Über den Fluss (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491699-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über den Fluss -  Theresa Pleitner
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Eine junge Psychologin ist die Hauptfigur in Theresa Pleitners erstem Roman »Über den Fluss«. Mit gerade abgeschlossenem Studium meldet sie sich freiwillig, um in einem provisorischen Aufnahmelager am Rand einer deutschen Großstadt geflüchtete Menschen zu betreuen. Bald erfährt sie, wie begrenzt ihre Möglichkeiten sind, den Traumatisierten in der hoch gesicherten Einrichtung zu helfen. Ihre Geschichten verfolgen sie bis in den Schlaf und treiben sie in die Vereinsamung. Immer stärker erlebt sie die Widersprüchlichkeit ihres Auftrags, zu dem es auch gehört, die Menschen notfalls zu entmündigen und Abschiebungen zu tolerieren - als Teil des Systems wird sie zum Teil des Problems. Als sie mit einem Geflüchteten konfrontiert wird, der sich das Leben nehmen will, gerät sie in ein moralisches Dilemma. Sie entscheidet - falsch - und verfasst einen eindringlichen Rechenschaftsbericht, nach dem man das Wort »helfen« nie mehr lesen wird wie zuvor.

Theresa Pleitner, geboren 1991, studierte literarisches Schreiben und Psychologie in Heidelberg, Leipzig und Berlin. Sie arbeitete als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete sowie einer psychosomatischen Klinik und behandelt aktuell ambulant Patient*innen. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses und des Irseer Pegasus. »Über den Fluss« ist ihr erster Roman, für dessen unveröffentlichtes Manuskript sie mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet und für den Amadeu-Antonio-Preis nominiert wurde. 

Theresa Pleitner, geboren 1991, studierte literarisches Schreiben und Psychologie in Heidelberg, Leipzig und Berlin. Sie arbeitete als Psychologin in einer Unterkunft für Geflüchtete sowie einer psychosomatischen Klinik und behandelt aktuell ambulant Patient*innen. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses und des Irseer Pegasus. »Über den Fluss« ist ihr erster Roman, für dessen unveröffentlichtes Manuskript sie mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet und für den Amadeu-Antonio-Preis nominiert wurde. 

[...] intensiv und berührend [...].

Ein starkes, ein lesenswertes Debüt.

hellsichtige[s] Debüt

Pleitner schreibt flüssig, mit Einfühlungsvermögen und beobachtet gut.

[...] ein bedeutendes und höchst lesenswertes Buch [...]

1


Schon viele Male habe ich den Ort aus der Luft gesehen, vom Taumel des Abhebens noch benommen: durch das Fenster einer jener Passagiermaschinen, deren Flugschneise in Richtung Süden führt, den flirrenden Stränden der Algarve entgegen, irgendeinem fernen Ferienparadies. Unten zieht der Fluss sich durch die Stadt wie ein feiner Riss: diesseits grüne Parkanlagen und rotgeziegelte Reihenhaussiedlungen, ab und zu das türkise Rund eines gefüllten Pools, jenseits Industriehöfe und Gewerbebauten. Dazwischen kaum ein Baum und Strauch, ein Wüstenpanorama, von Menschenhand geschaffen, das doch den trügerischen Anschein weckt, die Trennung der Ufer sei naturgemäß. Um eine Spur verdunkeln sich die schieferfarbenen Dächer, wenn der Flugkörper das Licht der Sonne abschirmt, dann fliegt man schon in den Dampf der Schlote, der auf dieser Seite in die Wolkenhalden wächst, so dass der Himmel wie eine Erweiterung dieser Ödnis wirkt.

Als ich nach dem Öffnen des Zusagebescheids mit ängstlicher Euphorie bei Maps die Adresse eingab, sah ich auf dem Satellitenbild eben jenen Rand der Stadt, die Markierung wies auf das andere Ufer. Groß wie ein Fußballfeld war das Dach der Halle, Interfracht Logistics stand darauf. Auf das laufende Jahr war die Darstellung datiert, dabei wurde dort seit drei Jahren keine Ware mehr umgeschlagen, es waren Menschen, die in den entkernten Lagerhallen transferiert wurden. Offenbar lohnte die Unterkunft auf der Karte keinen Vermerk: ein über Nacht eingerichteter Notbehelf, von den Behörden als Ausnahme wieder und wieder bewilligt für ein Vierteljahr. Auch die Stellen wurden nur für ein Vierteljahr bewilligt, mein Arbeitsvertrag war befristet auf drei Monate.

Ich muss mich diesem Ort noch einmal ausliefern, wenn ich die Entwicklung der Ereignisse rekonstruieren will. Wieder gehe ich über den Platz, an dem die Händler schwitzend ihre Waren ausrufen, vorbei an der Telekomsäule, auf der einer manchmal mit überschlagenen Beinen sitzt, in der einen Hand ein Stück Wassermelone, in der anderen einen Joint, steige in die steinerne Kühle der Station hinab und warte am Gleis, bis die U-Bahn aus dem Tunnel donnert.

Die Aufregung des ersten Arbeitstags: Wie ich den Pappbecher mit dem heißen Kaffee umklammerte und beim Hinabsteigen in den Schacht ein verirrter Wind an mir riss. Noch nie zuvor war ich mit der U-Bahn so weit gefahren. Alle Anzugträger und Schulkinder stiegen allmählich aus. Während der Wagen sich nach und nach leerte, spüre ich immer öfter befremdete Blicke auf mir. Sie schienen meinen hellen Turnschuhen zu gelten, meinen blassen Händen, dem nervösen Flackern meines Gesichts, das zu eilfertig ein Lächeln zurückgab – dabei hatte ich vor dem Zuziehen der Wohnungstür noch einen festen Blick, eine nüchterne Stimme einstudiert.

Von den metallisch glänzenden Silos an der Endstation aus fuhr der Bus mich schließlich über den Fluss, dessen Wasser an diesen Ausläufern brackig ist und beinah steht, passierte vor dem Einlenken auf die Brücke noch einen Kleingartenverein, eine Reihenhaussiedlung mit Lauben und Garagen. Träge wiegte eine Schaukel hin und her, als schwinge sie noch nach von einem gerade abgesprungenen Kind. Auf der anderen Seite zeichneten sich Kohlehalden ab, Containerfracht. Von hier aus schien der Fluss wie die Achse eines düsteren Spiegels, der alles in sein Gegenteil verkehrte. Meine Kehle wird eng, wenn ich an die Fahrt über die Brücke denke. Die Sonne auf der anderen Seite schien erdrückend hell, kein Blätterdach filterte die einfallenden Strahlen zu einem Gerinnsel, Wasser und Gewerbebauten gaben sie gleißend zurück, so dass das helle Licht einem geradewegs in die Augen schoss. Ich blinzelte, der Fahrer klappte die Sonnenblende aus.

Als meine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, sah ich neben der Ausfallstraße dampfende Schlote und Schrottpressen, Autohöfe, an die Erotikshops anschlossen. Neben einer Zapfsäule war ein Bullterrier angeleint, unter dessen Fell sich pralle, definierte Muskeln abzeichneten und dessen Halsband mit Nieten besetzt war, ein scharfer Kontrast zu den Hunden in der Stadtmitte, die ihre zierlichen Läufe noch zum Wasserlassen mit der Eleganz einer Ballerina anhoben. Keine Seele war hier zu sehen, und ich war fast erleichtert, als ich einen Aldi entdeckte, ein eindeutiger Hinweis auf menschliches Leben. Als der Bus anhielt, knirschte zwischen meinen Zähnen Sand. Die Hitze ließ die Luft so flimmern, dass der niedrige Betonbau mir beinah wie eine Einbildung erschien. Doch dann sah ich den gezwirbelten Stacheldraht, die patrouillierenden Securitys.

An Tor A, jenem Eingang an der Stirnseite, der dem Personal vorbehalten war, verlangte der Wachtposten nach meinem Ausweis, warf auf Lichtbild und Personalien jedoch nur einen flüchtigen Blick, als sei diese Amtspflicht ihm eher unangenehm. Dann gab er meine Ankunft mit einer Art Funkgerät durch. Während wir warteten, blickte er verlegen an mir vorbei. In seinem Haaransatz perlte der Schweiß. Hinter einer Glastür näherte sich eine ältere Frau mit hennafarbenem Pagenkopf, die sich als meine zukünftige Kollegin vorstellte, »für Sie Ines«. Sie schüttelte mir hektisch die Hand, und auch ich nannte ihr meinen Vornamen, erleichtert, hier eine Verbündete zu haben. Sie fuhr sich über die Stirn: »Was eine Hitze!« Mit diesen Worten bat sie mich in den klimatisierten Trakt zu unserem Büro, an dessen Decke die Rotorblätter eines Ventilators durch die Luft schnitten, gesiebtes Sonnenlicht fiel durch eine Jalousie.

Während sie an einer Küchenzeile zügig Kaffeewasser für uns aufsetzte, sah ich ihre kräftigen, beinah derben Hände, doch ihre Tatkraft schien mir seltsam nervös, als hätte sie sich aufgeputscht nach einer durchgemachten Nacht. Als sie mir die Tasse reichte, sah ich, dass ihre Augen rot geädert waren. Sie verzog den Mund leicht und meinte: »Ich muss dich aber warnen, der Kaffee hier schmeckt etwas nach Fisch … die Leitungen sind verkalkt und hätten längst gewartet werden müssen. Das hier ist eben ein einziges Provisorium.« Sie schüttelte den Kopf: »Auch die meisten von denen, die hier arbeiten, sind eigentlich nicht ausgebildet für ihr Fachgebiet, haben teils nicht einmal eine Fortbildung gemacht.«

Sie musterte mich, nicht unfreundlich, meine Ärmel, die mottenstichig waren, wie mir nun auffiel, dazu die ausgewaschene Jeans, sehr leger. »Du bist doch vom Fach«, fügte sie hinzu, fragte nach meiner Konfektionsgröße und nahm dann einen Kittel vom Haken: »Aseptisch weiß, ein edles Modell ist das, sogar mit abgedeckter Knopfleiste.« Sie hielt den Kittel an mich: »Das sieht nach Klinik aus und wirkt clean. Außerdem erleichtert der Kittel das Ablegen der Arbeit nach Schichtende.« Trotz Größe S schien mir der Kittel riesig zu sein, ich befühlte an den Ärmeln den gestärkten Stoff. Ines legte sich das Haar hinter die Ohren, während sie mich betrachtete, »das steht dir«. Es klang eher beschwörend als nach einer Feststellung. »Natür-lich prallen die Geschehnisse daran nicht ab wie an einer kugelsicheren Weste, aber manches hält einem das doch vom Leib.« Sie stellte ihre Kaffeetasse auf dem Tisch ab, gleich sei sie wieder zurück, sie müsse mir nur noch schnell einen Dienstausweis ausstellen.

Während ich wartete, schaute ich durch das Fenster auf die Straße. Der Security wendete, sein geduckter Schatten ging nun vor ihm her. Über dem Aldiparkplatz stieg in südlicher Richtung ein Flugzeug auf. Kurz wünschte ich mich fort, wünschte mir, ich wäre wie die meisten meiner Freunde für den Sommerurlaub an eine mediterrane Küste, auf eine tropische Insel geflogen, anstatt gleich nach dem Studium diese Stelle anzunehmen. Von hier aus schien die Maschine fast bedrohlich nah, ihre Turbinen zeichneten sich scharf ab vor dem blanken Himmel. Von der Druckwelle erfasst, vibrierte das Fensterglas, setzte sich in mir als Unruhe fort.

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, blieb an einem Globus hängen, der auf einem der Simse stand, von Längen- und Breitengraden wie von einem feinen Gitter umspannt, suchte nach einigen Herkunftsländern, von denen im Fernsehen und im Radio die Rede war: Syrien, Irak, Afghanistan, Eritrea. Teils hatte ich Freunde, Liebhaber von dort gehabt, konnte in der Landessprache nach dem Befinden fragen, auf meine Mutter schwören oder fluchen. Teils war meine Kenntnis der Länder leidlich, in einem alten Schulatlas ein blassrosa Land, um das schnurgerade Grenzlinien gezogen waren. Darüber, was es mit diesen Linien auf sich hatte, hatte man mich auch in der Oberstufe noch nicht aufgeklärt. Bei diesem Gedanken wurde mir unwohl. Es gab noch so viele weitere Linien, die auch in mich tief eingezogen waren, um die ich jedoch noch nicht wusste und vielleicht niemals wissen würde.

Ines kam wieder zur Tür herein, einen laminierten Dienstausweis in der Hand, auf dem mein Name und meine Profession vermerkt waren, daneben ein von einer Art Strahlenkranz eingerahmtes Gehirn: »Damit auch Analphabeten uns als Psychologinnen erkennen, brauchen wir ein Piktogramm.« Ich nahm den Ausweis entgegen, sagte: »Die Strahlen sehen fast aus wie ein Heiligenschein.« Dann wies ich auf die Diagnoseschlüssel des DSM-V und ICD-10, die in einem Schrankfach neben den Behandlungsmanualen standen: »Und das da oben sind Koran und Bibel?« Kurz fürchtete ich, zu weit gegangen zu sein, doch Ines’ Gesicht öffnete sich kurz zu einem Lachen, bevor sie mit ernstem Tonfall einwandte: »Das ist eigentlich nicht zum Lachen. In manchen Kreisen hier kursiert das Gerücht, wir Psychologen seien eine Sekte, die die Leute vom Glauben abbringen und konvertieren will.« Etwas Bitteres zog in ihre Züge ein: »Manchmal werde ich auch richtig ungehalten, wenn wieder einer der Gäste vor mir sitzt...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Ein Buch von S. Fischer • Erstaufnahmeeinrichtung • Flüchtlinge • Flüchtlingsunterkunft • Geflüchtete • Helfen • Literarisches Debüt • Migration • Psychologie • PTBS • white guilt • white saviorism
ISBN-10 3-10-491699-3 / 3104916993
ISBN-13 978-3-10-491699-6 / 9783104916996
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