Zehnundeine Nacht (eBook)

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2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61318-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zehnundeine Nacht -  Charles Lewinsky
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Im schäbigen Hotel Palace besucht ein zwielichtiger Geschäftsmann Nacht für Nacht eine alternde Prostituierte und lässt sich von ihr Geschichten erzählen - denn sie hat ein Flair für das Abgründige, nicht nur im Leben, sondern auch in der Erfindung. Elf Nächte lang ersinnt diese moderne Scheherazade die wildesten Märchen und Parabeln - um ihren letzten Kunden, der sich gern König nennen lässt, zufriedenzustellen.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ?Melnitz?. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. ?Der Halbbart? war nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Sein Werk erscheint in 16 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux, Frankreich, und im Winter in Zürich.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman ›Melnitz‹. Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. ›Der Halbbart‹ war nominiert für den Schweizer und den Deutschen Buchpreis. Sein Werk erscheint in 16 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux, Frankreich, und im Winter in Zürich.

»Es war einmal …«, sagte die Prinzessin.

»Hast du etwas zu essen da?«, fragte der König.

»Tut mir leid.«

»Egal«, sagte der König. »Ich kann mir ja nachher eine Pizza bestellen.«

»Es war einmal ein Mann«, fing die Prinzessin noch einmal an, »der wollte sich umbringen. Er ging also zum nächsten U-Bahnhof und stellte sich an den Rand des Bahnsteigs, ganz am Anfang, dort wo die Züge gerade erst aus dem Tunnel kommen und deshalb noch viel Geschwindigkeit haben. Das Sterben würde dann schneller gehen, hatte er sich ausgerechnet.«

»Wenn ich einmal fällig bin«, sagte der König, »will ich das nicht vorher wissen. Einfach umfallen, und, peng, das war’s. Am besten im Bett mit einer Frau. Ein letzter Schuss, und dann ist Schluss. Hast du wenigstens ein Stück Schokolade?«

»Ich mag keine Süßigkeiten.«

»Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt herkomme.«

»Wegen meiner Geschichten«, sagte die Prinzessin.

»Dann quatsch hier nicht rum«, sagte der König, »sondern fang endlich an zu erzählen.«

»Ganz wie du willst«, sagte die Prinzessin. »Es war also einmal ein Mann, der wollte sich umbringen.«

»Warum?«, fragte der König.

»Braucht es dazu einen Grund?«

»Eigentlich nicht«, sagte der König. »Ich weiß nur gern Bescheid.«

»Sagen wir: Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Seine Frau, sein Kind, seine Wohnung. Reicht dir das?«

»Das reicht«, sagte der König. »Jetzt kann ich ihn mir vorstellen: ein typischer Loser.«

Die Prinzessin fuhr mit ihrer Geschichte fort. »Der Mann stand also an der Bahnsteigkante und wartete auf den nächsten Zug. Einen ersten hatte er vorbeifahren lassen, weil er glaubte, er habe im Führerstand jemanden mit langen Haaren gesehen. Einer Frau wollte er die Umstände, die so ein Selbstmord mit sich bringt, nicht antun.«

»Ich sag’s ja: ein Loser.«

»Die nächste Bahn näherte sich. Dem Mann fiel auf, dass der Beschluss, sich umzubringen, sein Gehör geschärft hatte. Noch vor allen anderen Wartenden konnte er das ferne Rattern der Lokomotive erkennen. Er ließ es lauter werden und noch lauter. Auf gar keinen Fall wollte er zu früh springen. Er hatte Angst, dass der Zug sonst vielleicht noch bremsen und ihn nur zum Krüppel machen würde.

Um den richtigen Augenblick zu erwischen, konzentrierte er sich auf einen Fetzen Zeitungspapier, der genau in der Öffnung des Tunnels auf den Schienen lag. Die Luftsäule, die jeder Zug vor sich her treibt, würde ihn in die Höhe wirbeln, im letzten Moment bevor die Lokomotive aus ihrem Loch kam. Das würde sein Signal sein. Dann würde er springen.

Ringsumher hatten jetzt auch alle anderen den Zug gehört, fassten ihre Einkaufstüten und Aktentaschen fester und machten sich zum Sturm auf die Türen bereit. Der Mann bemerkte nichts davon, starrte nur auf den Zeitungsfetzen, und als der losflatterte wie ein lebendiges Wesen, als habe er die herannahende Bahn zu spät entdeckt und versuche jetzt verzweifelt, sich vor ihr in Sicherheit zu bringen, als das Geräusch der Lokomotive schon zu einem Brüllen angeschwollen war, da setzte er sich in Bewegung, sprang mit all seinen Kräften …«

»… und war tot«, sagte der König. »Das wird eine verdammt kurze Geschichte. Außer es kommen Gespenster drin vor.«

»Nein«, sagte die Prinzessin. »Er war nicht tot. Eine Hand hielt ihn an der Schulter fest, sodass er zwar stolperte, aber nicht über die Kante hinaus geriet. Und dann hörte er eine Stimme, die sagte: ›Das hätte ein böses Unglück geben können.‹«

»Ein Schutzengel«, sagte der König.

»Ein gewöhnlicher Mann, der nur ganz zufällig hinter ihm gestanden hatte.«

»Ich hätte ihn springen lassen«, sagte der König.

»Ich weiß«, sagte die Prinzessin.

Der König sah sich im Zimmer um. »Und du hast wirklich nichts zu essen da?«

»Ein Glas saure Gurken muss noch irgendwo sein.«

»Ich bin doch nicht schwanger«, sagte der König verächtlich.

»Soll ich dir was besorgen?«, fragte die Prinzessin.

»Später«, sagte der König. »Jetzt will ich erst die Geschichte hören. Auch wenn sie bisher ganz schön trist war.«

»Sie hört lustig auf«, sagte die Prinzessin. »Das verspreche ich dir.«

Der König streckte sich auf dem Bett aus. »Wir werden sehen«, sagte er.

»Der Mann, der sich nicht hatte umbringen dürfen, schaute sich seinen Retter ohne Dankbarkeit an. Es war nichts Auf‌fälliges an ihm. Ein Bürotyp in Anzug und Krawatte. Gedeckte Farben. Mittleres Kader. Nur seine Brille hatte eine auf‌fällig bunte Fassung. Wahrscheinlich hatte seine Frau sie ausgesucht.

›Geht es Ihnen gut?‹, fragte der Mann.

›Nein‹, sagte der Gerettete. ›Ich lebe noch.‹

›Das tut mir leid‹, sagte der Mann automatisch. Er hatte wohl nicht richtig zugehört. ›Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen.‹ Er rannte los und konnte sich gerade noch in die Bahn zwängen, bevor die Türen zugingen.

Der Lebensmüde sah ihm nach, traurig und ein bisschen wütend. Mit diesem einen missglückten Versuch hatte er all seine Energie verbraucht. Seine Verzweif‌lung war abgenutzt. Für einen zweiten Anlauf würde ihre Kraft nicht reichen. Er wandte sich zum Gehen, zurück zu den Rolltreppen, und stolperte dabei über etwas. Es war ein teurer Aktenkoffer, den sein Retter in der Aufregung des Augenblicks hatte stehenlassen. Er bückte sich danach, öffnete ihn und fand darin …«

»Das ist ein fauler Trick«, unterbrach der König. »In dem Koffer ist natürlich ein dicker Stapel Banknoten. Damit wird er reich und kann sich eine viel jüngere und schönere Frau leisten als die, die ihm davongelaufen ist. Die bringt einen Satz neue Kinder zur Welt, und sie leben glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Happy End. Ist dir wirklich nichts Besseres eingefallen? Du hast den ganzen Tag Zeit gehabt.«

»Nein«, sagte die Prinzessin, »die Geschichte geht anders. In dem Koffer war kein Geld. Nur ein paar uninteressante Geschäftspapiere, eine Zeitung, ein Foto, das eine Frau mit einem Baby auf dem Arm zeigte, eine Agenda und ein sorgfältig wieder eingewickeltes, angebissenes Sandwich. Der Mann war wohl satt gewesen, aber zu sparsam, um den Rest einfach wegzuschmeißen. Der verhinderte Selbstmörder aß das Sandwich zu Ende, obwohl es ihm nicht schmeckte. Er hatte Hunger.«

»Wie ich«, sagte der König.

»Der Lebensretter war unterdessen nach Hause gekommen, hatte seine Frau geküsst, im Kinderzimmer zu seinem Söhnchen ›Kutschikutschiku‹ gesagt und es dann zum Wickeln weitergereicht. Er hatte seine Schuhe aus- und die Pantoffeln angezogen. Jetzt sagte er alle paar Minuten zu seiner Frau, das Versehen sei zwar unangenehm, aber er mache sich deswegen keine wirklichen Sorgen. In der Agenda stünden ja vorne drin sein Name und seine Adresse, ›Finderlohn selbstverständlich‹ habe er eigenhändig daneben vermerkt, da sei es doch vernünftigerweise zu erwarten, dass ihm bald jemand den Aktenkoffer zurückbringen werde. Jedes Mal, wenn er das sagte, antwortete seine Frau: ›Da hast du sicher recht.‹ Die beiden waren schon einige Jahre verheiratet.

Dann hatte der Kleine sein Abendfläschchen ausgetrunken, sein Bäuerchen gemacht und war eingeschlafen. Die Eltern setzten sich gerade zum Abendessen, als es an der Wohnungstür klingelte. Die Frau ging öffnen. Ein Mann, den sie nicht kannte, stand im Treppenhaus, hatte den Aktenkoffer ihres Mannes in der einen und eine vollgestopf‌te Plastiktüte in der andern Hand. ›Wo kann ich mir vor dem Essen die Hände waschen?‹, sagte der Mann.«

»Einfach so?«, fragte der König.

»Einfach so«, sagte die Prinzessin. »Er wartete auch gar nicht darauf, in die Wohnung eingeladen zu werden, sondern drückte der Frau den Aktenkoffer und die Tüte in die Hände und trat ein. Dem Ehemann, der immer noch am Esstisch saß, nickte er durch die offene Tür zu wie einem alten Bekannten und verschwand dann, nachdem er zuerst aus Versehen die Kinderzimmertür geöffnet hatte, im Bad.

›Er hat dir deinen Aktenkoffer gebracht‹, sagte die Frau.

›Genau wie ich erwartet habe‹, sagte ihr Mann.

Sie hörten die Klospülung rauschen. Dann trat der Besucher ins Wohnzimmer. Beim Hereinkommen wischte er sich die feuchten Hände an der Hose ab. ›Ich wusste nicht, welches Handtuch ich benutzen sollte‹, sagte er. ›Ich möchte Ihnen keine Umstände machen.‹

Er rückte sich einen Stuhl zurecht, wieder ohne dass ihn jemand dazu aufgefordert hätte, und setzte sich zu ihnen.

›Danke für den Koffer‹, sagte der Hausherr.

Der Fremde nickte und sagte: ›Ich kann gut verstehen, dass Sie Ihr Sandwich nicht aufgegessen haben. Zu viel Mayonnaise, das ist nicht gesund. Satt bin ich davon auch nicht geworden. Wenn ich die Hausfrau also um ein Gedeck bitten dürf‌te?‹

Als sie nicht reagierte, nickte der ungebetene Gast ein zweites Mal, so als ob er nichts anderes erwartet hätte, und erklärte höf‌lich: ›Ich wäre schon zwei Stunden tot, wenn sich Ihr Mann nicht eingemischt hätte. Also ist er jetzt für mich verantwortlich.‹«

»Und sie haben ihn nicht rausgeschmissen?«, fragte der König.

»Sie wussten nicht, wie sie es anstellen sollten. Die Frau holte einen Teller aus der Küche, Besteck und eine Serviette, und der Mann legte dem unerwarteten Gast Kartoffeln vor, Salat und einen Rollmops. Hausmannskost.«

»Rollmöpse«, sagte der König sehnsüchtig. »Die habe ich schon als Kind geliebt. Aber...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bordell • Erzählkunst • Erzählungen • Künstler • Publikum • Scheherazade • Schweizer Literatur • Tausendundeine Nacht
ISBN-10 3-257-61318-0 / 3257613180
ISBN-13 978-3-257-61318-6 / 9783257613186
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