Kinder des Aufbruchs (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
560 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-29668-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kinder des Aufbruchs -  Claire Winter
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Sechs Jahre nach dem Mauerbau lernt die erfolgreiche Dolmetscherin Emma in West-Berlin die aus dem Ostteil der Stadt geflohene Sängerin Irma Assmann kennen. Als sie ihrer Zwillingsschwester Alice davon erzählt, reagiert diese beunruhigt. Alice schreibt als Journalistin über die Studentenbewegung und steht in Kontakt mit verschiedenen Fluchthilfe-Organisationen. Ist Irma mit ihren ehemaligen Beziehungen zum KGB als Informantin im Westen? Oder sind die Schwestern und deren Männer Julius und Max durch ihre Verbindungen zur DDR zu Zielscheiben geworden? Kurz darauf wird die Sängerin ermordet, und die vier geraten inmitten der Studentenunruhen zwischen die Fronten der Geheimdienste.

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben, und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Claire Winters Romane finden sich regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste, zuletzt vertreten mit »Kinder ihrer Zeit«, die spannende Geschichte um die Schwestern Alice und Emma im Berlin der 60er-Jahre wird nun fortgesetzt. Die Autorin lebt in Berlin.

Emma

1

Hinter dem Ernst-Reuter-Platz staute sich der Verkehr. Dabei war sie ohnehin schon spät dran. Zwei Polizeiwagen blockierten eine der Spuren. Emma trommelte mit den Fingern gegen das Lenkrad, während sie beobachtete, wie mehrere uniformierte Beamte aus den Fahrzeugen sprangen und über die Straße eilten. Sie versuchten eine Gruppe Studenten gewaltsam auseinanderzutreiben, die ein Transparent hochhielt: Kein Empfang für den persischen Diktator! Der Schah ist ein Mörder!

Einige ältere Passanten waren kopfschüttelnd stehen geblieben, und es schien erregte Diskussionen zu geben.

Der Besuch des Schahs warf schon seit Tagen seine Schatten voraus. Überall in der Stadt wurden Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Während die Linke, allen voran die Studenten und Studentinnen, Proteste gegen den Besuch des ausländischen Staatsgasts vorbereiteten und das unmenschliche System in dessen Heimatland anprangerten, konnte man in der Boulevardpresse Geschichten über den prunkvollen Lebensstil des Schahs und die extravagante Garderobe seiner Ehefrau Farah Diba lesen, die an Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erinnerten.

Emma verspürte durchaus Sympathie für die jungen Leute, obwohl die ständigen Proteste in der Stadt an ihren Nerven zerrten. Es gab kaum einen Tag, an dem es keine Demonstration gab – ob gegen den Krieg in Vietnam, den Militärputsch in Griechenland, die drohenden Notstandsgesetze oder den Zeitungsverleger Axel Springer. Insgeheim bezweifelte sie, ob man die Weltpolitik auf diesem Wege wirklich verändern konnte. Erleichtert stellte sie fest, dass der Verkehr endlich wieder floss und sie in ihrem hellblauen Käfer an dem Tumult vorbeifahren konnte.

Ein Stück weiter blickte Emma die Bronzeskulptur der Göttin Viktoria entgegen, die hoch oben auf der Siegessäule thronte. Goldelse nannten die Berliner sie mit liebevollem Spott. Den Lorbeerkranz in der einen, den Speer in der anderen Hand schaute sie erhaben über alle hinweg in die Ferne. Nichtigkeiten irdischer Existenzen schienen sie nicht zu interessieren.

Emma fädelte sich in den Kreisverkehr um die Siegessäule ein und schaltete eilig in den nächsten Gang, bevor sie in die Straße des 17. Juni einbog. Links und rechts von ihr erstreckte sich der Tiergarten in üppigem Grün – geradeaus war dagegen die Mauer zu sehen, hinter der das Brandenburger Tor in Ost-Berlin hervorragte.

Der Anblick war in West-Berlin in den vergangenen Jahren zu einer erschreckenden Normalität geworden. Noch immer überlief Emma ein Schauer, wenn sie sich an jenen Tag vor sechs Jahren erinnerte, als die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin um Mitternacht überraschend geschlossen worden war. Nur mit knapper Not war ihr damals mit ihrer Schwester Alice und deren kleiner Tochter Lisa die Flucht zurück in den Westteil der Stadt gelungen.

Sie bog nach rechts ab und warf an der Ampel einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Ihre Frisur saß, und die Schatten unter ihren Augen waren gut abgedeckt. Ein Außenstehender würde ihr vermutlich nichts ansehen. Doch sie schlief schlecht. Elf Monate war es jetzt her. Ein angespannter Ausdruck glitt über ihr Gesicht. Alle glaubten, es ginge ihr inzwischen besser, und zwischendurch hatte sie sich selbst der Illusion hingegeben. Doch mit dem Beginn des Frühlings war der ganze Schmerz wieder mit aller Kraft an die Oberfläche gedrungen. Welches Glück und welche Hoffnung sie im letzten Jahr um diese Zeit verspürt hatte! Das Leben war so intensiv und voller Farben gewesen. Und jetzt? Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte Mühe, morgens aufzustehen.

Emma zwang sich, die Bilder zu verdrängen, die vor ihren Augen aufstiegen. Ihre Hände umfassten das Lenkrad fester. Sie musste den Kopf freibekommen. Wenn sie dolmetschte, brauchte sie ihre gesamte Konzentration. Ihre Arbeit war ihr schon immer wichtig gewesen, in den letzten Monaten aber war sie geradezu lebensnotwendig geworden. Es waren die einzigen Augenblicke, in denen sie alle anderen Gedanken und Emotionen verdrängen konnte, und sie nahm deshalb jeden Auftrag an. Julius hatte sie am Morgen mit einem seltsamen Blick bedacht, als sie ihm erzählt hatte, dass sie heute in einem Waisenhaus dolmetschen würde. Die amerikanischen Alliierten hatten mit einer großzügigen Spende einen Anbau in dem Heim ermöglicht. Und der sollte heute mit einem kleinen Festakt eingeweiht werden.

Emma fuhr an verfallenen Gebäuden und Brachflächen vorbei. Früher einmal hatte sich hier im Tiergarten das vornehme Botschaftsviertel der Stadt mit klassizistischen Villen befunden. Während des Kriegs waren die meisten Häuser jedoch zerstört worden. Da nun Bonn Regierungssitz war, bestand kaum die Notwendigkeit, wieder etwas instand zu setzen. Sie schaute nach rechts zu einem Grundstück, auf dem sich noch einige Ruinen befanden. Hohes Gras umwucherte die Steine, und dazwischen waren junge Bäume und einige Sträucher in die Höhe geschossen. Manchmal trieben sich Obdachlose oder ein paar Jugendliche hier herum. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte die Gegend etwas Unheimliches.

Die Straße, in der sich das Waisenhaus befand, lag nicht weit weg. Beide Seiten des Bürgersteigs waren mit Wagen zugeparkt, sodass Emma ihren Käfer am Rande des Tiergartens abstellen musste. Hastig stieg sie aus und lief das letzte Stück zu Fuß.

Einige Meter vor der grauen Villa mit dem abgeschlagenen Putz bemerkte sie auf der anderen Straßenseite den jungen Mann. Er rauchte fahrig eine Zigarette und starrte zu dem Waisenhaus hinüber.

Emma musterte ihn. Irgendetwas an ihm war seltsam. Vielleicht lag es auch nur an seinem Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Sie sah noch, wie er einen Fotoapparat aus seiner Tasche holte, bevor sie weiter durch das geöffnete Tor eilte.

Im Hof hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge versammelt, und vor einer Tribüne waren mehrere Reihen Stühle aufgestellt worden, auf denen die eintreffenden Gäste – einige Bezirkspolitiker und Journalisten – Platz nahmen.

»Emma!« Eine breitschultrige Gestalt in amerikanischer Uniform winkte ihr zwischen den Leuten hindurch zu.

»Major Carter?«

Erfreut ging sie auf ihn zu. Über die Jahre war sein Haar grau geworden, aber sein Gesicht, durch das sich jetzt Falten zogen, hatte noch die gleiche warmherzige Ausstrahlung wie früher. Emma kannte den Amerikaner, seit sie ein kleines Mädchen war. Ihre Mutter hatte nach ihrer Flucht aus Ostpreußen in Berlin in einem Kiosk gearbeitet, der sich vor dem US-Hauptquartier in Dahlem befunden hatte. Major Carter war damals einer ihrer Stammkunden gewesen und hatte Emma, die ihre Mutter nach der Schule oft bei der Arbeit besucht hatte, nicht nur regelmäßig etwas Süßes geschenkt, sondern ihr auch die ersten englischen Worte beigebracht. In gewisser Weise hatte sie es ihm zu verdanken, dass sie überhaupt Dolmetscherin geworden war.

»What a nice surprise to see you here – was für eine schöne Überraschung, Sie hier zu sehen!«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln. Man hatte ihr lediglich mitgeteilt, dass sie für die amerikanische Kommandantur dolmetschen sollte, aber nicht, dass der Major heute die Rede halten würde.

»Well, it was a short-term decision – es war eine kurzfristige Entscheidung. Bei uns gibt es gerade einen Wechsel in der Führung …«, erklärte er. Wie immer sprachen sie Englisch, da sein Deutsch trotz der Jahre, die er in West-Berlin lebte, nur gebrochen war.

»Das ist Herr Gussmann, der Direktor des Waisenhauses«, stellte er dann einen Mann im Anzug an seiner Seite vor, der ihren Wortwechsel verfolgt hatte. Er trug sein dunkelblondes Haar in einem strengen Seitenscheitel, und seine Oberlippe zierte ein altmodisch nach oben gezwirbelter Schnurrbart.

Der Major deutete auf Emma. »Frau Laakmann, unsere Dolmetscherin.«

»Willkommen!« Der Direktor schüttelte ihr höflich die Hand, als sich ein Mann mit einem Fotoapparat an ihnen vorbeidrängte und gegen sie stieß. Ohne eine Entschuldigung ging er einfach weiter.

Major Carter schaute ihm missbilligend hinterher.

Überrascht erkannte Emma an dem Hut und der Lederjacke, dass er der Mann war, den sie vorhin vor dem Waisenhaus gesehen hatte. Sie verfolgte aus den Augenwinkeln, wie er zu den Kindern ging, die sich hinter den Stuhlreihen der Gäste aufgestellt hatten. Er fragte einen Jungen etwas, der daraufhin die Achseln zuckte. Als ein Erzieher auf die Kinder zukam, wandte sich der Unbekannte ab.

»Nun, ich denke, wir können dann beginnen«, sagte der Direktor. Auf ein Zeichen von ihm ertönte ein Tusch.

Herr Gussmann betrat die Tribüne und hielt eine einleitende, ein wenig geschwollene Dankesansprache, bevor er das Wort an den Major übergab. Emma trat hinter das zweite Mikro und begann, Satz für Satz der englischen Rede zu übersetzen. In seiner warmherzigen Art drückte der Major darin seine Hoffnung aus, dass die Kinder, die hierherkamen, ein Zuhause und einen Hort der Geborgenheit finden würden.

Emma schaute unwillkürlich zu den Schützlingen des Heims, die hinter den Stühlen der Gäste aufgereiht wie Marionetten standen. Sobald eines der Kinder unruhig wurde oder sich rührte, wurde es von dem Erzieher mit einem strengen Blick bedacht und erstarrte in seiner Bewegung. Die frisch gewaschenen Haare und gestärkte Kleidung der Kinder konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass keines von ihnen sonderlich froh oder unbeschwert wirkte, stellte Emma fest, und sie verspürte plötzlich Mitleid. Sie musste...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • 60 Jahre Mauerbau Roman • 68er Bewegung Roman • Berlin • DDR Roman • Die geliehene Schuld • eBooks • Historische Romane • historischer Roman Frauen • historischer Spionageroman • Kalter Krieg Roman • Kinder ihrer Zeit • Neuerscheinung • Ost-Berlin Roman • Republikflucht Roman • Roman • Romane • Stasi Roman • Studentenbewegung Roman • Titus Müller • West-Berlin Roman
ISBN-10 3-641-29668-4 / 3641296684
ISBN-13 978-3-641-29668-1 / 9783641296681
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