Was ist dein Schmerz? (eBook)

Gespräche über Trauma, seelische Verletzungen und Heilung
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
368 Seiten
Arkana (Verlag)
978-3-641-29553-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ist dein Schmerz? -  Oprah Winfrey,  Bruce D. Perry
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Wie die Seele wieder gesund wird: berührende Gespräche über Trauma und Transformation.
Wenn wir als Kind nicht das bekommen, was wir für eine gesunde Entwicklung brauchen, zum Beispiel Sicherheit und eine dauerhafte emotionale Verbundenheit, entstehen seelische Verletzungen. Unsere Lebendigkeit wird eingeschränkt, wir können unser Potenzial nicht entfalten oder fühlen uns minderwertig. Oprah Winfrey diskutiert mit dem renommierten Hirnforscher und Kinderpsychiater Bruce Perry die Auswirkungen traumatischer Kindheitserlebnisse. In vielschichtigen und tief persönlichen Gesprächen beleuchten die Autoren, wie sehr diese Erfahrungen unser Leben als Erwachsene prägen. Durch einfühlsame Fragestellungen helfen sie, die Wurzel des Schmerzes aufzuspüren. Uns wird klar, warum wir in bestimmten Situationen so fühlen und so handeln. Auf diese Weise können Kindheitstraumata bewältigt und seelische Verletzungen geheilt werden, damit ein Leben in emotionaler Verbundenheit, Freiheit und Erfüllung gelingt.

Oprah Winfrey, geboren 1954 in Kosciusko, Mississippi (USA), ist die weltweit bekannteste amerikanische Talkmasterin, zudem hat sie sich als Schauspielerin und Unternehmerin einen Namen gemacht. The Oprah Winfrey Show ist die erfolgreichste Talkshow des US-Fernsehens. Sie ist vermutlich die einflussreichste und vermögendste Afroamerikanerin. 2010 wurde sie in die Liste The World's Most Powerful People des Wirtschaftsmagazins Forbes aufgenommen. Für ihre Leistungen in der Medienwelt und ihr humanitäres Engagement wurde sie mit mehrfach ausgezeichent. Ihre Autobiografie 'This Glorious Life' ist ihr sechstes Buch.

Ich erinnere mich, dass Oprah irgendwann zu Beginn unserer Zusammenarbeit sagte: »Sie sind also der Typ, der alles durch die Brille des Gehirns sieht. Denken Sie die ganze Zeit über das Gehirn nach?« Die kurze Antwort lautet: »Fast.« Ich denke viel über das Gehirn nach. Ich bin Neurowissenschaftler und studiere das Gehirn und Stressantwortsysteme schon seit dem Besuch des Colleges. Außerdem bin ich Psychiater, eine Ausbildung, die ich nach dem Studium der Neurowissenschaften absolvierte. Ich habe festgestellt, dass es mir hilft, Dinge aus der Sicht des Gehirns zu betrachten, wenn ich versuche, Menschen zu verstehen.

Als Kinderpsychiater werde ich oft nach beunruhigenden Verhaltensweisen gefragt. Warum verhält das Kind sich wie ein Baby? Kann es sich nicht seinem Alter entsprechend verhalten? Wie kann eine Mutter dastehen und zusehen, wie ihr Freund ihr Kind schlägt? Wie kann jemand ein Kind missbrauchen? Was stimmt nicht mit diesem Kind? Dieser Mutter? Diesem Freund?

Im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, dass scheinbar sinnloses Verhalten einen Sinn ergibt, wenn man sich ansieht, was dahintersteckt. Und da unser Gehirn derjenige Teil von uns ist, der uns das Denken, Fühlen und Handeln ermöglicht, mache ich mir Gedanken über das Gehirn eines Menschen, wann immer ich versuche, ihn zu verstehen. Warum hat er das getan? Was hat ihn dazu veranlasst, sich so zu verhalten? Etwas ist geschehen, was die Funktionsweise seines Gehirns beeinflusst.

Die erste Gelegenheit, diese neurowissenschaftliche Sichtweise zu nutzen, um Verhalten zu verstehen, hatte ich als junger, noch in der Ausbildung befindlicher Psychiater. Ich arbeitete damals mit einem älteren Herrn, Mike Roseman – einem klugen, humorvollen, freundlichen Mann. Mike, ein Veteran des Koreakriegs, hatte an vielen Kampfeinsätzen teilgenommen und zeigte klassische Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), auf die wir später näher eingehen werden. Er litt unter Angst, Schlafproblemen, Depressionen und episodisch auftretenden Flashbacks, bei denen er buchstäblich das Gefühl hatte, sich in einem Kampfeinsatz zu befinden. Er hatte sich darauf verlegt, sich selbst mit Alkohol zu behandeln, und neigte zum Rauschtrinken. Dies trug natürlich zu Konflikten in der Arbeit und in der Familie bei und führte letztlich zur Scheidung und Zwangsverrentung.

Wir hatten etwa ein Jahr lang zusammengearbeitet und Mike hatte seinen Alkoholkonsum ziemlich gut im Griff, doch seine anderen Symptome blieben bestehen. Eines Tages rief er mich völlig aufgelöst an. »Doc, kann ich heute kommen und mit Ihnen sprechen? Es ist wichtig. Und Sally möchte mitkommen.« Sally war eine pensionierte Lehrerin, mit der Mike eine Beziehung hatte. In den vergangenen Sitzungen hatte er viel darüber gesprochen, dass er diese Beziehung auf keinen Fall »vermasseln« wollte.

Da ich die Dringlichkeit spürte, erklärte ich mich einverstanden. Später an jenem Nachmittag kamen die beiden in mein Büro und setzten sich nebeneinander auf die Couch. Sie hielten Händchen. Sally flüsterte Mike leise etwas ins Ohr. Mike sah beschämt aus, und es war klar, dass sie versuchte, ihn zu beruhigen. Sie wirkten wie nervöse Teenager.

Er begann. »Können Sie ihr erklären, was eine PTBS ist? Sie wissen schon, warum ich völlig verkorkst bin.« Tränen traten ihm in die Augen. »Was stimmt nicht mit mir? Korea ist mehr als dreißig Jahre her.« Sally rückte näher zu ihm hin und legte den Arm um ihn.

Ich spürte, dass ich ins Schwimmen geriet – konnte ich die PTBS wirklich erklären? –, sodass ich auswich. »Warum jetzt, Mike, wenn ich fragen darf? Ist etwas passiert?«

»Wir sind gestern Abend aus gewesen. Wir haben schön gegessen und waren dann Richtung Stadtzentrum zum Kino unterwegs. Und plötzlich lag ich bäuchlings zwischen geparkten Autos auf der Straße, die Hände über dem Kopf, und hatte schreckliche Angst. Ich dachte, man würde auf uns schießen. Ich war wohl ziemlich verwirrt. Irgendwann wurde mir klar, dass ein Motorrad eine Fehlzündung gehabt hatte. Klang wie Geschützfeuer. Mein Anzug war an den Knien aufgerissen. Ich war verschwitzt, mein Herz raste. Ich war zu Tode erschrocken, und es war mir unglaublich peinlich. Ich wollte nur noch nach Hause und mich betrinken.«

Sally sagte: »In einem Moment sind wir noch Arm in Arm spaziert, im nächsten ist er zurück in einem Schützenloch in Korea und schreit. Ich wollte mich niederbeugen und ihm helfen, doch er hat mich einfach weggeschubst. Er hat mich geschlagen.« Sie hielt inne. »Es kam mir vor wie zehn Minuten, aber ich glaube, dass es nur ein paar Minuten waren. Sagen Sie mir, wie ich ihm helfen kann.« Sie wandte sich Mike zu. »Ich gebe dich nicht auf.«

»Sagen Sie ihr, was mit mir nicht stimmt«, flehte er.

Es war das Jahr 1985. Die Forschung zur posttraumatischen Belastungsstörung steckte noch in den Kinderschuhen, und ich war ein 29 Jahre alter unerfahrener Psychiater, der sich noch in der Ausbildung befand. Ich hatte keine Ahnung. »Hören Sie«, sagte ich, »ich weiß nicht, ob ich irgendwelche Antworten hierzu habe. Aber ich weiß, dass Mike Ihnen nicht wehtun wollte.«

»Natürlich nicht!« Sally sah mich an, als sei ich ein Idiot – der Idiot, der ich tatsächlich war. Doch obwohl ich nicht viel über klinische Arbeit wusste, so wusste ich doch eine Menge über das Gehirn, das Gedächtnis und die Stressantwort. Ich dachte über die Tatsache, dass Mike auf der Straße in Deckung gegangen war, nicht als Kliniker, sondern als Neurowissenschaftler nach. Was war in seinem Gehirn vorgegangen, als dieses Motorrad eine Fehlzündung hatte? Ich begann, ein klinisches Problem durch die Brille des Gehirns zu betrachten.

»Ich glaube, Teil des Problems ist, dass Mikes Gehirn sich vor vielen Jahren in Korea an eine ständige Gefahr angepasst hat – sein Körper und sein Gehirn wurden hochsensibel für alle Gefahrensignale der Welt und begannen überzureagieren. Um zu überleben, stellte das Gehirn damals im Grunde eine spezialisierte Form der Erinnerung her, eine Verbindung zwischen dem Geräusch von Geschütz- und Granatfeuern und der Notwendigkeit, eine extreme Überlebensantwort zu aktivieren.« Ich hielt inne. »Verstehen Sie, was ich meine?«

Sally nickte. »Er ist schreckhaft.«

»Mike, ich habe des Öfteren gesehen, wie Sie hier in meinem Büro zusammengezuckt und hochgeschreckt sind, wenn eine Tür zugeschlagen wurde oder im Gang ein Rollwagen zu laut geklappert hat. Sie suchen auch immer den Raum ab. Jede kleine Änderung – ob von Aktivitäten, Geräuschen oder Licht – erregt Ihre Aufmerksamkeit.«

»Wenn man nicht den Kopf einzog«, sagte Mike, »war man tot. Wenn man nachts nicht wachsam war, war man tot. Wenn man einschlief, war man tot.« Mit unverwandtem Blick starrte er ins Leere. Nach einem Moment des Schweigens seufzte er. »Ich hasse den 4. Juli [den Unabhängigkeitstag der USA]. Und Silvester. Feuerwerke lassen mich aus der Haut fahren, selbst wenn ich weiß, dass es welche geben wird – mein Herz fühlt sich dann an, als würde es mir aus der Brust springen. Ich hasse es. Danach kann ich eine Woche lang nicht schlafen.«

»Genau. Diese ursprüngliche adaptive und schützende Erinnerung ist also immer noch da. Sie ist nicht verschwunden.«

»Aber er braucht sie nicht mehr«, sagte Sally. »Sie macht ihm das Leben schwer. Kann er sie nicht einfach vergessen?«

»Das ist eine gute Frage«, erwiderte ich. »Das Vertrackte ist, dass sich nicht alle mit diesen Kampfhandlungen verbundenen Erinnerungen in Teilen des Gehirns befinden, die Mike bewusst kontrollieren kann. Lassen Sie mich dies ein wenig erklären.«

Ich zog ein Blatt Papier hervor, zeichnete ein auf den Kopf gestelltes Dreieck und drei Linien, die es in vier Abschnitte teilte. Es war das erste Mal, dass ich das Gehirn auf diese Weise darstellte. 35 Jahre später verwenden wir noch immer dieses Grundmodell, wenn wir vermitteln möchten, wie sich Stress und Traumata auf das Gehirn auswirken.

»Lassen Sie uns den grundlegenden Aufbau des Gehirns betrachten. Es ist wie ein vierschichtiger Kuchen. An der Spitze befindet sich der Cortex, der Teil des Gehirns, der den Menschen ausmacht.« Ich begann, meiner Zeichnung so wie in der hier wiedergegebenen Abbildung verschiedene gehirnvermittelte Funktionen hinzuzufügen.

Abbildung 1

Ein Modell des Gehirns

Hierarchische Organisation des menschlichen Gehirns

Das Gehirn kann in vier miteinander verbundene Bereiche aufgeteilt werden: Hirnstamm, Zwischenhirn, limbisches System und Cortex. Die strukturelle und funktionale Komplexität nimmt von den einfacheren unteren Bereichen des Hirnstamms bis hin zum Cortex zu. Der Cortex ist zuständig für die den Menschen auszeichnenden Funktionen wie Sprechen und Sprache, abstraktes Denken sowie die Fähigkeit, über die Vergangenheit nachzudenken und sich die Zukunft vorzustellen.

Während ich dies tat, erklärte ich: »Die Systeme an der Spitze sind verantwortlich für das Sprechen und die Sprache, das Denken und Planen. Unsere Werte und Überzeugungen sind dort gespeichert. Und ganz wichtig für Sie: Dies ist der Teil des Gehirns, der ›die Uhr lesen‹ kann. Wenn der Cortex ›online‹ und aktiv ist, können wir über die Vergangenheit nachdenken und der Zukunft entgegensehen. Wir wissen, welche Dinge in unsere Vergangenheit gehören und welche in unsere Gegenwart, ja?« Mike und Sally nickten.

»Okay. Sehen...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2022
Übersetzer Ursula Pesch
Zusatzinfo 2c, mit Illustrationen
Sprache deutsch
Original-Titel What Happened to You?
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte 2022 • Ängste • Bessel van der Kolk • Depression • Dr. Peter Levine • eBooks • Familientrauma • Kindheitsverletzungen • Missbrauch • Neuerscheinung • Persönlichkeitsentwicklung • Ratgeber • Resilienz • Selbstermächtigung • transgenerational • Verkörperter Schrecken • Versöhnung
ISBN-10 3-641-29553-X / 364129553X
ISBN-13 978-3-641-29553-0 / 9783641295530
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