Der Baum auf dem Dach (eBook)

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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61375-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Baum auf dem Dach -  Viktorija Tokarjewa
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Es gibt Dinge, die man nicht gerne teilt. Den eigenen Mann zum Beispiel. So sanft Vera auch ist, sie sieht nicht tatenlos zu. Doch in diesem Spiel sind sich Siege und Niederlagen oft zum Verwechseln ähnlich.

Viktorija Tokarjewa, 1937 in St. Petersburg (Leningrad) geboren, studierte nach kurzer Zeit als Musikpädagogin an der Moskauer Filmhochschule das Drehbuchfach. 15 Filme sind nach ihren Drehbüchern entstanden. 1964 veröffentlichte sie ihre erste Erzählung und widmete sich von da an ganz der Literatur. Sie ist heute eine der bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen Russlands und lebt heute in der Nähe von Moskau.

Sie hieß Matrjona, aber wie sollte man mit so einem Namen leben? Um sie herum gab es jede Menge Iskras, Klaras, Wilenas und Stalinas … Im Pass ließ man es stehen, wie es war – Matrjona, aber in ihrer Familie und im Bekanntenkreis nannte man sie nur Vera. Das klang kurz und klar. Und ganz und gar revolutionär.

Vera war im Bezirk Kaluga geboren, drei Jahre nach der Oktoberrevolution. Was direkt nach dem Umsturz alles los war, daran erinnerte sie sich nicht mehr. Diese Zeit der Finsternis lastete auf den Schultern ihrer Eltern.

Als Vera herangewachsen war, stellte sich heraus, dass das Mädchen eine Schönheit war und ihr Weg Richtung Schauspielkunst führte. Alle hübschen Mädchen wollten damals Schauspielerin werden, wollten ihre Schönheit zeigen, wollten alle beeindrucken, und einen Einzigen ganz besonders. Ihn wollten sie heiraten, Kinder bekommen und in Liebe und nationalem Ruhm leben. Na, wer will das nicht …

Vera packte ihr Bündel – einen Koffer hatte sie nicht – und machte sich auf nach Leningrad. Die aus ihrem Dorf wegzogen, gingen alle nach Leningrad – zum Geldverdienen, zum Studium und sogar zum Stehlen. Als wenn es außer Leningrad keine anderen Orte auf der Welt gegeben hätte.

Vor der Abreise sagte die Mutter zu Vera: »Merk dir das: Du bist interessant, zu dir werden viele verheiratete Männer kommen. Wenn du erfährst, dass einer verheiratet ist – dann lass dich nicht mit ihm ein. Sag ihm: ›Nichts da … Geh heim zu deiner Frau …‹«

Welch naiver Wunsch. Denn natürlich waren all ihre späteren Verehrer verheiratet. Außerdem fragt die Liebe nicht, ob einer verheiratet oder ledig ist … Aber Vera, so seltsam das auch war, hielt sich an die Anweisung ihrer Mutter. Und sie befolgte sie ihr ganzes Leben lang.

Vera schaffte es, ins Leningrader Theaterstudio aufgenommen zu werden. Man nahm sie nicht wegen ihres Talents, sondern wegen ihres Typs. Sie war eine Russin, mit rotblonden Haaren, blauäugig, und schlank wie eine junge Birke. Sie war die Verkörperung Russlands.

Die neu Aufgenommenen waren mehrheitlich dunkelhaarig, mit feurigen Augen, eher südländische Typen. Die Revolution hatte die Sesshaftigkeit aufgehoben, und aus allen kleinen Orten kam die talentierte jüdische Jugend herbei. Das erwies sich für die Kultur als äußerst nützlich. Oder wie man in China sagt: »Lasst tausend Blumen blühen«, die südlichen genauso wie die nördlichen.

 

Vera bekam einen Platz in einem Wohnheim.

Sie hungerte sich durch. Aber damals lebten alle so. Solange man Kartoffeln hatte, Mehl und Wasser, brauchte man sich keine Sorgen zu machen.

Zum Tanzen ging sie in das Wohnheim des Polytechnischen Instituts.

Ein großer Kerl mit dicker Brille forderte sie auf. Die Augengläser waren rund wie bei einem Binokel.

Der Bursche – er hieß Alexander – war gebürtiger Leningrader und wohnte im Haus der Spezialisten, so hieß ein Haus, das für die rote Professorenschaft gebaut worden war. Er kam nur zum Tanzen ins Wohnheim, genauer gesagt, er kam nur wegen Vera. Er presste sie an sich, und Vera spürte, wie laut sein Herz schlug. Und nicht nur sein Herz. Das Ende seines Unterleibs wurde hart und schwer, wie eine Lokomotive. Alexander rammte die Lokomotive in ihren Bauch. Er überfuhr sie regelrecht.

Vera sah den jungen Mann vorwurfsvoll an. Aber was konnte er schon tun? Sein Körper gehorchte ihm nicht. Der Körper hat seine eigenen Gesetze.

Nach dem Tanzen begleitete Alexander Vera zu ihrem Wohnheim. Er musste die angesammelte Leidenschaft irgendwie loswerden, und so trug er Vera die Treppe hoch. Er hob sie mit einer Hand unter den Kniekehlen an, mit der anderen stützte er ihren Rücken, und so trug er sie bis in den vierten Stock. Vera kicherte und wurde noch schwerer.

All das ging über Alexanders Kräfte. Und so heiratete er sie.

Vera zog zu ihm ins Haus der Spezialisten, in die Professorenfamilie ihres Mannes.

Seine Eltern waren angenehme Leute, wenn auch für das Alltagsleben völlig untauglich. Sie konnten nur Bücher lesen. Wie alt gewordene Einserschüler.

Vera legte Kohl ein, buk Kartoffelkuchen und briet Heringe.

Die Katzen setzten sich unters Fenster und schauten nach oben. Der gebratene Hering roch gut. Der Geruch zog alle an. Die Katzen wurden ganz nervös.

Vera schaffte alles. Um sie herum waren alle glücklich, jeder auf seine Art. Der Professoren-Papa hatte noch nie im Leben so gut gegessen. Alexander musste seine Lokomotive nicht mehr auf dem Abstellgleis lassen, und sie fuhr auf geraden Schienen rund um den Erdball, wobei sie triumphierendes Getute von sich gab. Die Professoren-Mama litt ein bisschen darunter, dass ihr Sohn eine vom Dorf, eine einfache Frau, geheiratet hatte. Aber was konnte man da machen … Die Revolution vermischte eben alle Schichten und Abstammungen.

Außerdem war Vera zwar ein einfaches Mädchen, aber so einfach nun auch wieder nicht. Sie war schließlich Schauspielerin, spielte Čechov und Gorki …

 

Vera wurde einundzwanzig.

Ihren Geburtstag feierten sie fröhlich und laut, sie saßen bis drei Uhr nachts beieinander. Und um vier Uhr begann der Krieg mit Deutschland.

Niemand stellte sich das Ausmaß und die Schwere dieses Krieges vor. Man dachte: Na ja, das geht jetzt einen Monat, oder zwei … Genau so lange, wie man brauchen würde, um den Feind auf dem eigenen Territorium zu schlagen. Die Panzerabwehr war solide, die Panzer selbst waren schnell …

Niemand kannte so etwas – oder hätte es sich überhaupt nur vorstellen können – wie das, was später als die Blockade von Leningrad bezeichnet wurde.

Leningrad wurde später zur Heldenstadt ernannt. Doch in Wirklichkeit war es eine Märtyrerstadt gewesen.

Die Menschen kamen vor Hunger schier um den Verstand.

Alexanders Eltern gingen nicht mehr auf die Straße vor Schwäche. Sie hatten Angst, umzufallen und nicht mehr aufstehen zu können. In der Stadt blühte der Kannibalismus. Es wurde Menschenfleisch gegessen. Man sagte, das Fleisch schmecke gut, ähnlich wie Schweinefleisch.

Alexander war wegen seiner Kurzsichtigkeit vom Militärdienst befreit. Aber es wäre besser gewesen, man hätte ihn an die Front geschickt. Dort wäre er wenigstens ausreichend ernährt worden.

Alexander war jung und groß. Sein Organismus verkraftete den Hunger nicht. Er fing an, Vera ihre 125-Gramm-Brotration zu klauen. Aber auch dieses Stückchen Brot rettete ihn nicht. Es schien, ganz im Gegenteil, als ob das den leidenschaftlichen Wunsch zu essen nur noch mehr anfachen würde.

Eines Morgens sah Vera, dass die Schwiegereltern tot waren. Sie waren in der Nacht gestorben, beide zusammen, oder einer nach dem anderen, das wusste man nicht. Aber das machte auch keinen Unterschied mehr. Die Blockade von Leningrad machte den Tod zu einer gewohnten, ja fast alltäglichen Erscheinung. Es war, als ob sich alle in eine Schlange gestellt hätten, um in die andere Welt zu gelangen, und als warteten sie gehorsam auf ihre Stunde. Ganz ohne Angst. Das Leben hatte sich in ein ununterbrochenes Leiden an Hunger und Kälte verwandelt. Und der Tod war das Ende dieses Leidens.

Alexander sah mit Entsetzen auf die toten Eltern, auf ihre Nasen, die spitz und gelb geworden waren.

Er wusste, wo Vera ihre Lebensmittelkarten aufbewahrte: in einem Kästchen in der Kommode unter der Wäsche.

Er zog das Kästchen hervor, nahm den Streifen Lebensmittelkarten heraus und versteckte die Hand hinter dem Rücken. Wie ein Kind.

Vera versuchte die Hand zu erwischen, um ihm die Karten wegzunehmen. Dieser Streifen mit den Karten bedeutete Leben. Er war das ganze Leben eines einzelnen Menschen.

Aber Alexander war stärker als sie. Er packte Vera mit einem Arm unter den Knien, den anderen schob er unter ihren Rücken und trug sie zum Fenster, um sie aus dem fünften Stock hinabzuwerfen.

Aber auf halbem Weg überlegte er es sich und ging Richtung Eingang. Er hatte beschlossen, sie vor die Tür zu setzen. Auf dem Treppenvorplatz ließ er Vera einfach fallen, ging zurück in die Wohnung und verschloss die Tür von innen.

Vera hatte sich nicht einmal wehren können. Sie hatte einfach keine Kraft mehr gehabt.

Zurück in die Wohnung konnte sie nicht. Alexander hätte sie umgebracht. Vera war nicht einmal böse auf Alexander. Sie verstand ihn. Der Hunger war stärker als der Mensch.

Vera hatte eine Fähigkeit: Sie konnte in die Haut eines anderen Menschen hineinkriechen, ihn verstehen. Und verstehen heißt verzeihen.

Vera ging die Treppe hinunter. Sie trat in den Hof, setzte sich auf eine Bank.

Es war ein wunderschöner, frostiger Morgen.

Vera wandte das Gesicht der Sonne zu und blinzelte. Vor ihren geschlossenen Augen tanzten bunte Kreise. Und plötzlich tauchte ein Gesicht auf, braungebrannt, mit ausgeprägten Wangenknochen, die Haut spannte über dem Jochbein.

Es war ein älterer Soldat in einer Wattejacke und mit einer Mütze mit Ohrenklappen. Er schaute Vera schweigend an, dann sagte er: »Du wirst wenig zu essen haben, aber du wirst nicht sterben. Und eines Tages wirst du alles haben. Du musst jetzt nur aushalten.«

Er wandte sich um und ging davon. Auf seinem Rücken war ein Rucksack zu erkennen, der einem Hund ähnelte. Vera sah ihm nach. Woher war er gekommen? Wo ging er hin?

Vera saß auf der Bank und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte, wohin sich wenden?

Sie erhob sich und ging zu einer Kirche. Die Kirche war offen. Die Gesichter der Heiligen...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2023
Übersetzer Angelika Schneider
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Armut • Beziehung • Eifersucht • Emotionen • Entwicklungsroman • Familie • Frau • Gefühle • Hunger • Kämpferin • Krieg • Leningrad • Liebe • Paar • Partnerschaft • Roman
ISBN-10 3-257-61375-X / 325761375X
ISBN-13 978-3-257-61375-9 / 9783257613759
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