Nachleben (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022
384 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29438-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachleben -  Abdulrazak Gurnah
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Der jüngste Roman des Literaturnobelpreisträgers erstmals auf Deutsch: Eine erschütternde, generationsübergreifende Saga über Krieg und Liebe zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Ilyas ist elf, als er aus Not sein bitterarmes Zuhause an der ostafrikanischen Küste verlässt und von einem Soldaten der deutschen Kolonialtruppen zwangsrekrutiert wird. Jahre später kehrt er in sein Dorf zurück, doch seine Eltern sind tot. Ilyas macht sich auf die Suche nach seiner kleinen Schwester Afiya, die bei Verwandten untergekommen ist, wo sie wie eine Sklavin gehalten wird und niemand ihre Talente sehen will. Auch ein anderer junger Mann kehrt nach Hause zurück: Hamza war von seinen Eltern als Kind verkauft worden und hatte sich freiwillig den deutschen Truppen angeschlossen. Mit nichts als den Kleidern am Leib sucht er nun Arbeit und Sicherheit - und findet die Liebe der klugen Afiya. Während das Schicksal die drei jungen Menschen zusammenführt, während sie leben, sich verlieben und versuchen, das Vergangene zu vergessen, rückt aus Europa der nächste Weltkrieg bedrohlich näher ...

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter »Paradise« (1994; dt. »Das verlorene Paradies«; nominiert für den Booker Prize), »By the Sea« (2001; »Ferne Gestade«; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), »Desertion« (2006; dt. »Die Abtrünnigen«; nominiert für den Commonwealth Writers' Prize) und »Afterlives« (2020; dt. »Nachleben«; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. Er lebt in Canterbury. Seine Werke erscheinen auf Deutsch im Penguin Verlag.

Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.

»Nachleben«, der jüngste Roman des Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah, ist die ebenso kluge wie bestürzende Geschichte von Menschen, die im Schatten der kolonialen Weltordnung um ihre Unversehrtheit kämpfen.

»Ein Roman, der mit seinem Humor, seinem Großmut und seiner klaren Vision der unendlichen Widersprüche der menschlichen Natur zum Lesen und Immer-wieder-Lesen einlädt.« Evening Standard

»Gurnah erzählt verdammt großartige Geschichten. Die Sprache ist provozierend einfach, betont schnörkellos und unprätentiös, von einer so schlichten Schönheit, die sich nur jemand erlaubt, der sich nichts beweisen muss.« DIE ZEIT

EINS


1

Khalifa war sechsundzwanzig Jahre alt, als er den Kaufmann Amur Biashara kennenlernte. Zu der Zeit arbeitete er in einer kleinen Privatbank, die zwei Brüdern aus Gujarat gehörte. Von Indern geführte Privatbanken waren die einzigen, die sich auf das Gebaren der einheimischen Kaufleute einließen und Geschäfte mit ihnen machten; alle größeren Geldinstitute legten Wert auf Dokumente, Sicherheiten und Garantien, was den einheimischen Kaufleuten nicht immer passte. Sie verließen sich lieber auf ihre Netzwerke, auf Verbindungen, die für das Auge unsichtbar waren. Die Brüder hatten Khalifa eingestellt, weil er väterlicherseits mit ihnen verwandt war. Verwandt ist vielleicht ein zu starkes Wort, aber sein Vater stammte ebenfalls aus Gujarat, und manchmal war das Verwandtschaft genug. Khalifas Mutter kam vom Land. Sein Vater hatte sie bei der Arbeit auf der Farm eines indischen Großgrundbesitzers kennengelernt, zwei Tagesreisen von der Stadt entfernt, in der er fast sein gesamtes Erwachsenenleben verbracht hatte. Khalifa sah nicht wie ein Inder aus, beziehungsweise nicht wie jene Inder, die man in diesem Teil der Welt zu sehen gewohnt war, denn Haut, Haare und Nase hatte er von seiner afrikanischen Mutter geerbt; aber wenn es ihm gelegen kam, berief er sich gern auf seine Abstammung. »Ja, doch, mein Vater war Inder. Sieht man mir gar nicht an, was? Er hat meine Mutter geheiratet und war ihr immer treu. Manche Inder vergnügen sich mit Afrikanerinnen, die sie dann, sobald sie für eine indische Ehefrau bereit sind, einfach sitzenlassen, aber mein Vater ist immer bei meiner Mutter geblieben.«

Khalifas Vater Qassim war in einem kleinen Dorf in Gujarat zur Welt gekommen, wo es Reiche und Arme gab, Hindus, Muslime und sogar ein paar Habescha-Christen. Qassims Familie war muslimisch und arm, er selbst ein fleißiger, Entbehrungen gewöhnter Junge. Zunächst besuchte er die Moscheeschule in seinem Dorf, später dann eine staatliche Einrichtung in der nächstgelegenen Stadt, wo Gujarati gesprochen wurde. Sein Vater reiste als Steuereintreiber durchs Land; dass Qassim zur Schule ging, um später ebenfalls als Steuereintreiber oder in einem anderen achtbaren Beruf zu arbeiten, war seine Idee gewesen. Qassims Vater lebte nicht mit der Familie zusammen und besuchte sie höchstens zwei- oder dreimal im Jahr, während seine Mutter sich um die blinde Schwiegermutter und die fünf Kinder kümmerte. Qassim war der Älteste und hatte noch einen Bruder und drei Schwestern. Zwei davon, die beiden jüngsten, waren früh gestorben. Hin und wieder schickte der Vater Geld, aber im Grunde waren sie in ihrem Dorf auf sich allein gestellt und mussten jede Arbeit annehmen, die ihnen angeboten wurde. Als Qassim alt genug war, ermutigten ihn seine gujaratisprachigen Lehrer, sich für ein Stipendium an einer englischen Schule in Bombay zu bewerben, und ab dem Moment wendete sich das Schicksal. Sein Vater und andere Verwandte nahmen einen Kredit auf, damit er während seiner Zeit in Bombay möglichst gut unterkam. Nach einer Weile verbesserte sich seine Situation und er konnte zur Untermiete bei der Familie eines Schulfreundes wohnen, der ihm einen Job als Nachhilfelehrer für jüngere Kinder vermittelte. Mit den zusätzlichen Annas, die er auf diese Weise verdiente, kam er über die Runden.

Kurz nach dem Schulabschluss bot man ihm eine Stelle als Buchhalter bei einem Großgrundbesitzer an der afrikanischen Küste an. Die Einladung erschien ihm wie ein Segen, eröffnete sie ihm doch die Möglichkeit, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen und vielleicht sogar ein Abenteuer zu erleben. Sie hatte ihn über den Imam des Dorfes erreicht. Die Vorfahren des Großgrundbesitzers waren vor langer Zeit aus ebenjenem Dorf ausgewandert, und wann immer sie einen Buchhalter brauchten, bestellten sie ihn von dort. Damit wollten sie sichergehen, dass sich ein besonders loyaler und dienstbarer Mensch um ihre Geschäfte kümmerte. Jedes Jahr im Fastenmonat schickte Qassim dem Imam eine bestimmte Summe, die der Großgrundbesitzer von seinem Lohn einbehalten hatte und die für seine Familie bestimmt war. Er sollte niemals nach Gujarat zurückkehren.

Diese Geschichte seiner entbehrungsreichen Kindheit erzählte Qassim seinem Sohn Khalifa oft. Er erzählte sie, weil alle Väter solche Geschichten erzählen und weil er sich wünschte, dass der Junge Ehrgeiz entwickelte. Er brachte ihm das Lesen und Schreiben im römischen Alphabet und die Grundrechenarten bei. Als Khalifa ein bisschen älter war, ungefähr elf, schickte er ihn zu einem Privatlehrer in die Nachbarstadt, der ihn in Mathematik, Buchführung und Englisch unterrichten sollte. Es handelte sich dabei um Vorhaben und Pläne, die Qassim aus Indien mitgebracht, im eigenen Leben aber nie verwirklicht hatte.

Khalifa war nicht der einzige Schüler des Privatlehrers. Insgesamt waren sie zu viert, und alle waren indischer Abstammung. Sie wohnten im Haus ihres Lehrers und schliefen unter der Treppe im Flur, wo sie auch ihre Mahlzeiten einnahmen. Das Obergeschoss durften sie nicht betreten. Der Klassenraum war ein kleines Zimmer mit Bodenmatten und einem vergitterten Fenster hoch oben in der Wand, so hoch, dass sie nicht nach draußen sehen konnten; dafür konnten sie den Abwasserkanal riechen, der hinter dem Haus verlief. Vor und nach dem Unterricht hielt der Lehrer den Raum verschlossen, überhaupt behandelte er ihn wie ein Heiligtum, das sie jeden Morgen vor der ersten Stunde fegen und putzen mussten. Unterricht fand frühmorgens statt, und dann noch einmal spätnachmittags, solange es noch hell war. Dazwischen wollte der Lehrer essen und Mittagsruhe halten, und abends unterrichtete er nicht, um Kerzen zu sparen. In den freien Stunden arbeiteten die Jungen auf dem Markt und am Strand, oder sie streiften durch die Straßen. Khalifa ahnte ja nicht, mit wie viel Wehmut er später an diese Zeit zurückdenken würde.

Er war im selben Jahr zu dem Privatlehrer gezogen, als die Deutschen in die Stadt kamen, und er blieb für fünf Jahre dort. Es war die Zeit des Abushiri-Aufstandes, als arabische und suahelische Küstenkaufleute und Karawanenhändler sich dem deutschen Herrschaftsanspruch über das Gebiet widersetzten. Aber die Deutschen, die Briten, die Franzosen, die Belgier, die Portugiesen, die Italiener und alle anderen hatten längst ihre Konferenzen abgehalten, ihre Landkarten gezeichnet und ihre Verträge unterschrieben, und so fiel der Widerstand nicht weiter ins Gewicht. Die Revolte wurde von Oberst Wissmann und seiner neu gebildeten Schutztruppe niedergeschlagen. Drei Jahre nach dem gescheiterten Abushiri-Aufstand, als Khalifas Zeit bei dem Privatlehrer zu Ende ging, zettelten die Deutschen einen weiteren Krieg an, diesmal gegen die Hehe im fernen Süden des Landes. Auch sie weigerten sich, die Deutschen als neue Herrscher anzuerkennen, und wie sich herausstellte, waren sie ausdauernder als Abushiri. Sie fügten der Schutztruppe unerwartet schwere Verluste zu, woraufhin diese noch entschlossener und grausamer gegen sie vorging.

Zur Freude seines Vaters bewies Khalifa ein großes Talent für Lesen, Schreiben und Buchführung. Auf Anraten des Privatlehrers schrieb der Vater der Bankiersfamilie aus Gujarat, die in derselben Stadt lebte. Der Lehrer entwarf einen Brief, den er Khalifa nach Haus mitgab. Khalifas Vater schrieb den Entwurf ab und überreichte ihn einem Kutscher, der ihn dem Lehrer überbrachte, der ihn wiederum an die Bankiersbrüder weitergab. Alle waren sich einig, dass die Empfehlung des Lehrers hilfreich sein würde.

Sehr verehrte Herren, schrieb der Vater, hätten Sie in Ihrem geschätzten Unternehmen eine Stelle für meinen Sohn frei? Er ist ein fleißiger junger Mann und ein talentierter, wenn auch unerfahrener Buchhalter, der das lateinische Alphabet und die Grundlagen des Englischen beherrscht. Er wäre Ihnen sein Leben lang dankbar. Ihr bescheidener Bruder aus Gujarat.

Einige Monate später bekamen sie eine Antwort, allerdings nur, weil der Privatlehrer zu den Brüdern gegangen war und sie, um seinen guten Ruf zu retten, bekniet hatte. In dem Brief stand: Schicken Sie ihn her, und wir versuchen es mit ihm. Falls er sich gut macht, bieten wir ihm eine Stelle an. Wir Muselmanen aus Gujarat müssen zusammenhalten. Denn wer würde auf uns achtgeben, wenn wir es nicht selbst tun?

Khalifa konnte es gar nicht erwarten, von seiner Familie wegzukommen, die immer noch auf dem Land des Großgrundbesitzers wohnte. Sein Vater war dort als Buchhalter angestellt, und während sie auf die Antwort der Bankiersbrüder warteten, half Khalifa ihm bei der Arbeit: Löhne erfassen, Aufträge schreiben, Ausgaben auflisten und Beschwerden über Zustände entgegennehmen, auf die er keinen Einfluss hatte. Die Landarbeit war schwer, die Bezahlung der Leute dürftig. Oft hatten sie mit Fieber, Schmerzen und Hunger zu kämpfen. Viele Arbeiter versorgten sich teilweise selbst und bestellten ein kleines, ihnen zugeteiltes Stück Land. Auch Khalifas Mutter Mariamu hielt es so und baute Tomaten, Spinat, Okraschoten und Süßkartoffeln an. Der Garten lag gleich neben dem beengten Häuschen der Familie. Manchmal fand Khalifa sein armseliges Leben dort so langweilig und deprimierend, dass er sich nach der Zeit bei dem strengen Privatlehrer zurücksehnte. Als die Antwort der Bankiersbrüder eintraf, war er zur Abreise bereit und fest entschlossen, sich zu bewähren und die Stelle zu bekommen. Er sollte sie elf Jahre lang behalten. Falls die Brüder sich über sein Aussehen wunderten, ließen sie es sich nicht anmerken, sie sprachen Khalifa auch nie darauf an, anders als einige der indischen Bankkunden. Ja doch, er ist einer von uns, ein Guji wie wir, antworten die Brüder dann.

Khalifa war nur ein einfacher Angestellter, der Zahlen ins Kassenbuch...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Übersetzer Eva Bonné
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Afterlives
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika Buch • Bestsellerautor • bestsellerliste spiegel aktuell • Britisches Empire • Deutsch-Ostafrika • Kinderhandel • Kindersoldaten • Kolonialismus • Kolonialzeit • Krieg • Literaturnobelpreis 2021 • Neuerscheinung 2022 • Nobelpreis für Literatur 2021 • Rassismus • Sansibar • Schutztruppe • Tansania
ISBN-10 3-641-29438-X / 364129438X
ISBN-13 978-3-641-29438-0 / 9783641294380
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