobe mit meinen alkoholfreien Cocktails, meinen Pistazien und meinem Lachstoast – neben meiner Mama in ihrem Abendkleid, die für uns etwas aus dem heiteren Repertoire vortrug und, wenn wir ein wenig bettelten, auch ein Gedicht von Rilke. Mit »wir« meine ich ehrlichkeitshalber nur mich, die anderen interessierten sich vor allem für die Hüte und die Zigarren, auch wenn natürlich immer ein paar dabei waren, die sich auf den Lachs stürzten, als hätten sie schon seit drei Wochen nichts mehr gegessen.

Manche Eltern beschwerten sich bei meiner Mutter: »Finden Sie nicht, daß Kinder in diesem Alter keine Zigarren rauchen sollten?« Doch dann sagte sie: »Sie haben Ihre Meinung, ich habe meine. Ich habe nichts gegen Tabak.« So war Mama.

Helmuth, ein leicht autistischer und zurückgebliebener Junge, mit dem sonst niemand etwas zu tun haben wollte, wurde auch immer eingeladen.

Mama hatte einen Narren an ihm gefressen. In unbeobachteten Momenten kaufte sie Kleidung für ihn, die er jedoch nie trug, weil ihr Geschmack und der seiner Eltern nicht übereinstimmten.

Papas Kollegen fanden Mama ein wenig exzentrisch, doch wenn man so viel Geld hatte wie sie, war das eine fast unvermeidliche Begleiterscheinung. Niemand hat je gesagt: »Geht denn das?« oder »Ist das nicht etwas übertrieben?« Im Grunde hat ihr nie jemand widersprochen, denn Widerspruch vertrug sie nicht.

Mama hatte nicht viel von der Welt erobert, es war bei einem kleinen Stück Boden geblieben. Doch über dieses Stück regierte sie wie eine Fürstin. Sie hieß Constanza, doch sie konnte ihren Namen nicht ausstehen.

Mit Mamas Hüten auf dem Kopf sprangen wir durch den Garten. Mama hatte den Bedienten aufgetragen, reichlich Sorbeteis zu machen, und wenn wir das Eis vertilgt hatten, die Lieder gesungen und die Zigaretten aufgeraucht waren, sammelte sie die Hüte wieder ein und sagte: »Jetzt müßt ihr mich allein lassen.«

Mama konnte stundenlang auf ihre Hutsammlung starren. Manchmal stellte ich mich neben sie, dann legte sie ihren Arm um mich und sagte: »Wenn diese Hüte sprechen könnten.«

 

Ich habe zwei Brüder. Daniel, der älteste, fiel mindestens zwanzigmal im Jahr in Ohnmacht. Angeblich litt er an Blutarmut. Mittlerweile ist er ein ziemlich berühmter Dirigent.

Pavel, der mittlere, ist heute ein genialer Wirtschaftswissenschaftler. Er ruft mich oft an und sagt, daß ich lernen müsse, praktischer zu werden und zu denken. Er arbeitet für die Weltbank, in manchen Flugzeugen hat er ein eigenes Schlafzimmer.

Sechs Jahre nach meiner Geburt erwartete meine Mama noch ein viertes Kind. Es sollte ein Mädchen werden, doch es wurde kein Mädchen, es wurde eine Fehlgeburt.

Es fiel in die Toilette.

»Es ist mir entglitten«, sagte sie.

Beim Abendessen sagte Papa zu ihr: »Du kannst aber auch gar nichts.«

Dann wendete er sich an uns und sagte: »Eure Mutter kann überhaupt nichts mehr. Nicht mal ein Kind kriegen.«

Dennoch hörte ich ihn an jenem Abend weinen, im Badezimmer, und ich bin mir ganz sicher, daß er nicht heulte, weil Mama nichts konnte, sondern weil seine Tochter leblos in die Kloschüssel gefallen war.

»Es war noch kein Mensch, es war ein Haufen Blut«, sagte Mama, die alles immer gern plastisch beschrieb und selbst von einer Fehlgeburt erzählte, als handle es sich um einen Tierfilm. »Und ich hatte Magenschmerzen, als hätte ich eine verdorbene Muschel gegessen.«

»Jetzt reicht’s«, brüllte Papa.

Ich selbst habe, wie gesagt, schon mit vierzehn angefangen, hermetische Gedichte zu schreiben, zur großen Enttäuschung meiner Mama, die es gerne gesehen hätte, wenn ich Ballettänzer geworden wäre, und zum ebenso großen Ärger meines Vaters, weil Gedichte nichts mit Erfolg zu tun hatten.

Mein zweiter Gedichtband, den ich – genau wie den ersten – eigenhändig zusammengeheftet hatte, hieß Tote Sprachen.

Ich schickte ihn an alle Verlage, auch an vierundzwanzig obskure. Niemand wollte den Band herausgeben. Einer hat sogar unter einem der Standardablehnungsbriefe hinzugefügt: »Ihre Sprache ist in der Tat tot.«

Als ich den fünfzehnten Ablehnungsbrief bekommen hatte, kaufte ich der Ordnung halber einen Fotoapparat. Fotografieren war zwar nicht dichten, aber viele hielten es doch für einen kreativen Beruf.

Von da an versteckte ich mich in Parks hinter den Büschen und fotografierte die Spezies Mensch.

Ich tat alles der guten Ordnung halber: Ich lebte ein geordnetes Leben. Bis mir die Haare ausgingen.

 

Die Geschichte meiner Kahlheit beginnt mit Blondie – der Sängerin, und um ganz genau zu sein: mit ihrem Lied Call me.

Ich saß in einem der vielen Wiener Kaffeehäuser. Vor mir auf dem Tisch lag ein Schnellhefter, ein Seminarreader mit...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2023
Übersetzer Rainer Kersten
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aphorismen • ein moderner Candide • Erste Liebe • Komik • Mutter-Sohn-Geschichte • Wien
ISBN-10 3-257-60208-1 / 3257602081
ISBN-13 978-3-257-60208-1 / 9783257602081
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