Portugals strahlende Größe (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
448 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-30266-5 (ISBN)

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Portugals strahlende Größe -  António Lobo Antunes
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Es ist Weihnachten, und Carlos hat seine Geschwister und seine Mutter in die winzige Wohnung in einem armen Vorortviertel Lissabons eingeladen, sie haben sich fünfzehn Jahre nicht gesehen. Doch der Sekt wird warm, keiner kommt, sie waren nie eine glückliche Familie. Als Kolonialisten lebten sie schon in Angola mehr schlecht als recht; der Vater Amadeu war ein Säufer, die Mutter Isilda eine Mätresse. Und die Kinder? Carlos ist Mischling, Resultat einer Affäre des Vaters, Rui ist geistig behindert, Clarisse verkauft ihren Körper. Der Bürgerkrieg hat sie aus Afrika verscheucht, aber Schuld, Gewalt und Hass tränken ihre Erinnerungen und treiben sie in den Untergang - auch wenn ihre Nationalhymne stets 'Portugals strahlende Größe' beschwört ...

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

24. DEZEMBER 1995


Als ich sagte, ich hätte meine Geschwister eingeladen, den Weihnachtsabend mit uns zu verbringen

(wir aßen gerade in der Küche, und man konnte hinter den letzten Dächern von Ajuda die Kräne und die Schiffe sehen)

füllte mir Lena den Teller mit Dampf, verschwand im Dampf, und während sie unsichtbar wurde, beschlug ihre Stimme die Fensterscheiben, bevor auch sie verschwand

– Du hast deine Geschwister seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen

(die Stimme trug, als sie die Scheiben mit Dampf bedeckte, die Hügel von Almada mit sich fort, die Brücke, die Christusstatue, die einsam über dem Nebel verlassen mit den Flügeln flatterte)

bis der Dampf sich auflöste, Lena ganz allmählich wieder mit zum Brotkorb ausgestreckten Fingern zurückkehrte

– Du hast deine Geschwister seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen

und da wurde mir plötzlich bewußt, wieviel Zeit seit unserer Ankunft aus Afrika vergangen war, seit den ersten Briefen meiner Mutter anfangs von der Fazenda und dann aus Marimba, vier Hütten auf einem Hügel mit Mangobäumen

(ich erinnere mich an das Haus des Ortsvorstehers, den Laden, an Kasernentrümmer, die im hohen Gras zu Bruch gingen)

die Briefumschläge, die ich in einer Schublade verwahrte, niemandem zeigte, nicht öffnete, nicht las, Dutzende und Aberdutzende dreckiger, von Stempeln und Briefmarken bedeckter Umschläge erzählten mir, was ich nicht hören wollte, die Fazenda, Angola, ihr Leben, der Briefträger gab sie mir auf dem Treppenabsatz, und raunend erstreckten sich Sonnenblumen weit über die Felder, Sonnenblumen, Baumwolle, Reis, Tabak, mich interessiert dies Angola voller Neger im Fort, im Gouverneurspalast und vor den Hütten auf der Insel nicht, wo sie sich in der Sonne aalen und sich für uns halten, ich schloß die Tür, den Brief zwischen zwei Fingern wie jemand, der ein Tier am Schwanz trägt

Briefe wie stinkende, tote Tiere

die Bucht von Luanda war, ihre Kokospalmen vergessend, wieder zu einer winzigen Diele geworden, die einen neuen Anstrich brauchte und mit einem Garderobenständer und einer Kommode dekoriert war, Lena füllte mir den Teller mit Dampf und löschte die Welt aus

– Du hast sie auf die Straße gesetzt und jetzt nach fünfzehn Jahren willst du deine Geschwister wieder zurückhaben

saß vor mir und benutzte ihre Hand als Fächer, um den Dampf zu vertreiben

– An deiner Stelle würde ich heute nacht keinen Besuch erwarten Carlos

sie ist dicker geworden, färbt sich das Haar, klagt über weiß ich was am Herz, läßt sich vom Arzt untersuchen und nimmt Medikamente, Lena, die sich zwischen mich und meine Familie stellt, die Tochter eines Angestellten der Cuca*, die mit einer Traube von Vettern und Cousinen hundert Meter vom Marçal-Viertel entfernt lebt, aus Scham habe ich niemals irgendeinem meiner Schulkameraden gesagt, daß ich mit ihr ging, wenn sie sich mir, ganz Gekicher, bei Schulschluß zufällig näherte

(dünn, mit Zöpfen, sie ging nicht zum Arzt und nahm auch keine Herzmedikamente)

flüsterte ich ihr wütend zu

– Hau ab

und wenn ich dann im Bus war, machte ich ihr, nachdem ich mich versichert hatte, daß selbst die Neger uns nicht beobachteten, ein Zeichen mit dem Zeigefinger, ein zusammengeschustertes Haus mit einer von Mücken fleckigen Laterne unter dem Vordach, moosigen Kletterpflanzen, der Vater, der in Unterhosen Zeitung las, Mulattennachbarn in Bretterwürfeln mit Toiletten unter freiem Himmel an einer Mauerecke, Lena, die mich mit offenem Haar im Café am Jackenaufschlag zog, die Stadt stand still, meine Kameraden höchst verwundert, das Bierglas in der Schwebe, und ich in der Hoffnung, daß sie mich nicht hörten

– Hau ab

tat so, als hätte ich ebensowenig Ahnung wie sie, als wäre ich genauso entgeistert wie sie, die über das Haus und die Nachbarn herzogen, deine Hefte auf den Boden warfen, lachend deinen Rock hochhoben, dir von fern zuschrien

– Musseque-Schlampe

du hobst weinend die Hefte auf, und dein Vater, der nicht ein Auto fuhr wie wir, kam auf einem alten Moped vorbei, bedrohte uns mit der Zeitung, harmlos, unsicher auf seinen knotigen Beinchen

– Meine Tochter ist mehr wert als ihr unverschämten Kerle

Lena, die mich im Café am Rockaufschlag zog

– Ich muß mit dir reden tut mir leid

morgen werden alle Leute in Luanda von uns beiden wissen, der Geschäftsführer mich mit einer ärgerlichen Geste hinauswerfen

– Mach daß du wegkommst

meine Kameraden werden sich die Nase zuhalten und das Gesicht abwenden

– Du riechst nach Sambizanga daß es nur so zum Himmel stinkt Carlos

Lena, die Egoistin, scherte sich nicht darum, daß sie ihr Gesicht abwenden könnten, schleppte mich an die Uferstraße zu den Arkaden, die Vögel schmückten und darauf warten, daß es dämmerte und die Fischkutter ausliefen, damit sie kreischend losfliegen und Dieselöl nippen konnten

– Du rufst mich nicht an du schenkst mir keine Beachtung

Lichter, die sich zwischen den Hütten und den Palmen der Insel bewegten, brennende Straßenlaternen, das Hotelschild, dem orangeund blaue Lettern fehlten, Leute und Autos, die wegen der Dunkelheit nicht auf mich achteten, meine Kameraden riefen ihre Freunde an Hör mal, die ganz große Neuigkeit, weißt du schon, halt dich gut fest, fall nicht in Ohnmacht, rat mal, mit wem Carlos geht, nein nicht der, der andere, der Schwachkopf aus Malanje, ich haßte Lena, die mir nicht einmal einen Sohn schenkt, in Ajuda den Tisch abdeckt, das Wachstuch mit einem Schwamm abwischt, die Gummihandschuhe zum Abwaschen anzieht

– Du hast sie auf die Straße gesetzt und jetzt willst du deine Geschwister wieder zurückhaben an deiner Stelle würde ich heute nacht keinen Besuch erwarten

sie hat keine Ruhe gegeben, bis ich sie geheiratet, aus dem Marçal-Viertel befreit habe, von den Verwandten, die im Ruß des Zimmers vor Malaria zitterten, schwarz gekleidet, als wären sie noch immer im Minho, man stolperte über Tonschüsseln und kleine Heiligenstatuen mit Öldochten zu ihren Füßen, sonntags jäteten die Onkel in ihren Mänteln schwitzend fünf Handbreit Garten in der Hoffnung auf Kohlköpfe

du gehst mit der Musseque-Schlampe Carlos gib es zu daß du mit der Musseque-Schlampe gehst sie ist überhaupt keine Musseque-Schlampe was hast du bloß immer ihre Wohnung ist noch im Bau

die dicke Lena mit dem gefärbten Haar hatte das Geschirr abgewaschen, es im Schrank gestapelt, die Handschuhe ausgezogen und ging nun ins Wohnzimmer, wo der Weihnachtsbaum noch ohne Topf und ohne den Stern aus Silberpapier und ohne Kugeln und Schneeflocken lag

– Du hast deine Geschwister seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen

ich blieb allein in der Küche sitzen, hörte dem Summen des Kühlschranks zu und schaute auf die Hügel von Almada, schaute aus dem Rückfenster des Jeeps auf die Fazenda, während wir uns durch die Schlaglöcher in der Schotterpiste entfernten, die die welk bis auf den Teerbelag herunterhängenden Sonnenblumen teilte, die Ladenkneipe, in der die Bailundo-Tagelöhner sonntags Zigaretten, Trockenfisch und lauwarmes Bier kauften, tauchte in einer Kurve auf und versteckte sich zusammen mit den verkohlten Hütten hinter den Bäumen auf dem Platz, auf dem ein Setter bellte, welke Sonnenblumen, welker Reis, welke Baumwolle, der Traktor ohne Räder im Straßengraben, dort wo die Schotterpiste auf den Teerbelag stieß, hüpfte eine Patrouille der Unita vor uns und befahl uns, mit Gewehren fuchtelnd, den Jeep anzuhalten, barfüßige Soldaten in zerfetzten Uniformen, die auf der Suche nach Geld und Eßbarem, nach irgend etwas, was sie stehlen konnten, im Gepäck herumwühlten, ein unerträglicher Gestank nach Maniok, dreckstarrende Fingernägel, die zwischen den Sitzen stocherten, zahnlose Münder

– Raus raus

meine Schwester, die ihnen, sich vor Angst windend, entschlüpfte, zu meiner Mutter

– Mutter

Du hast sie auf die Straße gesetzt und jetzt willst du deine Geschwister wieder zurückhaben an deiner Stelle würde ich heute nacht keinen Besuch erwarten

ein Feldwebel mit Strohhut, der sich nicht um die Soldaten kümmerte, brutzelte, ohne uns zu beachten, eine Schlange auf einem Kanonenwischer, ein Windwirbel tanzte mit den Blättern im Innenhof des Klosters mit seinen zerborstenen Säulen und den Salamandern und Geckos auf dem, was von den Bögen übriggeblieben war, wohin mein Vater, langsam an seinen Stöcken gehend, die Milane beobachten kam, mein Vater im Bett, um das Kopfteil war der Rosenkranz geschlungen, blickte uns erschrocken wie ein Blinder an

Gebt eurem Vater einen Kuß

riesige Nasenlöcher, der fleckige, wie saitenbespannte Hals beim mühevollen Versuch zu atmen

(man konnte die Angst der Rippen erkennen)

ich verhedderte mich in einem der Spazierstöcke, und der Spazierstock fiel mit dem größten Krach, den ich jemals gehört habe, zu Boden, mein Bruder, der wegen des Donners schrie und auf allen vieren unter die Möbel tauchte, klammerte sich, Kakaotropfen auf seinem Kittelchen, an den Stuhl

– Ich geb keinen Kuß

mein Vater mit einem Holzstaubkratzen im Hals, an jenem Tag aßen wir in der Anrichte und hörten dem Regen auf dem Dach zu, die Bediensteten machten belegte Brote, spießten Kroketten auf Zahnstocher, brachten Tabletts nach oben, im Garten Wagen von anderen Fazendas, meine Schwester zu meiner Mutter, während sie versuchte, den Soldaten mit den zerfetzten Uniformen zu entwischen

Raus raus

– Mutter

die unsere Koffer öffneten,...

Erscheint lt. Verlag 14.12.2022
Übersetzer Maralde Meyer-Minnemann
Sprache deutsch
Original-Titel O Esplendor de Portugal
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Afrika • Angola • eBooks • Ehe • einsame Weihnachten • Familie • Historische Romane • koloniales Erbe • Mischling • Neuerscheinung • Portugal • Preisgekrönter Autor • Roman • Romane • sprachlich virtuos • Untergang • Weltliteratur
ISBN-10 3-641-30266-8 / 3641302668
ISBN-13 978-3-641-30266-5 / 9783641302665
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