EMIL (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11939-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

EMIL -  Mariam Kühsel-Hussaini
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Es ist kein dunkler Traum, es ist Deutschland 1933. Emil Cioran, rumänischer Stipendiat der Philosophie, manifestiert in Berlin seinen Glauben an den Selbstmord. Rudolf Diels, erster Chef von Hitlers Gestapo, will Deutschland vor dem eigenen Selbstmord bewahren. Doch schon bald blicken beide in einen gemeinsamen Abgrund, denn sie passen sich nicht an. 1933, es ist die Stunde Hitlers. Emil Cioran kommt nach Berlin, um gegen die Philosophie zu rebellieren. Er träumt vom Tod und er will der Erste sein, der keine Lügen mehr erweckt. Rudolf Diels, der Chef der Geheimpolizei, will Deutschland dienen, doch einzig und allein dem Rechtsstaat und seinem Strafanspruch. Frontal zum ganzen Puls dieses brennenden Augenblicks, entfalten sich ihre Persönlichkeiten: Cioran ersehnt Unsterblichkeit, Diels erhält auf dem Obersalzberg einen Mordbefehl von Hitler. Im Wettlauf mit der Zeit, von ihr paralysiert und gejagt - getrieben von ihren großen Wünschen, umgeben von menschlichen Dämonen - beginnen Emil Cioran und Rudolf Diels ihre Aufgabe zu ihrem Schicksal zu machen. »Was für eine Sprache! Mariam Kühsel-Hussaini beherrscht die Kunst des federleichten Erzählens mit unerhörten Wortkombinationen. Das ist es, was wir von der Literatur wollen.« Elke Heidenreich, Zeit zu Tschudi »Es ist vor allem die Erzähltemperatur, die dieses Buch zu einem Ereignis macht. Die deutsche Sprache wird so lange durchgeschüttelt, bis sie aufwacht und Dinge sagt, die so neu, wild und impressionistisch sind wie ihr Gegenstand. Die Sprache macht ihre Loopings im Luftraum eines in der aktuellen deutschen Literatur sonst sorgsam vermiedenen Pathos. Manchmal springt man beim Lesen ungläubig einen Satz zurück ... Kühsel-Hussaini schattiert, umhaucht, umtupft -- Tschudi ist auch ein großer politischer Roman über Deutschland und das, was hätte werden können.« Niklas Maak FAZ zu Tschudi »In verführerischem, treibendem Rhythmus erzählt die Schriftstellerin darin von dem Museumsdirektor, der den Impressionismus nach Deutschland brachte. Fasziniert, ja: elektrisiert habe ich diesen Roman verschlungen.« Alexander Jürgs, faz.net zu Tschudi »Ein ansteckend-begeisternder Roman.« Paul Stoop, Deutschlandfunk zu Tschudi »Ein ganz starkes Buch. So virtuos geschrieben, so informativ, so anschaulich, so unterhaltend, so fesselnd. Ein Roman für den Geist und das Gefühl gleichermaßen.«  Frank Statzner, Hessischer Rundfunk zu Tschudi »Mariam Kühsel-Hussaini giesst den Visionär Tschudi und seine Epoche in ein federleichtes, schillerndes, expressives und immer eigenwilliges Deutsch. Jedes Kapitel ein Bild, doch nichts steht still. Ein Berlin-Roman, wie man ihn noch nicht gelesen hat.« Martina Läubli, NZZ am Sonntag zu Tschudi

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren. Sie wuchs in Deutschland auf. 2010 erschien ihr vielbeachtetes Debüt »Gott im Reiskorn«; es folgten die Romane »Abfahrt« (2011) und »Attentat auf Adam« (2012). Ihr zuletzt erschienener Roman »Tschudi« gehörte zu den wichtigsten Romanen des Jahres 2020 und wurde von LeserInnen und Literaturkritik gleichermaßen gefeiert. Mariam Kühsel-Hussaini lebt in Berlin.

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren. Sie wuchs in Deutschland auf. 2010 erschien ihr vielbeachtetes Debüt »Gott im Reiskorn«; es folgten die Romane »Abfahrt« (2011) und »Attentat auf Adam« (2012). Ihr zuletzt erschienener Roman »Tschudi« gehörte zu den wichtigsten Romanen des Jahres 2020 und wurde von LeserInnen und Literaturkritik gleichermaßen gefeiert. Mariam Kühsel-Hussaini lebt in Berlin.

Zwei


Ich wartete Ecke Linden. Auf die Minute pünktlich erschien er.

»Na, hat ja wunderbar geklappt! Deutsch-rumänische Absprache hält Wort!«, rief er mir zu und ich konnte ihn sofort gut leiden. Hochgewachsen, hellbraunes, glatt gescheiteltes Haar, aufgeweckte Augen, heiser und zugewandt. »Heil Hitler!«

»Heil Hitler!«, erwiderte ich. »Otto Krause? Mir wurde gesagt, ein Herr Krause würde mich hier abfangen.«

»Steht vor dir!«, grinste er. »Und du bist der Emil.«

»Ja«, lachte ich.

»Ich begleite dich zur Humboldtstiftung, wo du deinen Ausweis bekommst. Dachte, wir treffen uns hier, gehen gemeinsam hin, damit du auch siehst, wie herrlich unser Berlin ist. Dann bringe ich dich zur Witwe Heilscher, wo du dein Zimmer beziehen wirst. Gratulation übrigens zum wohlverdienten Stipendium! Dass du trefflich schreibst und noch trefflicher denkst, ist unserer Stiftung nicht entgangen.«

»Danke vielmals!«, sagte ich. »Studierst du auch?«

»Medizin. Auch an der Friedrich-Wilhelms. Eigentlich wollte mich der Horst noch begleiten, dich kennenlernen, aber er war verhindert und lässt dich herzlich grüßen. Uns wurden ein paar Übersetzungen deiner Texte gereicht, du, die haben uns mächtig beeindruckt. Aber umbringen kannste dich später immer noch, jetzt erst ma darf uns der Tod nicht schrecken!«

»Interessierst du dich für Philosophie?«, fragte ich ihn.

»Hab’s als Nebenfach, sehr sogar, ja. Vater bestand aber auf Medizin, da kam ich nicht drum rum. Aber so, im Ausgleich mit den Wissenschaften des Geistes, ist es mir erträglich.«

»Ist die Medizin denn ungeistig?«

Er lächelte im Gehen, besaß ein dürersch lineares Profil, ein klarsichtig-Verlangen-unterdrückendes und feines Todesgesicht, mit fester Haut über den ebenen Wangenknochen und abgehärtet-blutlosem Kinn, sein Schritt war vorwärtsdrängend, seine Kleidung äußerst bürgerlich. Ich hatte Mühe, meinen riesigen Koffer hinter mir herzuziehen, und kam mir ein wenig missglückt vor, ihn um zwei Köpfe zu unterragen. Kleine Regentropfen setzten sich in und auf meinem krausen Haar ab und blähten es auf, verdammt. Einen Topfdeckel aus Beton bitte, denn diese Haare kommen woanders her!

»Als Arzt musst du halt antworten, Raum für Fragen ist nicht gegeben.«

»Verstehe«, sagte ich und sah das Stadtschloss vor mir aufscheinen, im beklommenen Bisquit unter einem steinfarbenen Himmel und kurz hinter einer schwarzgrauen Spree und all das flößte mir eine eigenartige, unbekannte, fremde Verzweiflung ein. Ein langer Bau, auf einer wie gebogenen Erde, mein erster Eindruck war leer, ich meine den Kasten, er schien leer, seines Flüsterns und seiner Farben beraubt.

Ein enormes Banner – massiger, als ich es begreifen konnte – fiel von der obersten Dachkante der Schlossfassade die Lindenseite herunter bis zum Boden. Das Hakenkreuz darauf geschlagen wie ein stummer Gong, ein schwarzes Pulsloch mitten im Raum, in seinem ganzen feingliedrig gehässigen Schaudersog.

Ich war mir sicher, Otto hatte diesen Gang sehr wohl bedacht.

Im Schlüterhof des Schlosses, ein rußig krustiger Garten aus Säulen, herrschte viel Betrieb. Ich überflog die Statuen mit ihren zarten Brüsten und ungeheuren Pranken, manche hoben den Arm, wie als wenn sie nicht recht wüssten … keine Unentschlossenheit, nein, eher ein unendliches Sehnen nach Unformbarkeit. Unformbar wie alles, was mich hier umgab. Nicht fassbar. Ziel unbekannt. Geheimniskalte Luft, in sich brennend irgendwie.

»Lass mal dein Ungetüm von Koffer hier unten, bei uns kommt nix weg, wir müssen hoch ins Dritte, komm, folge mir gern!«, Otto nahm drei Stufen gleichzeitig, leicht und federnd in seinen blankgeputzten Herrenschuhen und dem fliegenden Schal um den schmalen Hals, während ich immer kleiner zu werden schien im Mantel meines schwachsinnigen Onkels und versuchte, meinem balkanesischen Trippeln eine irgendwie elegante Entschuldigung zu verleihen. Ein blinder Dackel, der einem silbernen Schimmel folgte!

Die Büroräume der Humboldtstiftung waren hell ausgeleuchtet. Freundliche Gesichter hießen mich willkommen. Noch ehe ich mich versah, schüttelte bereits jemand meine Hand, sehr fest, wie mir auffiel. »Heil Hitler! Da haben wir ja den begabten Gast und Freund unserer großen deutschen Kultur!«, ein Mann mittleren Alters stand vor mir. »So so, Philosophie, Soziologie, Kunstgeschichte und dann wollen Se ja auch noch eine Promotion für Psychologie ansteuern; Donnerwetter, wenn das mal nicht vielversprechend ist!«, an seinem Anzug über dem Herzen steckte ein kleines Parteiabzeichen, golden glitzernde Lettern auf einem metallic-roten Kreis. »Und dann, ja dann ham Se sich auch noch den denkbar ergreifendsten Augenblick ausgesucht, so kurz vor der Reichstagswahl.«

»Heil Hitler. Ich freue mich sehr, hier zu sein«, sagte ich.

Ein Telefon klingelte, durchs große Fenster sah ich gegenüber einen Giganten lässig über korinthischen Blattblüten lehnen. Er verhöhnte mich mit seiner unmenschlichen Freiheit.

»Haben Sie das Foto, Herr Zie- … Zjo-«, die Sekretärin des Mannes beugte sich vor und streckte die Hand aus. Ihre weich gedrehte Wellenschnecke im zimtfarbenen Haar über der geraden Stirn schimmerte.

»TSCHORÀN«, versuchte ich lautsprachlich von mir zu geben und kramte nach meinem Bild. Alle im Raum summten es sofort nach und für kurz hatte es etwas von einem unheimlichen und dunklen Chor, der eingeschworen wird von einer allgegenwärtigen Augenstimme.

Mein Ausweis wurde ganz fabelhaft, ganz zu schweigen von dem engelshaften Lächeln meiner zärtlich hübschen Züge darauf, die ich von meiner gestörten Mutter geerbt habe, ein Lächeln, von dem ich selbst beglückt war. Auf olivgrün festem Papier und von der schüchternen Handschrift der Mitarbeiterin durchzuckt, war ich nun Student in Berlin. Stipendiat. Meister pro forma. Ein Junge im Flügelmantel des Erwachens aus meiner rumänischen Irrenanstalt von Herkunft, hoffentlich. Hoffentlich sage ich, denn, nun ja, ich bin selbstmordgefährdet. So nennt man das doch hier. Bei uns in Rumänien umschmeichelt man es mit auf den Gipfeln der Verzweiflung. Ich persönlich sage dazu: Ich bin verflucht.

Der Weg zu meiner neuen Bleibe ritzte sich für alle Zeit in meine Brust, ritzte schnell und doch als wäre die Zeit aufgeschnitten und würde ihre eigenen Innereien betrachten. Länglich schwarze Hakenkreuzfahnen am Lustgarten, eingedrungene Fremdkörper an der vernarbten Pracht der Gebäude. Ein Schlauch aus Linden in ein tiefes Universum hinein. Hakenkreuzler am Pariser Platz sammelten sich zu eckig wabernden Formen, zu einer Schweigeminute im Gedenken an die Opfer des Hitlerputsches 1923. Rote Hakenkreuzfahnen die Seitenstraßen ankündigend. Voll belebte Prachtachsen aus Gebäuden, wie aus Rauch geformt. Blumenfrauen, absurd. Nirgends in Europa je so viele auf einmal gehabt. Unaufgeregt aufmerksame SA mit Wahlschildern um die jungen Hälse, die Kappen mit den schwarzen Bändern um die ernst selbstgefälligen, wachen Bullterrier-Gesichter geschnürt, breitbeinig und wortlos.

Litfaßsäulen beklebt mit einem immer und immer und immer wiederkehrenden schwarzen Refrain, einer Art altmeisterlicher Doppelfotografie. Ein ziemlich matter, aufgeweichter, sich im Grunde schon abwendender, alter Hindenburg, bei dem nichts mehr geht und ein anderes Gesicht, ein zweites rechts daneben, das sich scharf gezeichnet heranschmiegt, mit dünn dunklem Haar, einem eigenartigen Glanz auf der Haut und Augen, die sich auf dem Plakat bewegten wie tanzende Messer.

Dämmerndes Trüb fiel in Minutenschleiern herab. Auf mich. Emil Cioran. Der dem wohlerzogenen Otto Krause lauschte, wie er von seinem großen Bruder erzählte, Jurist, vom bald bevorstehenden Generalappell der deutschen Rechtsfront. Der Benno, der hätte mit der Rechtswissenschaft ein feineres Los gezogen, fand Otto, denn das Recht würde man nun ganz bald neu auffassen, von Grunde auf neu, während es in der Medizin ja praktisch nichts zu überdenken gab.

Als wir rechts in die Wilhelmstraße einbogen, ging ein einzelner Herr mit Hut und Mantel, mehrere Zeitungen unterm Arm, vor uns. Otto beschleunigte seinen ohnehin schon gehörigen Schritt mit einem Mal. Als wir auf seiner Höhe waren, zog Otto eine der Zeitungen hervor und warf sie vom Bordstein mitten auf die Straße. Der Mann blieb stehen und blickte ruhig aus dunklen Mandelaugen, glühend, wie aus einer Ferne. Otto, die Hände in den Taschen, grinste ihn an. Ich ein Stück weiter weg. Dann betrat der Herr die Straße, trat noch einmal einen Schritt zurück, denn ein Auto fuhr vorbei, trat...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2022
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Adolf Hitler • Berlin • Emil Cioran • Emil M. Cioran • Gestapo • Nationalsozialismus • Rudolf Diels
ISBN-10 3-608-11939-6 / 3608119396
ISBN-13 978-3-608-11939-8 / 9783608119398
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