Schlesenburg (eBook)

Roman
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2022 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-27947-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlesenburg -  Paul Bokowski
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'Wie Paul Bokowski uns rauslockt, zum Spielen in den Hof, in die Sehnsüchte und Abgründe der Kindheit, das ist großes Leseglück.' Bov Bjerg
Schlesenburg wurde sie genannt, unsere Siedlung am Stadtrand, in der im Sommer 89 die Wohnung der Galówka brannte. Sechzig Familien waren wir, fast allesamt aus Polen. Und plötzlich ging die Angst um, jetzt würden hier bei uns Rumänen oder Russlanddeutsche einziehen. Die halbe Burg schaute mit Abscheu auf das Asylbewerberheim, wo sie alle wohnten, und mit zu viel Stolz darauf, dass man es selber hinter sich gelassen hatte. Es war das Jahr, in dem das neue Mädchen in die Siedlung zog, das Jahr, in dem Darius verschwand, in welchem Mutter nur Konsalik las und ich zu spät begriff, dass Vater mit der ausgebrannten Wohnung seine eigenen Pläne hatte...

'Schlesenburg' erzählt von Flüchtlingen und ihren Hiergeborenen, von Heimweh und einer neuen Heimat. Ein so warmherziger wie bittersüßer Roman über den Traum von Anpassung und Wohlstand - und die Frage, wo man hingehört, wenn man nicht weiß, wo man hergekommen ist.

Paul Bokowski, geboren 1982, gehört zur Speerspitze der Berliner Lesebühnenszene. Der Autor, Vorleser und Geschichtenerzähler lebt seit über zehn Jahren in einem der unbeirrbarsten Problembezirke der bundesdeutschen Hauptstadt. Er ist jüngstes Mitglied der Lesebühne »Brauseboys«, Gründungsmitglied der Literaturveranstaltung »Fuchs & Söhne« sowie festes Redaktionsmitglied der Satirezeitschrift »Salbader«. 2012 erschien sein Überraschungserfolg »Hauptsache nichts mit Menschen«. Der 'Woody Allen des Weddings' entstammt einer deutsch-polnischen Familie und ist in seinem zweiten Leben leidenschaftlicher Backblogger.

1


Precz

Bis zum Feuer in der Nummer 11, ich war gerade neun geworden, war die Schlesenburg eine makellose Wohnbausiedlung. Ein blütenweißer Sozialbaukomplex am nördlichen Ende des Breslauer Rings. Nimmt man es genau, war dieser Ring nichts anderes als eine schnurgerade Straße, die nach Süden hin abfiel. Die leichte Steigung machte den Gang zur Arbeit mühseliger als den Weg zu Aldi, was Vater seit jeher als kapitalistisches Kalkül betrachtete. Ich war zwei, als wir in die Schlesenburg zogen. An nichts davor kann ich mich erinnern. Schon gar nicht an das Flüchtlingsheim am südlichen Ende des Breslauer Rings. Eigentlich war es eine Asylbewerberunterkunft. Aber die Zeit, die es brauchte, das Wort in voller Länge auszusprechen, war so lang, dass es aufsummiert eine gut bezahlte Nachtschicht bringen konnte, das Ganze etwas abzukürzen. Außerdem fand es Mutter höhnisch, dass man den Neuankömmlingen gleich am Anfang einen Achtsilber abverlangte. Wir sagten also schlichtweg Lager dazu.

Wenn ich mich im vierten Stock der Schlesenburg in das Geländer presste und die Bäume am Ring keine Blätter trugen, war es mir im Schwindel so, als könne ich das Lager am Horizont erahnen. Aber so waghalsig ich mich später auch über die Brüstung beugte, mit fünf oder sechs oder sieben Jahren, nie wollte mein Blick weiter reichen als bis zum Hallenbad mit seinem führerlosen Sockel. Diesem meterhohen Sandsteinklotz, auf dem früher, vor dem Krieg und im Krieg, ein großer strenger Hitlerschädel in die Altstadt gestarrt hatte, bis er in den letzten Kriegstagen verschwand. Egal wie leichtsinnig ich meinen kleinen Körper auch über dem Abgrund der Erinnerung balancierte. Nur manchmal, ganz selten, konnte ich unten im zweiten Stock unseres Hauses zwei fahle Beine entdecken. Wir Kinder in der Burg gierten immerzu darauf, endlich einen Toten zu sehen. In der Hierarchie der Schlesenburg hätte es mich ein ganzes Stück vorangebracht, dahingehend der Allererste zu sein. Einmal, mit sechs, sah ich im zweiten Stock sogar Brüste, die aber zu rosig glänzten, um eine Tote zu sein. Umgehend verlor ich jedes Interesse und fand es, bis zuletzt, nicht wieder. Der Mehrwert zweier Brüste wollte sich mir damals wie heute nicht erschließen. Auch Vater stand sehr gerne am Balkon. Dass er nicht träumerisch die Aussicht genoss oder wehmütig Richtung Osten starrte, sondern jahrelang und immerfort auf junge deutsche Brüste hoffte, das kam mir erst mit Mitte zwanzig in den Sinn.

Die Nachricht vom Bau der Schlesenburg hatte im Lager wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Mein Vater scharwenzelte fortan wöchentlich um die Baugrube herum, und als der Rohbau endlich stand, schoss er uns bei der ersten Maklerin am Platz die beste Dreiraumwohnung, gleich im ersten Block. Vater hatte wenig Charisma, aber einen basslastigen slawischen Akzent und tiefe braune Augen. Ich muss nicht selbst dabei gewesen sein, um erahnen zu können, wie der Frau die Hitze an den Hals schoss, als sie ihn sah. So war das oft. Einen Mann, der schon zu Ostern eine beneidenswerte Sommerbräune annahm und erst nach Weihnachten wieder erblasste. Wie es ihr vorkam, als wäre da, neben dem Muff nach Heizkörperlack und frischem Estrich, ein zarter Duft von Nadelholz und herbsttrockenem Gras und in der Kopfnote ein braunes Fohlen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die Leute die Symphonie von Kernseife, Graubrot und Papierfabrik missinterpretierten, die Vater nach der Nachtschicht mit nach Hause brachte. Mutter sah die Maklerin, wie ihr die Augen glänzten, wie ihre Haut in Rottönen changierte, wie ihre Hemdbluse sich wölbte und wie sie Vaters leicht debiles Grinsen als Geschäker missverstand. Fortan hasste Mutter diese Wohnung. Aber hin und wieder, wenn sie vom Sliwowitz etwas angetrunken war, dann machte sie meinen Vater nach. Wie er einschlug, damals im Rohbau, mit der zarten toupierten Frau, die in Mutters herrlicher Scharade immer schwärmerischer wurde und kleiner, von Jahr zu Jahr, bis sie ihr irgendwann nur noch ans Kinn reichte. Wie er einfach einschlug, mein Vater, als hätte er soeben einem großporigen polnischen Bauern nach durchzechter Nacht die beste Kuh des Hofes abgeschwatzt. Wie er so plötzlich und grob und über jede Geschlechtlichkeit hinweg mit ihr einschlug, dass in Mutters nachahmender Einlage die Schulterpolster der Maklerin vor Schreck in die Luft sausten. Wie sogar die goldenen Seemannsknöpfe ihres Blazers rotierten, als wären sie besessen. Und Klein-Hannah lag, wenn sie denn schon existierte, auf dem Cordsofa und überschlug sich fast vor Lachen. Ich hatte diese Scharade schon hunderte Male gesehen, und als Mutter merkte, dass es mir zu doof wurde, mit zehn oder elf, da legte sie noch eins drauf. Dann machte Mutter das Gesicht. Sie machte das Gesicht der Maklerin in dem Moment, als Vater mit ihr einschlug. Als er die Spannung zwischen ihm und ihr durchbrach, wie ein Blitz, der sich durch ihre kleine behagliche Atmosphäre aus 8x4, Magie Noire und Haarlack bohrte. Mutter machte das Gesicht einer Frau, die nicht verstand, wie ihr geschah, weil eben nichts geschah. Das Gesicht einer Frau, der man ein leeres Glas ins Gesicht geschüttet hatte. Die vor nichts und wieder nichts ganz fürchterlich erschrak. Die bis ins Mark hinein überrumpelt worden war, von einem rehäugigen Mann, der nicht mal richtig deklinieren konnte, der nichts anderes von ihr begehrte, als einen Mietvertrag, und die sogleich begriff: ach, doch nicht.

Als Frau Mazurka an jenem Morgen im August ’89 den zarten weißen Qualm aus dem gekippten Fenster in der Nummer 11 steigen sah, bemerkte ich tief hinten in meinen Augenwinkeln, wie sie sich bekreuzigte. Ich lag auf den schattigen Garagen. Flach wie ein Seestern mitten auf den harten Kieseln. Von den betonierten Waben kroch mir eine frische Kühle in den Rücken. Zweimal bekreuzigte sie sich. Einmal in Höhe ihres Herzens und ein zweites Mal mittig über ihrem Nabel. Man konnte ihn ganz deutlich unter ihrem Blumenkleid erkennen, da er sich neuerdings nach außen wölbte. Weil das Kind dahinter langsam gar wurde. Es muss erwähnt werden, dass Frau Mazurka sich eigentlich immerzu bekreuzigte. Wenn sie einen Rettungswagen sah; eine schwarze, tote oder einäugige Katze; wenn ihr ein Messer zu Boden fiel oder die Milch kippte; wenn sie in der S-Bahn eine Roma sah; aber auch oft aus Dankbarkeit, wenn ihr Mann nach seiner Tour nicht nach andern Weibern, sondern käsig roch. Einmal, viele Jahre später, sah ich sie bei Aldi, wie sie sich mit einer demütigen Kreuzgeste über die Brust fuhr, nur weil sie im Kühlregal einen rabattierten Speisequark gefunden hatte. Folglich hätte Frau Mazurka keinen großen Unterschied gemacht, auch ohne die Zwillinge Baranowski, die wie jeden Tag um diese Zeit auf dem Bänkchen vor der 11 hockten und beteuerten, dass die Witwe Galówka keineswegs verbrennen, sondern nur die Kohlrouladen von gestern aufbraten würde.

»Wird’s ein Bub?«, fragte der rechte Baranowski.

Aber Frau Mazurka starrte noch immer auf die dünnen Rauchschwaden, die aus dem gekippten Küchenfenster stiegen.

»Wird es ein Bub?«, wiederholte er.

»Mädchen«, sagte Frau Mazurka. Ihr Gesicht glitt herum. Es war immer fahl und vom Warten auf die Niederkunft ermüdet.

»Sie müssen Graupen essen. Und Knoblauch«, sagte der linke Baranowski.

»Roh, sag ich. Immer roh. Dann kriegt das Kind ein Glied.«

Frau Mazurka aber hatte ihre schweren Beine längst wieder in Bewegung gesetzt und schritt mit ihrem fleischigen Tornister schwankend wie ein Pendel die Kiesplatten entlang in Richtung Nummer 15. Sie ging etwas eiliger als sonst, weil Darius, ihr Großer, schon verloren vor dem Wohnblock stand und sich aus Langeweile Ligusterbeeren in den Mund schob. »Ist noch nicht zu spät!«, riefen ihr die beiden Baranowskis hinterher.

Während der Rauch, der aus dem Fensterspalt nach draußen quoll, dicker und dunkler wurde, pulte sich der linke Baranowski mit einem Stück Staniolpapier eine Graupe aus dem Kiefer. Sie war vom Speichel aufgeweicht, also zerrieb er sie zwischen seinen Fingern. Ich war mir sicher, dass er sich jetzt schon darauf freute, die krustigen Reste, nach einer Stunde, vielleicht zwei, einem Ahnungslosen mit einem langen Handschlag mitzugeben.

Von den zahlreichen Weisheiten, die Mutter mir als Kind immer wieder eingebläut hatte, war es fast die eindrücklichste: den Baranowskis nie die Hand zu schütteln.

»Hände waschen!«, brüllte Mutter oft.

»Sind doch«, rief ich.

»Was hast du angefasst?«, rief sie durch die Wohnung.

»Nichts«, beteuerte ich.

»Die tote Ratte in der Einfahrt?«

Das war ein Test. Ganz sicher.

»Welche Ratte?«, rief ich ahnungslos.

»Die Zwillinge?«, erhöhte Mutter.

»Nein!«, brüllte ich.

»Sicher?«

»Ja, sicher!«

»Dann komm essen!«

Niemand in der Schlesenburg wusste zu sagen, wie den steinalten Baranowskis die Ausreise aus dem Mutterland gelungen war. Rein körperlich. Sie hatten jenes biblische Alter erreicht, in dem die Gesichter zu wuchern begannen. In dem Lider und Lippen so sehr an Spannung verloren, dass sie sich fast nach außen kehrten. In dem sich die Ohren nicht mehr darum scherten, was die Nase tat und alle Proportionen auseinanderströmten. Einmal sah ich eine Sendung über Hummer und hatte drei Nächte lang den fürchterlichen Traum, den Baranowskis würde die schuppige Haut quer über dem Kopf zerreißen und herausgeschlüpft aus der alten Hülle kämen zwei frische, rosige Fleischlinge. Gespenstische Kreaturen, die...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1989 • 2022 • Alleine ist man weniger zusammen • Alltagsrassismus • Ausgrenzung • Autobiografischer Roman • eBooks • Flucht und Migration • Hauptsache nichts mit Menschen • Herkunft • Identität • Lesebühnenautor • Neuerscheinung • Polen • Roman • Romane • Sozialbaukomplex • Wenderoman
ISBN-10 3-641-27947-X / 364127947X
ISBN-13 978-3-641-27947-9 / 9783641279479
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