Kinder der Stadt (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31024-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kinder der Stadt -  Olga Bach
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Olga Bach erzählt mit leise durchtriebenem Humor und luzidem Blick von drei ungleichen Freund:innen, die durch das Theater zueinanderfinden, von einem scheinbar simplen Auftrag, der grandios zu scheitern droht, und von der emanzipatorischen Kraft der Kunst. Zur Eröffnung eines Museums sollen der Regisseur Orhan und die Dramatikerin Irina eine Performance entwickeln, in der sie sich mit den vielfältigen Identitäten der Berliner Nachwende-Generation auseinandersetzen. Schnell getan, gut bezahlt, denken sie sich. Da die Museumsleitung »Ost-Biografien« vertreten sehen will, bitten sie ihre Freundin Maria, mitzumachen. Als Jugendliche lernten sie sich am Theater kennen, durchstreiften die sich rasant wandelnde Stadt und realisierten erste gemeinsame Projekte - bis zu einer Auftragsarbeit vor sieben Jahren, die alles veränderte. Beim Schreiben der Texte versucht Irina nun zu verstehen, was damals geschehen ist, zu ordnen und zusammenzuhalten, was ihr in der Gegenwart zu entgleiten droht. Denn während die Eröffnung aufgrund der Pandemie immer wieder verschoben wird, die Museumsleitung mehr und mehr inhaltliche »Vorschläge« macht und ihr exzentrischer Vater das Gedächtnis verliert, bringt die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit lang unterdrückte Konflikte ans Licht.

Olga Bach wurde 1990 in Berlin geboren. Während des Jurastudiums schrieb sie ihr erstes Theaterstück »Die Vernichtung«, das für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und in der Inszenierung von Ersan Mondtag zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Magazin Theater Heute wählte sie zur »Nachwuchsautorin des Jahres 2017«. Ihre Stücke waren seitdem u.a. am Theater Basel, HAU Berlin und den Münchner Kammerspielen zu sehen. Derzeit ist sie Rechtsreferendarin am Kammergericht Berlin.

Olga Bach wurde 1990 in Berlin geboren. Während des Jurastudiums schrieb sie ihr erstes Theaterstück »Die Vernichtung«, das für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert und in der Inszenierung von Ersan Mondtag zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Magazin Theater Heute wählte sie zur »Nachwuchsautorin des Jahres 2017«. Ihre Stücke waren seitdem u.a. am Theater Basel, HAU Berlin und den Münchner Kammerspielen zu sehen. Derzeit ist sie Rechtsreferendarin am Kammergericht Berlin.

September 2006 


Irina hatte wie so oft verschlafen. Im Bett hatte sie mit der Versuchung gerungen zu schwänzen. Sie hatte sich dann aber doch aufgerafft, bis zur U7 geschleppt, war an dem Dönerladen vorbeigegangen, bei dem sie in der Pause oft ein Saucenbrot holte, und lief nun über den leeren Schulhof. Die erste Stunde war schon zur Hälfte vorüber. Durch die Fensterscheiben sah sie Gymnasiastinnen. Sie ging widerwillig auf den Flachbau zu, in dem ihr Klassenzimmer war.

Das neue Schuljahr hatte gerade angefangen. Die neunte Klasse. Die Wiederkehr des immer Gleichen, dachte Irina. Sie streckte schon die Hand nach der Eingangstür aus, als die sich von innen öffnete und ein Mädchen herausstürmte, an Irina vorbei, die sich verblüfft umdrehte.

Sie sah, wie es seinen Rucksack zu Boden schleuderte. Maria.

Bisher hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie seit einem Jahr in dieselbe Klasse gingen.

Maria war eine von den Unbeliebten. Ein Riesenmädchen, noch etwas größer als Irina, mit einer merkwürdig tiefen Stimme, viel zu wilden Haaren und Kleidung in matschigen Farben. Klassenbeste, Streberin. Die coolen Mädchen hingegen, das waren die mit den bauchfreien Tops, tief sitzenden Jeans, Glitzergürteln, bis über die Hüften gezogenen Tangas und hauchdünn gezupften Augenbrauen. Und vor allem: die mit den Markenklamotten.

Irina wandte sich wieder der Tür zu. Drehte sich dann aber doch wieder um. Maria stand immer noch da, mit dem Rücken zu ihr.

»Hey, alles okay?«, fragte sie.

Maria atmete tief durch, hob den Rucksack auf. »Ich brauch euch alle nicht. Ich mach mein eigenes Ding«, sagte sie und ging, ohne Irina anzusehen, zurück zur Eingangstür.

Irina folgte ihr. Diese Maria kann ja richtig wütend werden, dachte sie. Was meinte sie mit ihr eigenes Ding? Irina wurde nie wütend.

Zusammen betraten sie das Klassenzimmer.

»Oh, was für eine Ehre!«, sagte der schreckliche Mathelehrer vergnügt. »Die eine kommt zurück und die andere kommt überhaupt endlich.«

 

Einige Tage später stand Irina in der Raucherecke zwischen Maria und Mädchen aus höheren Jahrgängen. Sie staunte: Maria war zwar in der Klasse unbeliebt, hatte dafür aber ältere Freundinnen. Zerrissene Strumpfhosen, Miniröcke, die ganz knapp über den Po gingen, Nietengürtel, schwarz-weiß karierte Skaterschuhe, Aufnäher, wild hochgesteckte Haare, abgesplitterter Nagellack. Maria trug ein schwarzes T-Shirt. Eat the Rich, stand unter einem weißen Totenkopf, Gabel und Messer überkreuzten sich statt der üblichen zwei Knochen.

»Willst du auch eine, Irina?«

Gelassen drehte Maria eine Zigarette und reichte ihr das krummschiefe Ergebnis. Die wenigen rauchenden Lehrer gingen auf dem Weg, der zur Realschule führte, auf und ab.

Die Realschule: ein anderer Planet. Kein Kontakt. Obwohl sie direkt ans Gymnasium anschloss. Nur im Winter hatte einmal eine Schneeballschlacht stattgefunden. Die Realschülerinnen hatten die Schneebälle angeblich mit Steinen gefüllt.

Irina kannte Marias Freundinnen nicht. Nervös zog sie an der krummen Zigarette.

Sie inhalierte tief. Neben ihr stand eine Punkerin. Irina sah freche grüne Augen, eine Stupsnase und gepiercte Lippen, dann aber füllte sich das Bild mit gelben Flecken, die immer größer wurden. Ihre Arme und Beine kribbelten heiß.

»Ich … Ich muss mich …«, murmelte sie und ging zu Boden.

»Was macht sie da?«, hörte sie das Mädchen fragen.

Dann kamen Schreie aus der Ferne. Gleichzeitig Flüstern, ganz nah am Ohr. Fleisch stapelte sich auf einem Tisch. Grelle Strudel, Stimmen von überallher. Jemand erzählte eine Geschichte.

»Irina!«

Sie öffnete die Augen. Sah den Himmel und verschwommene Gesichter. Besorgte, auf sie gerichtete Blicke.

»Sie wacht auf!«

Irina ließ sich aufhelfen. Betastete den Stoff ihrer Hose zwischen den Beinen. Gott sei Dank, sie hatte sich nicht eingenässt.

Das Mädchen mit den grünen Augen lachte. »Maria, bringst du am Freitag deinen Witzbold mit in die Köpi?«

 

»Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Du hast gezuckt und so«, sagte Maria, als sie zu zweit zurück in Richtung Flachbau gingen.

»Tut mir leid. Mir passiert das manchmal.«

Sie wurden immer langsamer.

»Was ist die Köpi?« Irinas Neugierde hatte die Scham überwunden.

]»Ein besetztes Haus in Mitte.«

Besetztes Haus schien zu Marias natürlichem Vokabular zu gehören. Irina nickte schnell. »Und was ist da am Freitag?«

»Da spielt ’ne Hardcore Band. Aus Atlanta, glaub ich.«

»Krass. Und du gehst dahin?«

»Mal schauen … Ich muss vielleicht auf meinen Bruder aufpassen.«

»Ach so«, sagte Irina enttäuscht.

Sie waren stehen geblieben. Die letzten Schüler gingen in ihre Klassen.

Erdkunde auf Italienisch. Irina schlief regelmäßig ein. Am Ende der Stunde wurde sie von der Lehrerin freundlich geweckt und darauf hingewiesen, dass sie nun gehen könne. Irina war eine träge, aber gute Schülerin. Die meisten Lehrerinnen mochten sie. Die meisten Lehrerinnen mochten auch Maria, die Einserschülerin. Obwohl sie so aufbrausend sein konnte. »Ich hab heute irgendwie gar keine Lust auf Erdkunde.« Irina hatte nie Lust auf Erdkunde. »Wir könnten auch was … anderes machen.«

Und so schlichen sie sich vom Schulgelände, holten sich ein Saucenbrot für 50 Cent und trotteten zur U-Bahn. Kräuter, Knoblauch, Scharf.

»Wie alt ist dein Bruder eigentlich?«

»Drei.«

»Süß. Und wie heißt er?«

»Josef. Ja, ich weiß, haha.«

Irina lachte laut. »Deine Eltern sind ja witzig.«

»Wir haben nicht denselben Vater.«

»Ich hab auch Halbgeschwister. Tausende. Von meinem Vater. Mein kleiner Halbbruder ist jünger als sein Neffe oder so.«

Sie stiegen in die U7. Parchimer Allee, Blaschkoallee, Grenzallee, Neukölln.

»Hier wohn ich«, sagte Maria, blieb aber sitzen.

Sie fuhren immer weiter. Erfanden ein Spiel. Aus den Buchstaben eines Wortes, zum Beispiel Hämorrhoiden, das auf einem U-Bahn-Plakat stand, bastelten sie abwechselnd ein neues Wort.

»Mord.«

»Moor.«

»Dämon.«

»Hä.«

»Hä ist doch kein Wort«, protestierte Irina.

»Hä? Doch!«

Möckernbrücke.

»Magst du Filme?«, fragte Irina.

»Klar.«

»In dem McDonald’s am Ku’damm läuft im Obergeschoss immer ein Film. Kann man einfach umsonst sehen. Wollen wir da hin?«

»Ja!«

Sie sprangen aus der Bahn.

»Was ist eigentlich mit diesem Dönerladen hier an der Möckernbrücke falsch? Warum riecht der immer so?«, rätselte Irina, als sie die Treppe hinaufgingen.

»Unsere Bahn kommt!«, rief Maria.

Rolltreppen hinauf, hüpfende Rucksäcke.

Maria hielt Irina die schon rot tutende Waggontür der U1 auf.

Gleisdreieck. Sie schauten auf Brachflächen, Wildwuchs, Gleise, Schotter, die seltsame Metallrostrakete, Wassertank für die Dampfloks.

Dann raste die U-Bahn vor der Station Kurfürstenstraße in einen Altbau hinein. Ende der Hochbahn. Maria und Irina wandten sich von den dunklen Fenstern ab. Fuhren bis zum Wittenbergplatz.

»Hier wohn ich«, sagte Irina.

Sie schlenderten den Tauentzien hoch. Auf der rechten Seite, versteckt oben in der Mini City, das Broadway, das meist voller Schulklassen war. Noch weiter hoch, auf der linken Seite, das Marmorhaus. Der alte Filmpalast, handgemalte Plakate, roter Teppich, muschelförmige Decke, geraffter Vorhang.

McDonald’s. An den Kassen vorbei ins Obergeschoss, pastellfarbene Kindersitze in Elefantenform, Findet Nemo, vormittags um elf.

 

»Maria?«

»Ja?«

»Kennst du Les enfants terribles?«

»Ne. Warum?«

»Wollen wir was Sinnloses im KaDeWe klauen?«

Beide hatten den Kopf noch voller animierter Fische.

»Wie jetzt?«, fragte Maria.

»Hab ich mal mit meinem Bruder gespielt. Je größer und sinnloser, desto besser.«

Das KaDeWe. Gründerzeit, wie der Marmorpalast, wie das Haus Huth. Den weißen Schriftzug und den sich drehenden Mercedes-Stern vom Europacenter sah Irina von ihrer Wohnung aus.

Wenn sie mit Maya durch die Parfümabteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses ging, wurde ihre Mutter von etlichen Angestellten angesprochen. Auf Düfte aufmerksam gemacht, die sie nicht kaufte. Wenn Irina allein im KaDeWe war, wurde sie kritisch beäugt. Zu Recht. Sie hatte in fast allen Abteilungen schon etwas geklaut. Im dritten Stock liefen sie an den Tausend-Euro-Schuhen vorbei, bis sie vor einer unscheinbaren Tür standen, dahinter versteckt: die Mensa. Nur Mitarbeiter, nur schwarze und weiße Kleidung. Von ein paar Rentnern abgesehen, die wussten, dass man hier preiswert essen konnte, es fanden keine Ausweiskontrollen statt.

»Komm, Maria! Wir müssen nur ganz normal tun, so als wären wir ständig hier.«

Bald saßen sie vor einer Auswahl Obsttörtchen und Eclairs mit Pistazienglasur und Blattgoldstaub aus dem...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehungen • Debüt • Debütromane 2023 • Die Vernichtung • Dreiecksbeziehung • Ersan Mondtag • Freundschaft • junge Autorin • Juristin • Ménage-à-trois • Nachwende-Generation • Nachwende-Roman • Theater-Arbeit • Theaterstück
ISBN-10 3-462-31024-0 / 3462310240
ISBN-13 978-3-462-31024-5 / 9783462310245
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99