Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit (eBook)

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2022 | 1. Auflage
440 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44123-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit -  Maggie Shipstead
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Die van Meters haben zu einer Familienfeier in ihrem Sommerhaus auf einer der vornehmen Ostküsten-Inseln eingeladen. Anlass: Die Hochzeit von Tochter Daphne mit einem vernünftigen jungen Mann. Hummer und Champagner, die Atlantikluft und Geselligkeit bestimmen das Wochenende, aber inmitten der Feierlichkeit treten längst vergessene Unzufriedenheiten und schwelende Begehren zutage. Familienvater Winn Van Meter hat sich sein Leben lang an die Regeln der Oberschicht gehalten, aber nun, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag, muss er seinen eigenen Fehlern und Sehnsüchten endlich ins Gesicht sehen. Ein frischer, witziger und offensiv ehrlicher Roman über die Gefahren, die einem vermeintlich richtigen Leben im falschen innewohnen.

Maggie Shipstead wurde 1983 in Kalifornien geboren und studierte Amerikanische Literatur in Harvard. Anschließend besuchte sie den berühmten Iowa Writers' Workshop, wo Zadie Smith sie unterrichtete. Für ihr Debüt >Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit< erhielt sie den Dylan Thomas Prize. >Kreiseziehen< ist ihr dritter Roman, stand auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und für den Women's Prize for Fiction 2022.

Maggie Shipstead wurde 1983 in Kalifornien geboren und studierte Amerikanische Literatur in Harvard. Anschließend besuchte sie den berühmten Iowa Writers' Workshop, wo Zadie Smith sie unterrichtete. Für ihr Debüt ›Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit‹ erhielt sie den Dylan Thomas Prize. ›Kreiseziehen‹ ist ihr dritter Roman, stand auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und für den Women's Prize for Fiction 2022.

2 · Wassergeburt


Bis er Vater wurde, war Winn davon ausgegangen, er werde Söhne haben. Er hatte fest damit gerechnet, dass Daphne ein Junge war. Wenn er sein Ohr an Biddys Bauch legte, hatte er männliche Stimmen gehört, die von künftigen Lacrossespielen und Skiausflügen zu ihm drangen. Er hatte einen kleinen blauen Blazer mit Messingknöpfen vor sich gesehen, kurzes gerade gescheiteltes Haar und dazu sich selbst, wie er einem Jungen beibrachte, einen Schlips zu binden. Wenn es soweit war, wollte er seinen Sohn nach Harvard fahren, ihm helfen, seine Sachen durch den Yard zu tragen, und die Mitbewohner seines Sohnes und deren Väter mit kernigem Händedruck begrüßen. Sein Sohn würde dem Ophidian Club beitreten, und beim Dinner nach der Aufnahmezeremonie würde Winn seinem Sohn zutrinken, der ein Abbild seines Lebens führen und bei jeder Entscheidung bestätigen würde, wie richtig er selbst gehandelt hatte.

Als das schreiende rote Bündel, das der Arzt zwischen Biddys Beinen hervorzog, unverkennbar weiblich war, traf ihn das vollkommen überraschend. Dieses Kind, das neun Monate in seiner Frau herangereift war, war ein Mädchen. Er, Winn, trug die Saat zu etwas Weiblichem in sich. In den verschlungenen Röhren seiner Samenfabrik gab es, entgegen aller Vernunft, Frauen. Als er sah, wie sich Biddy und Daphne im Krankenhausbett aneinanderschmiegten, ging ihm auf, dass die Annahme, Schwangerschaft und Geburt hätten etwas mit ihm zu tun, ein Irrtum gewesen war. In seiner Vorstellung hatte er durch die Schwängerung seiner Frau dafür gesorgt, dass sie ihm einen Sohn schenkte, der eines Tages seinerseits eine Frau schwängern würde, die ihm einen Sohn schenken würde, und so weiter und so fort bis in die ferne Zukunft der Van Meters. Doch nun war stattdessen dieses kleine Mädchen da, das einen Busen bekommen und den Namen eines anderen Mannes annehmen und neue Sprosse an einem unbekannten Familienstammbaum treiben und ihn auf allerlei Weise verraten würde, wie es ein Sohn niemals getan hätte. Die Verwandlung von Biddys knabenhafter Figur in eine Ansammlung von Sphäroiden, die stille Gemeinschaft, die sie mit ihrem Bauch pflegte, ihr neuer Status unter ihren Schwestern und in ihrer Freundinnenschar – all das hätte ihm sagen sollen, dass er an der Schwelle zu einem Club stand, der ihn nicht haben wollte. Zwar riefen die Frauen: »Du wirst Vaaa-ter!«, und schlossen ihn in die Arme, doch inzwischen war seine Vermutung, dass sie ihn schon die ganze Zeit als das gesehen hatten, was er nun werden würde: das Anhängsel, eine Quelle für zusätzlichen Klatsch, die lahme, aus dem Mittelpunkt der Zuneigung seiner Frau verbannte Ente. Eigentlich hätte seine Überraschung nicht der Tatsache gelten sollen, dass er eine Tochter hatte, sondern dass überhaupt jemals Söhne geboren wurden.

Als Biddy ihm fünf Jahre darauf verkündete, sie sei wieder schwanger, ging Winn sofort davon aus, dass es ein Mädchen würde. Es war ein abgekartetes Spiel. Daphne war so typisch weiblich, dass ihm die Möglichkeit, aus einer neuen Durchmischung von seinen und Biddys Genen könnte ein Junge entstehen, zu abwegig erschien, um sie in Betracht zu ziehen. Biddy erzählte ihm die Neuigkeit morgens im Bett, und er drückte ihr einen festen Kuss auf dem Mund und sagte: »Ja dann!«, um anschließend beim Frühstück hinter der Zeitung versteckt über eine Vasektomie nachzudenken. Er saß am Küchentisch und starrte blind auf die Seiten, als ein gewohntes Rascheln und Klimpern davon kündete, dass Daphne im Anzug war. Sie kletterte auf einen Stuhl und aß rote Weintrauben aus einer Plastiktüte. Im Haar trug sie ein Plastikding mit Glitzersteinen und zinnenartigen Gebilden, und vor der Stuhllehne bauschte sich das Hinterteil ihres Rockes zu einer Wolke aus rosa Tüll.

»Guten Morgen, Daphne. Hast du heute Tanzen?«

Sie blinzelte einmal langsam. »Nein, Tanzen ist mittwochs.«

»Aber ist das denn nicht ein Tanzrock, den du da anhast?«

»Mein Tutu? Ach, das habe ich mir nur so angezogen.«

Winn starrte sie an. Sie erwiderte den Blick und spielte mit den Perlen einer der Plastikketten, die um ihren Hals geschlungen waren. Irgendwie hatte sie sich schon in ihrem geringen Alter einen Vorrat an Sätzen und Wendungen angeeignet, die Biddy als keck und er als absurd bezeichnete, die ihrer Tochter aber dazu verhalfen, in der Vorschule aufzutreten wie eine alternde Salonlöwin. Einmal hatten sie sie eine Woche bei Biddys ältester Schwester Tabitha gelassen und waren allein auf die Turks- und Caicosinseln gefahren. Sie hatten gehofft, beim Spielen mit Tabithas Sohn Dryden würde Daphne sich endlich mal ein wenig die Knie schmutzig machen. Doch als sie wiederkamen, war Dryden mit Modeschmuck behängt, und Daphne steckte ihm gerade Spangen ins Haar.

»Dryden«, sagte Biddy, »du hast dich für die Tageszeit ja schon ganz schön herausgeputzt.«

Der kleine Junge seufzte affektiert. Er klapperte mit den blaubestäubten Lidern und legte sich die gespreizten Finger auf die Brust. »Du meinst das hier? Das ist doch nichts. Der gute Schmuck liegt im Safe.«

Für Winn war Daphne ein fremdes Wesen, eine Schamanin, eine Schlangenbeschwörerin oder charismatische Priesterin, eine Abgesandte aus einer fernen Region menschlicher Existenz. Mit dem Verstand zu wissen, dass sie sein Fleisch und Blut war, reichte nicht, um es auch wirklich zu glauben. Es gab nichts, woran er sie spontan und unwillkürlich als Produkt seines Leibes erkannte. Dabei bemühte er sich durchaus. Er hatte ihre Windeln gewechselt und sie nachts herumgetragen, wenn sie schrie, und matschigen Brei in sie hineingelöffelt. Und natürlich liebte er sie, aber sie wurde ihm mit der Zeit immer fremder, und seine Liebe zu ihr war nicht tröstlich, sondern machte ihn erschreckend durchlässig, als hätte er verborgene Poren, durch die Sehnsüchte und Gefühle von Ausgeschlossensein in ihn eindrangen. Beklommen versteckte er sich hinter seiner Zeitung und stellte sich ein Haus vor, in dem zwei Daphnes, eine Biddy und nur ein Winn lebten.

»Daddy«, kam die hohe Stimme von der anderen Seite des Tisches. »Bin ich eine Prinzessin?«

»Nein«, sagte Winn. »Du bist ein sehr nettes kleines Mädchen.«

»Werde ich irgendwann eine Prinzessin?«

Winn senkte die Zeitung ein wenig und sah sie an. »Das hängt davon ab, wen du heiratest.«

»Wieso?«

»Na, für eine Frau gibt es zwei Möglichkeiten, eine Prinzessin zu werden. Entweder sie wird als Prinzessin geboren, oder sie heiratet einen Königssohn oder einen Fürsten, glaube ich – wobei ich mir nicht sicher bin, ob es überhaupt noch welche gibt. Es ist nämlich so, Daphne, in vielen Ländern, wo es früher Prinzessinnen gab, gibt es keine mehr, weil man dort die Monarchie abgeschafft hat, und ohne Monarchie ist eine Aristokratie sinnlos. In Österreich zum Beispiel wurde das alles nach dem Ersten Weltkrieg abgeschafft. Erbliche Macht ist ungerecht, verstehst du, und sie züchtet Missgunst im einfachen Volk. Kurz und gut, da du nicht als Prinzessin geboren bist, müsstest du einen Prinzen heiraten, und davon gibt es nicht mehr sehr viele.«

Verstimmt steckte sie sich eine Traube in den Mund und wischte sich dann die Finger einzeln an einer Serviette ab. Er nahm seine Lektüre wieder auf.

»Daddy.«

»Was?«

»Bin ich deine Prinzessin?«

»Daphne, bitte.«

»Was?«

»Du klingst wie ein Kind im Fernsehen.«

»Wieso?«

»Weil du so eine Kitschnudel bist.«

»Was ist eine Kitschnudel?«

»Eine, die alles mit Zucker überzieht. Davon kriegt man Bauchschmerzen.«

Sie nickte zustimmend. »Aber«, fragte sie weiter, »bin ich deine Prinzessin?«

»Soweit ich weiß, habe ich keine Prinzessinnen. Was ich habe, ist eine kleine Tochter, der die Würde fehlt.«

»Was ist Würde?«

»Wer Würde hat, benimmt sich so, dass andere Menschen ihn respektieren.«

»Haben Prinzessinnen Würde?«

»Einige ja.«

»Welche denn?«

»Keine Ahnung. Grace Kelly vielleicht.«

»Wer ist das?«

»Sie war eine Prinzessin. Zuerst war sie eine Schauspielerin. Dann hat sie einen Fürsten geheiratet und wurde zur Prinzessin. In Monaco. Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Was ist Monaco?«

»Ein Land in Europa.«

Daphne dachte einen Augenblick nach. Dann fragte sie: »Bin ich deine Prinzessin?«

»Das hatten wir doch gerade«, sagte Winn ungehalten.

Sie sah aus, als überlegte sie, ob es ihren Interessen dienlicher sei, wenn sie lachte oder wenn sie weinte. »Ich will aber deine Prinzessin sein«, sagte sie mit Tränen in der Stimme. Daphne konnte hervorragend weinen, herzzerreißend und äußerst ausdauernd. Sie war ein zierliches Mädchen mit einer sanften Stimme, aber was ihre Gefühle anging, war sie überraschend handfest. Sie setzte ihre Tränen bewusst ein, ebenso wie ihr Lächeln und Schmollen. Biddy nannte sie Lady Macbeth.

Winn duckte sich hinter seine Zeitung und tat, was jetzt verlangt war. »Okay«, sagte er. »Daphne, du bist meine Prinzessin.«

»Wirklich?«

»Ja, ganz bestimmt.«

Daphne nickte und aß eine Weintraube. Dann neigte sie den Kopf: »Bin ich deine Märchenprinzessin?«

Biddy kam gerade aus der Dusche, als Winn nach ihr suchte. Durch die geschlossene Tür hörte er das Wasser aus- und den Duschvorhang aufgehen. Sie summte etwas vor sich hin. »Amazing Grace« vielleicht. Er klopfte kurz und trat ein. Eine Dampfwolke umfing ihn. Vor ihm war Biddys nackter, vom Duschen geröteter Körper, so nahe, dass er die Wärme ihres Rückens und ihre kleinen hübschen Pobacken förmlich spürte. Ein Oval, das auf dem beschlagenen Spiegel frei gewischt war, umrahmte ihre Brüste, ihren...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2022
Übersetzer Karen Nölle
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Älterwerden • amerikanische Elite • Amerikanische Gegenwartsliteratur • Amerikanische Literatur • Atlantik • Bürgerliches Leben • Dylan Thomas Prize • Ehe • Eheroman • Familiengeschichte • Familienroman • Familienvater • Gegenwartsliteratur • Gesellschaftsroman • Gesellschaftssatire • Golfclub • Harvard • Hochzeit • Nervenzusammenbruch • Ostküste USA • Roman USA • Sommerhaus • Tochter
ISBN-10 3-423-44123-2 / 3423441232
ISBN-13 978-3-423-44123-0 / 9783423441230
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