Blackbox (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31233-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blackbox -  Benjamin von Stuckrad-Barre
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Im Zweifelsfall ist die Blackbox die letzte Hoffnung auf der Suche nach Ursachen für Abstürze: Was hat versagt oder wer, lag es an der Technik, am Klima, oder war es menschliches Versagen? In acht Texten entwirft Benjamin von Stuckrad-Barre Tragödien unterschiedlichster Art und macht sich mittels akribischer Protokollauswertung auf die Suche nach möglichen Absturzursachen. So unterschiedlich diese Themen sind, so unterschiedlich sind die Textformen, die der Autor benutzt: Protokolle, Erzählungen, Märchen, Gedichte, Dialoge, ein Dramolett - gemeinsam ist allen Texten die Konfrontation eines sicher geglaubten Ordnungssystems mit plötzlich auftauchenden Störungen, mit Problemen, die sich als Systemfehler entpuppen, Fehler grundsätzlicher Art oder bloß in der Bedienung.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft – Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal hinlegen – Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

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Vom Netz


Über Nacht kam die Erinnerung

an längst vergangenes Glück

und voller Wehmut stell ich mir

die Uhr eine Stunde zurück

Sven Regener

Das wars: END OF BAG stand auf dem Lederkissen, das leicht vibrierend hinter dem Gummilappenvorhang hervor- auf dem Förderband dem jungen Mann entgegenkam. Die Beladung des Kofferbandes jenseits des Vorhangs war abgeschlossen; es kamen keine neuen, nur immer wieder dieselben Gepäckstücke, bis auch der gammeligste Pappkoffer und die rostigste zusammengeklappte Kleinkindkarre von ihren Besitzern erkannt und heruntergehoben wurden.

Niemand sprach ein Wort an diesem Kofferband, die Menschen verharrten in Erwartung und spielten bis zum erleichterten „Das ist meiner, darf ich gerade mal“ im Kopf das durch, was der junge Mann nun in der Realität durchspielen mußte. Zunächst dachte er nur ein paar Stunden weiter: Was vom Kofferinhalt brauchte er dringend noch am selben Abend? Und was wäre, was vor allem wäre nicht mehr, wenn der Koffer gar nicht wieder auftauchte, gestohlen oder verschollen wäre?

Manche verreisen nur mit Handgepäck, sie können ohne Angstpause geradewegs durch den Zoll gehen und die verlustängstlichen Gepäckwarter hinter sich lassen. Der junge Mann nahm immer zuviel mit, auch wenn er nur kurz verreiste, kam er nie mit Handgepäck aus. Auf seine Sachen wartend, hatte er stets gerätselt, warum nicht auf Flughäfen pausenlos Gepäck abhanden kam, geklaut oder einfach nur nach Argentinien verschickt wurde, aus Versehen. Daß offenbar allein diese Papieretiketten, mit ihren dem Laien hieroglyph erscheinenden Abkürzungen und Strichcodes, dafür sorgen, daß der Endflughafen des Gepäcks identisch ist mit dem des Eigentümers, das hatte den jungen Mann jedesmal aufs neue erstaunt. Damit war nun Schluß – End of Bag.

Daß einem die für die große Liebe Gehaltene abhanden kommt, das passiert, damit hatte der junge Mann zwar nicht gerechnet, doch das war eindeutig sein Fehler gewesen; als jetzt auch noch sein Koffer weg war, begann er, einmal genau nachzurechnen: Was war eigentlich noch da?

Das ganze Geld war jetzt nahezu aufgebraucht. Für die Frau hatte er wenigstens noch das Geld bekommen, für das Geld allerhand Fluchtmöglichkeiten – doch jetzt war die Flucht zu Ende, Geld und Frau waren für immer fort und sein Gepäck scheinbar auch. Er fand die aktuellen Wechselkurse ziemlich einseitig: Alles wurde ihm genommen, und zurück kam nicht mal sein Koffer. Geld gegen Frau, das war immerhin noch ein Tausch gewesen, wenn auch ein reichlich merkwürdiger, wenn er darüber nachdachte, aber das hatte er jetzt einige Wochen lang getan, und um damit irgendwann aufzuhören, war er ja weggefahren. Also versuchte er, nicht mehr daran zu denken. Aber wie, wie bitte soll man vergessen, daß man von einer Frau, die ab sofort nicht mehr die Geliebte sein möchte, 25.000 DM auf den Tisch gelegt bekommt, verbunden mit der Weisung, sich nicht mehr zu melden und einfach aus dem Leben zu verschwinden, also praktisch Geld oder Liebe nicht als Frage, sondern als Antwort.

Oft warfen sich Partner, nachdem sie aufgehört hatten, einander solche zu sein, unfaires Verhalten vor. Nein, unfair eigentlich nicht, hatte der junge Mann gedacht. Im finalen Brief hatte sie ihn gebeten, die Sache als definitiv beendet anzusehen und nicht als unterbrochen, Schluß, jeder weitere Kontakt möge bitte unterbleiben, so sei es besser, das müsse er ihr glauben, mehr könne, mehr wolle sie nicht schreiben – Beigelegtes sei, um den Übergang zu erleichtern, ansonsten alles Gute. Beigelegt waren 50 frische Fünfhundertmarkscheine. Die ersten Liebesbriefe hatten nach Seife gerochen. Das Geld nun roch nach gar nichts.

Zum bis dahin ersten und einzigen Mal hatte der junge Mann soviel Geld an seinem Arbeitsplatz gesehen, da waren es sogar noch mehr Scheine gewesen, aber dafür alle falsch bis auf einen. Schon damals hatte der junge Mann in einem Copyshop gearbeitet, und an jenem Tausender- Tag hatte der Lottojackpot eine solch immense Höhe erreicht, daß es – na ja, erst recht noch nicht reichte. Das ganze Land war an Jackpotfieber erkrankt, es war gerade nichts anderes da. Die direkt gegenüber dem Copyshop ansässige Lottoannahmestelle wollte dann kurz vor Annahmeschluß noch mal richtig trommeln und hängte farbkopierte Geldscheine an einer Wäscheleine quer über die Straße. Der Lottoannahmechef nannte das Direktmarketing und hatte die echte Vorlagenbanknote durch drei verschiedenfarbige Geheimzeichen, einige winzige Risse und Löcher, kenntlich gemacht und blieb die ganze Zeit neben dem vom jungen Mann fachkundig bedienten Farbkopierer stehen, solche Angst hatte er, daß er so dumm sein könnte wie seine Kunden und die Fälschungen für echt halten, und am Ende zwischen all den Fälschungen (die er Blüten nannte) auch das Original über der Straße baumeln würde. Oder, noch einfacher, der junge Mann es ihm abtrickste. Doch obwohl die Scheine sorgsam beidseitig kopiert wurden, fühlte sich das Papier der Duplikate natürlich ganz anders an, das hätte auch der Nichtexperte gleich bemerkt. Nach Geschäftsschluß hatte der junge Mann an diesem Jackpotsamstag gewartet, bis das Lottoannahmestellen-Personal in sein herbeigesehntes Sat.1-Wochenende geflohen war, um dann die Wäscheleine abzumontieren und die falschen Geldscheine dem Kind seiner Geliebten mitzubringen. An diesem Tag stiegen die Preise im Kaufmannsladen der Siebenjährigen immens, alles kostete mindestens 1.000 Mark, aber das machte nichts, es war ja ab sofort genug Spielgeld da.

Als seine Geliebte ihm dann wenig später per Schweigegeldzahlung (oder wie sollte er das verstehen? Ja: WIE?) alles auf einmal, sich, das Kind und die Liebe entzogen hatte, war zum ersten Mal im Leben des jungen Mannes sogar genug echtes Geld da. Der junge Mann hatte bis dahin nie gut verdient, aber es war ihm dabei ganz gutgegangen.

Das Wort Werdegang wirkte auf sein Leben angewendet falsch, es klingt darin zuviel Bewegung an, vielleicht sogar zwischenzeitliches Tempo, was des jungen Mannes Sache nie gewesen war, nein, seine Biographie eignete sich bestens, die vehementen Forderungen irgendeines Sparausschusses nach Studiengebühren und Studienzeitbegrenzungen drastisch zu illustrieren. Ungläubig würden die Abgeordneten auf die Overheaddarstellung blicken und auf dem Lebenszeitstrahl vom 19. bis zum 29. Lebensjahr keine nennenswerten nichtprivaten Einträge ablesen können, und überhaupt nichts, was auf die Bereitschaft schließen ließe, sich zum Wohle des Staates einspannen, ausbilden oder wenigstens krank schreiben zu lassen. Dieser Herr Mustermann hatte einfach zehn Jahre herumlaviert (und würde es weiterhin tun). Mal stand dort für eineinhalb Jahre einfach

– Kreta

oder

– hier und da gejobbt.

Sie sehen, würde der Vortragende sagen und den Overheadprojektor ausknipsen, die Folie kopfschüttelnd mit Pergamentpapier bedecken und abheften, Sie sehen, Kolleginnen und Kollegen, was uns blüht, wenn wir da nicht alsbald einen Riegel vorschieben.

Im Plenarsaal würde man konsterniert schweigen, betreten nicken, einige würden vielleicht zaghaft

– Aber Sie haben natürlich bewußt zugespitzt! rufen.

 

Der junge Mann hatte überall mal ein wenig gearbeitet, hier geholfen, dort bedient, da beraten, und immer, wenn er mehr Geld zusammen hatte, als er an einem Tag ausgeben konnte, einen Tag Urlaub gemacht – einige nannten ihn Schmarotzer, andere Lebenskünstler.

Mit einem Berufsschullehrer hatte der junge Mann sich eine hübsche Wohnung gemietet. Gut an dieser Konstellation war, daß der Berufsschullehrer, der nachmittags und an Wochenenden einen schwunghaften Handel mit alten Münzen, Orden, Urkunden und Briefmarken betrieb, nur in der gemeinsamen Wohnung übernachtete, wenn er seine Frau mit einer jungen Schülerin oder einer älteren Münzsammlerin betrog. Ungefähr viermal pro Woche tat er das nicht. Die Ausrede, mit der der Berufsschullehrer seiner Frau die regelmäßigen Außerhausübernachtungen untertitelte, hieß „Buchführung, Ablage, Büroscheiß“. Die Wohnung lag direkt über seinem kleinen Laden, damit war das Konstrukt etwas glaubhafter, und als die Frau am Anfang einmal zu Besuch gekommen war, hatte der Berufsschullehrer den jungen Mann angewiesen, sich ein ordentliches Hemd anzuziehen, statt seiner Stereoanlage ausnahmsweise mal den Fernseher laufen zu lassen, allerdings ohne Ton und ausschließlich den Sender n-tv, und dort vom Schreibtisch aus bitte so oft hinzugucken wie eine auf der Spielplatzbank sitzende Mutter zu ihrem schaukelnden Kind, des weiteren im Kühlschrank Bier gegen Saft zu tauschen und während der Inspektion am Schreibtisch zu sitzen und Assistent zu spielen – sonst flöge alles auf. Der junge Mann tippte also ständig mit einer Hand auf einer Rechenmaschine herum, guckte alle dreißig Sekunden auf die Uhr (auf n-tv sowieso), um dann „Oh, verflixt“ zu sagen, gab mit der anderen Hand nichtexistente Telefonnummern ein und presste sich dann...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Benjamin von Stuckrad-Barre • Christian Kracht • Deutsche Popliteratur • Essayband • Essaysammlung • Gegenwart • Gesellschaft • Leben • Medien • Ordnung • Panikherz • Popliteratur • Pop-Literatur • Soloalbum • Stuckrad-Barre Essays • System-Störung • Zeit-Panorama
ISBN-10 3-462-31233-2 / 3462312332
ISBN-13 978-3-462-31233-1 / 9783462312331
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