Dämmerung (eBook)

Roman. 'Michael Kleeberg ist es gelungen, aus dem Leben einer Figur das Abbild einer Epoche zu erschaffen'. (Der Spiegel, Tobias Rapp)
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2023 | 1. Auflage
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-15986-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dämmerung -  Michael Kleeberg
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Die Bilanz eines unverwechselbaren und doch eine ganze Epoche repräsentierenden Lebens
Nach »Karlmann« und »Vaterjahre« - der Höhepunkt von Michael Kleebergs Romankunst

Karlmann will's noch mal wissen. Obwohl in die Jahre gekommen, zählt er sich) keineswegs zum alten Eisen. Jetzt, zu seinem 60sten, lädt er zur großen Sause. Und er zieht Zwischenbilanz, wie eh und je mit süffisantem Eigensinn, frei von Sentimentalität und nach wie vor nicht willens, klein beizugeben.

Das, was sich für ihn wie eine zweite Jugend anfühlt, ist vom Gedanken an Unwiederbringliches überschattet. Doch gegen die Übermacht der Gefühle hat Charly Renn sich schon immer zu wappnen gewusst. Das ist auch bitter nötig. Denn sein Selbstbild wird nicht nur in der Corona-Zeit auf eine harte Probe gestellt, sondern auch in der des Abschiednehmens vom sterbenden Vater und in der Konfrontation mit den eigenen Kindern, die längst ihre eigenen Wege gehen. So nimmt er ein letztes Projekt in Angriff, eins, das ihm noch einmal all seine Steherqualitäten abverlangt. In einer Hamburger Kultureinrichtung wird er zum Aktivisten wider Willen, nur um am Ende festzustellen, dass eine neue, eine völlig andere Zeit angebrochen ist, die nicht mehr viel mit ihm zu tun hat.

Im dritten und letzten Teil der »Karlmann«-Trilogie, die viele Jahrzehnte bundesrepublikanischer Gesellschaft erzählt, zeigt Michael Kleeberg seinen Protagonisten nun im reizvollen Licht der Dämmerung.

Michael Kleeberg, 1959 in Stuttgart geboren, studierte Politische Wissenschaften und Geschichte. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 als Mainzer Stadtschreiber. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: 'Ein Garten im Norden' (1998), 'Der König von Korsika' (2001) und 'Karlmann' (2007). 2010 erschien der Roman 'Das amerikanische Hospital', der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und für den Michael Kleeberg 2011 den Evangelischen Buchpreis erhielt. Sein Roman 'Vaterjahre' wurde u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet. 2016 erhielt Michael Kleeberg für sein Gesamtwerk den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.

I. Kapitel


Sechzig

Wäre die Zeit irgendwann stehen geblieben, sagen wir, vor zwanzig Jahren, dann würde links neben deinem Gedeck jetzt das Namenskärtchen von Heike stehen, deiner Frau. Aber sie ist nicht da. Sie ist auch nicht eingeladen. Und rechts von dir stünde, mit dieser kitschigen, verschnörkelten Schreibschrifttype bedruckt, die pH 5 ausgesucht hat, also Madleen, rechts von dir stünde das Kärtchen von Luisa, deiner Tochter. Auch nicht da. Auch nicht eingeladen. Und rechts neben Luisa wäre der Platz von Max. Eingeladen, aber entschuldigt. Es ist ein Achtertisch in der Mitte des Saals. Und wäre die Zeit irgendwann stehen geblieben, dann säße gegenüber von dir deine Mutter. Auch sie ist nicht da, weil tot. Und rechts neben ihr, dort, wo zwar das Tischkärtchen mit seinem Namen steht, aber kein Stuhl, stünde ein Stuhl, oder besser ein Sessel. Aber das, was einmal dein Vater war, wird im Rollstuhl an den Tisch gefahren.

Tja, so ist das, weil die Zeit eben nicht stehen bleibt.

Man könnte noch weitermachen mit denen, die fehlen, aber sie sind auf die eine oder andere Weise alle ersetzt. Achtzig Gedecke, kein Platz wird leer bleiben zur Feier des Sechzigsten von Karlmann Renn im festlich hergerichteten Clubhaus des Golfclubs von Beimoorsee bei Hamburg, am Rande der Stormarnschen Schweiz.

Grob geschätzt lassen sich die Geladenen auf etwa vier gleich große Gruppen verteilen: Familie. Freunde aus Schule und Studium. Golfer. Sonstige. Von der Arbeit niemand. Der alte Jessen, zu dem in seinen letzten Jahren ein fast Vater-Sohn-haftes Verhältnis gewachsen war und der dich zu seinem Testamentsvollstrecker bestimmt hatte, ist lange tot. Den Jüngeren einzuladen, war nie eine Option. pH 1 bis 4 natürlich auch nicht. Obwohl es eine vorzeigbare Strecke gewesen wäre.

Dafür wird die unverwüstliche Meret da sein, falls irgendwer zweifelt, dass du auch zu deinen Exen ein freundschaftliches Verhältnis haben kannst.

Sie kochen gut hier. Mit italienischer Küche ist immer noch jeder auf seine Kosten gekommen. pH 5 hat darauf bestanden, dass es auch ein veganes Menü gibt. Soll ihren Willen haben, auch wenn sie die Einzige wäre, die’s bestellt.

Der Aperitif wird draußen auf der Terrasse serviert, damit jeder sich bei seiner Ankunft erst einmal an einem Glas festhalten kann. Es ist ein wolkenloser Hochsommertag 2019, Klimawandel sei Dank.

Madleen hat sich wie gesagt um die Tischkarten gekümmert, mit Charlys Hilfe, was die Platzierung seiner Freunde und der weiteren Familie angeht, die und deren Wichtig- oder Unwichtigkeit sie noch nicht kennt. Sie sind erst seit einem knappen Jahr ein Paar, er hat sie auf einer dieser Golfreisen kennengelernt. Marbella, ein knappes Dutzend Paare, eine Handvoll Singles.

Er hat das irgendwann seinem Freund Thomas erklärt, einem hartnäckigen Monogamen: Wenn du eine gepflegte Erscheinung bist in unserem Alter (und sah ihn dabei spöttisch an) und nicht auf den Mund gefallen und Geld hast, dann gibt es überhaupt kein Problem, eine Sexualpartnerin zu finden, und bei Bedarf mehr. Die Welt da draußen ist voll von gut konservierten fünfzigjährigen Frauen, die auf sich halten und Sport machen und von den Arschlöchern getrennt sind, die sie mit fünfundzwanzig, dreißig geheiratet und deren Kinder sie großgezogen haben. Die Typen sind weg bzw. zahlen nur noch, die Kinder sind aus dem Haus, nun glaube doch nicht, dass solche Frauen jetzt meinen, das sei’s gewesen mit dem Leben. Die wissen, was sie wollen, haben etwas erreicht, kennen sich und ihren Körper und den Körper der Männer und haben ein gewaltiges brachliegendes erotisches Potenzial.

Und so ist das mit Madleen auch ganz schnell und reibungslos gegangen. Du wirst sie kennenlernen, aber du siehst ja schon auf den Fotos hier, dass sie mein Typ ist. Groß, schlank, gepflegte Hände und Nägel, das ist extrem wichtig. Und ihr eigenes Haus. Das ist ganz entscheidend. Ich denke gar nicht dran, aus meiner Wohnung rauszugehen. So ein Glacis ist Gold wert. Außerdem muss ich nicht noch mal Kinder erziehen. Auch keine fremden. Ihr jüngster Sohn wohnt noch bei ihr. Und in den Scheidungskrieg mische ich mich auch nicht ein, wenn ich nicht gefragt werde. Obwohl sie sich da extrem dumm anstellt. Insofern sollte ich vielleicht doch was sagen. Nicht dass sie dann hinterher, falls sie das Haus verliert, mit ihrem Gör bei mir vor der Türe steht.

Ist das schon der Moment, ein paar Worte über das zu verlieren, was man eine gewisse Schnödigkeit des Tons oder womöglich des Denkens nennen könnte, die uns hier an Charly auffällt?

Nein, vielleicht noch nicht. Kumulieren wir lieber noch ein wenig und warten die Ankunft der Gäste ab, die für 18 Uhr geladen sind und »smart casual« erscheinen sollen, wie es auf der Einladungskarte steht, die drei Charlys zeigt: als Kind mit Pony in der Stirn und Hasenzähnen aus der Münchner Zeit. Als glückselig lächelnden Mittzwanziger im Smoking (Foto von der ersten Hochzeit, aus dem Christine herausgeschnitten ist). Und als vielleicht fünfzigjährigen Golfer (also vor der Trennung von Heike, über den Daumen gepeilt in der Zeit von pH 1 oder 2).

Als Erste erscheint, eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit, Charlys Schwester, nach allem und allen doch seine älteste Vertraute. Seit vielleicht zehn Jahren haben sie ein Verhältnis zueinander wie alte Kriegskameraden, Veteranen, die an derselben Front gekämpft haben und viele Weggenossen haben verbluten sehen. Dabei spielt es gar keine Rolle oder verschwimmt mit der Zeit, ob man selbst ein Opfer war oder die casualties of war, oder besser of time, vielmehr seinerseits zu verantworten hat – es bleibt einfach, dass man einiges durchgemacht und durchgestanden hat und das Geschwister immer ein naher Zeuge gewesen ist. Man versteht einander mit wenigen Gesten und Augenaufschlägen, und man spricht eine private Sprache, deren Schwingungen bei Erika nur Charly und bei ihm nur seine Schwester wirklich versteht.

Sie lebt seit Jahren wieder in der Stadt, in einer großen Wohnung in Harvestehude, und sie hat ihren Freund im Schlepptau, den kahlköpfigen Rüdiger. Nun ja. Er ist Gestalttherapeut und ein sehr – wie soll man sagen – verkopfter Mensch. Aber offenbar tut er ihr gut, auch wenn er nicht mit ihr ausreitet und sich beim Segeln ziemlich tölpelhaft anstellt. (»Ich benutze ihn als Ballast«, dixit Erika.) Dafür hält er beim Laufen mit. Zumindest bis Kilometer zehn. Sie haben eine feste Beziehung, und nachdem Charly und seine Schwester sich darüber ausgesprochen haben, dass niemand verlangt, er müsse sich mit Rüdiger anfreunden, akzeptiert er ihn als Begleitung und Anhängsel, auch wenn er sich für nichts von dem begeistern kann oder eine Ahnung davon hat, was Charly interessiert. Umgekehrt verhält es sich ehrlicherweise genauso. Und auch Erika plant keinen gemeinsamen Hausstand mit ihrem Freund. Ganz blöd ist sie auch nicht, denkt Charly anerkennend.

pH 5, die, wenn sie nicht golft, als Fotografin arbeitet, hat sich vorgenommen, Charly ein Album seiner Feier zu schenken, und will daher jeden der eintreffenden Gäste dort am Tischchen fotografieren, wo sie ihren Aperol Spritz erhalten.

Und Erika in einem dunkelblauen Twinset, eine Perlenkette um den Hals und die Sonnenbrille auf die Stirn geschoben, ist das perfekte Beispiel für die vorhin erwähnte »gut konservierte Fünfzigjährige«, die auf sich hält und Sport treibt, und die mehr als zehn Jahre, die sie darüber hinaus ist, sieht man nur ihren Handrücken und ihrem Hals an. Madleen schiebt Rüdiger zur Seite – mit der Autorität des Fotografen (meine zweite Fotografin, denkt Charly) – und porträtiert Schwester und Bruder nebeneinander für das Veteranenfoto. Fast könnte man beide wieder, wie damals im Vorschulalter, als die Eltern sie identisch kleideten, für Zwillinge halten.

»Wann wird Papa gebracht?«, fragt Erika mit einem Blick auf ihre goldene Tissot Prestigious Lady (sie hat immerhin aus dem Krieg mit Kumpf vor zwanzig Jahren zusätzlich zu ihren Mädchen auch eine runde Million herausgeschlagen).

»Müsste schon da sein. Seine Polin bringt ihn und nimmt ihn nach ’ner guten Stunde auch wieder mit. Länger hat, glaube ich, keinen Sinn für niemand.«

Erika nickt. »Es geht im Grunde ja auch nur ums Symbolische. Er selbst wird nichts davon mitkriegen, und je länger er von zu Hause fort ist, desto unruhiger wird er.«

»Denke ich auch«, sagt Charly. Sie sehen einander an, und beide wissen, dass sie dasselbe Bild vor Augen haben: ihre Mutter.

»Weißt du eigentlich, wer Reden hält?«, fragt Erika. »Ich meine: Hast du jemanden bezahlt, damit er was Nettes über dich sagt?«

»Die sicherste Bank ist immer noch meine eigene Rede. Wolltest du was sagen?«

»Lass dich überraschen. Nein, wollte ich nicht. Wobei, die verjährten Verbrechen kenn mittlerweile nur noch ich.«

»Na ja, Kai und Thomas auch noch ein paar. Aber wie du schon sagst: verjährt. Ich nehme an, die beiden werden was zum Besten geben.«

»Schade, dass der alte Senftenberg nicht mehr lebt. Der war ein guter Redner …«

»Gott bewahre. Ich erinnere mich, wie er schon völlig dement zu deinem Fünfzigsten gequasselt hat. Der Wein war schal, die Blumen verwelkt, und von der Decke hingen die Spinnweben, als er endlich ein Ende gefunden hat. Und dabei hatte er nur einen Toast ausbringen wollen …«

»Na komm, wär dir Papa als Redner lieber gewesen?«

»So gesehen …«, lacht Charly, aber dann drängt Erika nach drinnen, weil sie wie alle als Erstes die Anordnung der Tischkarten sehen will. Da noch kein weiterer...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • alter weißer Mann • autofiktionale Erzählung • charly renn • Corona • eBooks • Epochenroman • Ferdinand von Schirach • Gegenwartsdiagnose • Gesellschaftsroman • Hamburg • Heinz Strunk • karlmann 1 • karlmann 2 • karlmann 3 • Lebensbilanz • Me too • Michel Houllebecq • Neuerscheinung • Philipp Oehmke • Sommer in Niendorf • toxische männlichkeit • Trilogie • Vaterjahre • Zeitroman
ISBN-10 3-641-15986-5 / 3641159865
ISBN-13 978-3-641-15986-3 / 9783641159863
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