So etwas wie Glück (eBook)

Geschichten über die Liebe
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29594-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

So etwas wie Glück -  John Burnside
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Die ganze Verletzlichkeit des Lebens in nur einem Moment?
Was macht eine gute Beziehung aus? Was ist Liebe - und was nicht? John Burnsides Geschichten tauchen in das Leben von Männern und Frauen ein, die - in einer Ehe gefangen, gebeutelt von falschen Erwartungen, dem Alkohol verfallen - alles andere als ideale Paare verkörpern. Untreu, einsam, krank, begegnet man seinen Heldinnen und Helden bevorzugt nachts auf leeren Straßen. Von so etwas wie Glück können sie nur träumen, ihre Gefühle bleiben meist sprachlos. Und doch könnten sie unsere Nachbarn sein.

Burnside ist einer der besten Gegenwartslyriker und zugleich bemerkenswerter Essayist und Romancier. Mit dem vorliegenden Band lässt er sich nun erstmals in deutscher Sprache auch als Autor von Kurzgeschichten kennenlernen. Jede der zwölf Erzählungen der von ihm eigens zusammengestellten Auswahl zeigt die ganze Verletzlichkeit eines Lebens in nur einem Moment - und besitzt dennoch das Gewicht und die Dichte eines großen Romans.

»Ein schottischer Raymond Carver.« Independent

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie - I put a spell on you« (2014) und »What light there is - Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Die Kälte draußen


Als sich der Krebs zurückmeldete, überraschte mich das nicht. Ich machte mir Sorgen wegen Caroline, schließlich war mir klar, dass ich es ihr irgendwann sagen musste, und mich beunruhigte zudem, wie sie es dieses Mal aufnehmen würde. Sogar für Malky tat es mir leid; verlässliche Fahrer sind schwer zu finden, und er ist immer ein guter Chef gewesen. Trotzdem hat es mich nicht überrascht, jedenfalls nicht, als es mir gesagt wurde. Dass irgendwas schieflief, damit hatte ich gerechnet, mindestens seit dem Sommer, als Sall und ich überlegt hatten, nach Montreal zu Caroline zu fliegen, um ihren neuen Freund kennenzulernen, das Vorhaben dann aber wieder aufgaben. Sall wusste, wie gern ich sie wiedersehen würde: Caroline war schon immer Daddys kleiner Liebling gewesen, und seit ihrem Auszug ließ sich nur mit Mühe verhehlen, wie leer sich das Haus ohne sie anfühlte – eine Mühe, zu der ich mich manchmal nicht aufraffen konnte. Sall wusste bestimmt so gut wie ich, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, weshalb sie sich anfangs allen Anschein gab, die Reise zu planen, ehe sie dann davon redete, wie teuer das Ganze war, wie ermüdend es für mich sein würde, nach Glasgow zu fahren und sieben Stunden lang im Flugzeug zu sitzen, um nach alldem auch noch durch Zoll und Grenzkontrolle zu müssen, was meist ewig dauerte. Wie sie darüber redete, hätte man glauben können, sie hätte die Reise bereits gemacht, hatte sie aber nicht. Sie war nie aus Schottland rausgekommen, und was sie da redete, stammte von Caroline, die in den sechs Jahren, seit sie die Stelle in Montreal angenommen hatte, dreimal wieder nach Hause gekommen war. Kurz vor ihrem letzten Besuch hatte sie diesen neuen Freund kennengelernt und mit einigem Nachdruck erklärt, dass wir nun an der Reihe wären, sie zu besuchen.

»Ich weiß, es ist ein weiter Weg«, hatte sie gesagt. »Aber wenn ihr erst mal hier seid, gefällt es euch bestimmt. Das wird ein toller Urlaub, das könnt ihr mir glauben. Außerdem fragt Jim ständig, ob es euch wirklich gibt. Er denkt, ich habe euch bloß erfunden.« Sie hatte gelacht, aber die Einladung war ernst gemeint, auch wenn Caroline, als sie sich damit an uns wandte, Sally kaum ansah, sondern ihren Blick auf mich gerichtet hielt. Seit die beiden nicht mehr im selben Haus zusammenleben mussten, fand Caroline sich mir zuliebe damit ab, ihre Mutter nicht weiter zu beachten. Für sie lief alles auf präzises Management hinaus, darauf, Gelegenheiten zu vermeiden, bei denen etwas gesagt werden könnte, was sich nicht mehr zurücknehmen ließe. Schon vor ihrer Abreise war sie stets wie ein Geist aufgetaucht und wieder verschwunden, nur damit sie nicht mit Sall allein sein musste. Den Grund dafür habe ich nie richtig verstanden. Einmal hörte ich Caroline sagen, ihre Mutter könne in einem leeren Zimmer einen Streit anfangen, aber das war eigentlich nicht fair. Den beiden fiel es einfach schwer, sich zusammenzusetzen, ohne dass gleich irgendeine Unstimmigkeit oder ein Missverständnis aufkam. Unvereinbarkeit zweier Persönlichkeiten, so etwas gibt es häufig und unter allen erdenklichen Umständen, schockierend ist es bloß, wenn es zwischen Mutter und Kind geschieht.

Immer wenn Caroline eine ihrer vagen Einladungen aussprach, hätte ich am liebsten gesagt, wir kommen so bald wie möglich, aber Sall war immer schneller als ich. »Mal sehen« war alles, was sie erwiderte, ehe sie dann anfing, jeden Gedanken an Montreal zu hinterfragen. Das hatte sie den ganzen Sommer über getan, hatte Einwände vorgebracht, Ausreden gesucht und so lange darüber geredet, bis die Reise nicht mehr infrage kam und wir stattdessen für traurige zwei Wochen Regen und Teestuben zu Salls Bruder Tom und dessen zweiter Frau nach Hertfordshire fuhren. Ich begriff, was ablief und sagte mir, angesichts des Verhältnisses, das die beiden zueinander hatten, wäre es so vielleicht am besten, nur machte mir der vorgebliche Urlaub dann doch mehr zu schaffen als erwartet. Anfangs schob ich die Schuld auf meine übliche Enttäuschung über Salls Spielchen und mein Unvermögen, ihr die Stirn zu bieten, doch irgendwann während dieser Zeit, als ich gerade in Stevenage in einem schäbigen Trödelladen herumstöberte, wurde mir klar, dass ich meine letzte Chance vertan hatte, jemals nach Montreal zu reisen.

Dieses Wissen existierte also bereits irgendwo in meinem Hinterkopf und wartete nur darauf, in Worte gefasst zu werden, als der Arzt mir Bescheid gab. Und ich war auch fast bereit, fand mich fast damit ab, so wie es in all den Geschichten, die man sich übers Sterben erzählt, von einem erwartet wird. Nicht vollständig, aber doch beinah; ich wollte bloß noch hören, wie es für mich ablaufen würde, damit ich die Klinik danach verlassen und mit dem Rest meines Lebens fortfahren konnte. Ein paar Monate blieben mir noch, meinte der Spezialist, und ich dachte, dass ich jetzt tun könne, wozu immer ich Lust hatte. Ich war frei. Nur gab es nichts, was ich noch unbedingt tun wollte, höchstens Caroline sehen, und ich wusste, wie Sall jetzt dazu stehen würde. Ich hatte es oft genug gehört: dass ich immer bloß Zeit für mein kleines Mädchen hätte, für niemanden sonst, dass ich sie völlig verzogen hätte. Wenn man Sall so reden hörte, konnte man glauben, was zwischen den beiden ablief, sei allein meine Schuld, aber wenn ich zurückdenke und versuche, eine Erinnerung zu finden, ein Bild, das die beiden glücklich zeigt, ist da nichts. Nicht einmal aus der Zeit, in der Caroline noch ein Baby war. Ich sah mich nur am Fenster des Hinterzimmers stehen, wie ich versuchte, sie in den Schlaf zu wiegen und ihr dabei Weihnachtslieder vorsang, weil das die einzigen waren, deren Text ich kannte; und ich sah uns beide, Caroline etwa sechs, wie wir im Flamingo Park auf Pferden endlos im Kreis ritten, während Sall für sich blieb und uns zusah, mit einem neugierigen, leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht, fast als genierte sie sich oder als wäre ihr etwas peinlich. Ich konnte Caroline über meine schlichten Witze lachen hören, wenn ich sie morgens zur Schule brachte, und ich sah uns im Garten eine Reihe Schneemänner bauen – vier nebeneinander, alle identisch. Deshalb war ich so gern auf Achse, und deshalb machte es mir nichts aus, so bald schon wieder auf der Straße zu sein, denn wenn ich da draußen war, allein für mich, sah ich mir diese Bilder in meinem Kopf an und war zufrieden.

Jedenfalls saß ich am Tag nach der Diagnose wieder hinterm Steuer, lieferte Sirup aus. Ich wäre wohl auch ein, zwei Tage zu Hause geblieben, aber als Malky abends anrief, sagte Sall, mir gehe es gut und ich käme am Morgen wieder zur Arbeit. Ich machte ihr das nicht zum Vorwurf; wir brauchten das Geld. Sicher, ich hätte enttäuscht sein können, weil sie mich nicht zu Hause haben wollte, nicht mal so kurze Zeit, aber ich war nicht enttäuscht. Ich wusste, eigentlich traf sie keine Schuld. Sie verstand bloß nicht, wie man mit so was umging. Noch ehe ich die Klinik verließ, konnte ich spüren, dass sie sich innerlich abwandte, so wie immer, wenn es Probleme gab. Sie zog sich an ihren ureigenen Ort zurück, wie seit jeher, schon seit unserer Hochzeit, als die Dinge anders waren als erwartet und wir uns gestrandet fühlten, sprachlos und unfähig, einander zu berühren oder auch nur anzusehen, allein in der Stille des leeren Hauses mit einem Regal voller verblasster Fotos in farblich aufeinander abgestimmten Shaker-Rahmen, die Sall bei Oxfam gekauft hatte.

Ich mache ihr also keine Vorwürfe. Ich war nur froh, wieder auf der Straße zu sein und nicht zu Hause sitzen und Trübsal blasen zu müssen. Außerdem habe ich Sirup seit jeher gern ausgefahren. Melasse, um genau zu sein. Immer mal wieder geht’s raus aufs Land, und ich liefere die warme, dunkle Brühe an Bauern, die damit das Viehfutter anreichern, den Sirup unter Gerste mischen, um daraus einen süßen, malzigen Brei zu machen, von dem die Tiere gar nicht genug kriegen können. Ich fahre gern auf die Gehöfte, die mitten am Tag so still daliegen, so einsam; und ich unterhalte mich auch gern mit den Bauern, höre mir die Geschichten dieser Männer an, die in all den Jahren ihres Lebens nie irgendwo anders gewesen waren als auf ihrem oft kaum vierzig Hektar umfassenden Land, erwachsene Männer, vom eigenen Besitz in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Ehrlich gesagt, mache ich nichts lieber, als Melasse zu liefern. Es gibt Tage, an denen ist sie so dick, dunkel und zähflüssig, dass man drauf laufen könnte, und wir arbeiten angestrengt, um den Saft in die großen Tanks zu pumpen, die meist so alt und klapprig sind, dass man fürchten muss, sie könnten bald in sich zusammenfallen. Was sie gelegentlich auch tun. An einem wirklich warmen Tag wird eines der Rohre platzen, vielleicht wird auch eine Behälterwand nachgeben, und dann ist überall Sirup: Sirup und dieser Geruch nach Sirup, von dem einem ganz schwindlig wird; so süß ist er und so stark.

Die Arbeit war schwer, aber die Beschäftigung tat gut. So blieb weniger Zeit zum Grübeln. Und als ich an jenem Wintermorgen aufbrach, wusste ich, dass ich mich abends, wenn ich nach einem Tag getaner Arbeit nach Hause käme, besser fühlen würde, da ich mir bewiesen hatte, dass ich noch nicht völlig nutzlos geworden war. Den ganzen Tag, während ich im frostigen Licht die Höfe abfuhr, dachte ich darüber nach, wie ich weitermachen wollte, bis ich nicht mehr weitermachen konnte. Letztlich bleibt dem Mann nur die Arbeit und sein Selbstwertgefühl, das geheime Leben, das er in sich verwahrt und von dem außer ihm niemand etwas wissen kann. So war es schon immer gewesen, auch daheim: Mein wahres Leben blieb getrennt vom Alltäglichen, über das Sall Bescheid wusste oder an dem ihr doch gerade genug lag, um die jeweiligen...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2022
Übersetzer Bernhard Robben
Sprache deutsch
Original-Titel The Future of Snow
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Corine - Internationaler Buchpreis • David Cohen Prize • eBooks • Enttäuschung • Eva Menasse • glister • Juli Zeh • Liebe • Literarisches Quartett • Literarisches Quartett 2022 • Lügen über meinen Vater • Neuerscheinung • Paarbeziehung • Petrarca-Preis • Schottland • Spycher-Literaturpreis • Thea Dorn • Über Liebe und Magie • Wie alle anderen
ISBN-10 3-641-29594-7 / 3641295947
ISBN-13 978-3-641-29594-3 / 9783641295943
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