Unterwegs im Westerwald (eBook)

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2022 | 1., Originalausgabe
245 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77348-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unterwegs im Westerwald - Hanns-Josef Ortheil
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Der Westerwald ist die Heimat Hanns-Josef Ortheils, die uns in seinen Romanen, Reisebeschreibungen und Essays immer wieder begegnet. Es ist die »Urlandschaft seines Lebens«, die ihn geprägt hat.

In diesem Band lädt er ein, »den Westerwald zu erkunden und in all seinen Nuancen erleben! Eine Region, die nicht mit großen Städten auftrumpft, sondern mit versteckt und abseits gelegenen Orten und weiten Wald- und Wiesenregionen, in denen man kaum einem Menschen begegnet!« Er erzählt von seiner lebenslangen Anhänglichkeit an die ländliche Gegend und porträtiert seine kleinen, ganz persönlichen Oasen. Wir besuchen mit ihm sein Heimatdorf Wissen an der Sieg, erkunden seine Lieblingsgegenden im Westerwald und umwandern die Abtei Marienstatt.



<p>Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in K&ouml;ln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor f&uuml;r Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universit&auml;t Hildesheim. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er 2002 den Thomas-Mann-Preis der Hansestadt L&uuml;beck. Seine Kindheit und Jugend war von der Vorbereitung auf ein Leben als Pianist gepr&auml;gt. Seine ersten Texte schrieb er unter Anleitung seines Vaters in der elterlichen Heimat des Westerwaldes, seiner &raquo;Urlandschaft&laquo;. Noch immer zieht er sich in sein dortiges Elternhaus h&auml;ufig zum Schreiben zur&uuml;ck.</p>

MEIN TRAUM VON WISSEN AN DER SIEG


Auf den ersten Blick ist Wissen an der Sieg ein Ort wie jeder andere im nördlichen Westerwald. Erst wenn man sich länger in ihm aufhält, erkennt man hinter dem neuen Regionalbahnhof einige langgestreckte Hallen, die auf seine besondere Vergangenheit verweisen.

Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war Wissen nämlich ein bedeutender Industriestandort, in dem nacheinander große Werke mit zeitweise mehreren tausend Arbeitern entstanden. Der Eisenerzabbau entlang der Sieg führte zu Gründungen eines Weißblechwerks und eines späteren Kaltwalzwerks, die zu den größten Anlagen dieser Art in Europa gehörten. Sie wurden durch die »Hüttenwerke Siegerland AG« und die »Hoesch AG« betrieben, bis schließlich die »Krupp AG« sie übernahm. In den achtziger Jahren kam es durch die Stahlkrise zu einem Stellenabbau, die letzte Schicht am 30. Juni 1995 bedeutete das Ende einer industriellen Entwicklung, die fast ein Jahrhundert lang den Ort und die Stadt Wissen geprägt hatte.

Einige Zeit lag das Werksgelände brach, bis ein Glücksfall es wiederbelebte und aus ihm etwas Einzigartiges, Besonderes machte. Die »neue Zeit« begann mit dem Kauf und der Sanierung der Hallen durch die Spedition Brucherseifer, die der Stadt Wissen die frühere Reparatur- und Ausbildungswerkstatt als Kulturstandort überließ. Entscheidend war in der Folge die große Eigeninitiative von Wissener Bürgerinnen und Bürgern, die mit Hilfe der Gründung eines »Arbeitskreises Kultur« Schritt für Schritt das Projekt eines »Kulturwerks« vorantrieben, in dem kulturelle Veranstaltungen aller Art stattfinden sollten.

Am 16. Mai 2009 wurde das Kultur WERKwissen eröffnet – und ich erhielt die ehrenvolle Aufgabe, die Festrede zu halten. »Mein Traum von Wissen an der Sieg« wurde zu einer Hymne auf meine Kindheitsheimat, auf das Naturgelände an der Sieg, auf die Menschen, denen ich vor allem in der Kindheit begegnet war, und auf all jene Lieben, die nicht mehr am Leben waren (wie etwa mein zweiter Bruder, der im April 1945 nahe Wissen beim Einmarsch der Amerikaner durch Granaten der deutschen Artillerie ums Leben gekommen ist).

Um der Rede eine utopische (und teilweise auch humoristische) Note zu geben, träumte ich nicht nur den Traum von einer Stadt, sondern erfand einen Ehrengast, den ich mir bei der Eröffnung gern als zweiten Festredner gewünscht hätte. Dabei dachte ich an den Bundespräsidenten, dessen Beitrag die außerordentliche Eigeninitiative der Wissener Bürgerinnen und Bürger hätte anerkennen und würdigen können.

Nicht ahnen konnte ich, dass ich im Mai 2009 nur vorläufig »geträumt hatte«. Denn kurz vor dem zehnten Jubiläum des Kultur WERKwissen im Jahr 2019 kündigte sich zu aller Verblüffung und Überraschung tatsächlich der Bundespräsident (Frank-Walter Steinmeier mit seiner Frau Elke Büdenbender) an, um genau das zu tun, was ich mir bereits 2009 erhofft hatte. Staunend betrat er die große Halle und sang später das hohe Lied auf jene Bürgerinnen und Bürger, die in selbstloser Arbeit und in vielen Freizeitstunden all das hervorgebracht hatten, was heute weit über die Stadt ins Siegerland, die benachbarten Landkreise bis nach Köln ausstrahlt. Durch all diese Aktivitäten ist Wissen an der Sieg inzwischen zu einem der wichtigsten Kulturstandorte von Rheinland-Pfalz geworden.

Mein Traum hat sich also erfüllt, und ich bin stolz, beinahe in jedem Jahr im Kultur WERKwissen als Vortragender oder Lesender auftreten und meinen Beitrag zur neuen Wissener Industriekultur leisten zu können. Die Rede aus dem Jahr 2009 porträtiert meinen Kindheitsraum aus der Vogelflugperspektive und ist angelegt als eine erste Skizze, die ich in späteren Jahren einmal zu einer längeren Erzählung ausarbeiten möchte.

Am frühen Nachmittag traf der Herr Bundespräsident in größter Geheimhaltung aus Berlin auf dem kleinen Flughafen von Katzwinkel ein und machte eine kurze Pause. Mit zwei Begleitern aus dem Präsidialamt, dem Redenschreiber und dem Persönlichen Referenten, zog er sich in die Flughafen-Gaststätte zurück.

Der Referent hatte mich informiert, ich solle draußen vor der Gaststätte warten, der Herr Bundespräsident schaue noch kurz über den Text der Rede, die er – unangekündigt, unverhofft, als unerwartet auftretender Überraschungsgast – zur Eröffnung des Wissener Kulturwerks halten werde. In spätestens einer halben Stunde sei er bereit, mich zu begrüßen und mit mir den Hubschrauber zu besteigen, für einen kurzen, informativen Rundflug über Wissen und seine Umgebung.

Nach knapp einer halben Stunde war es dann wirklich soweit, der Herr Bundespräsident erschien, in Begleitung seines Redenschreibers Sebastian Holtmann, zu dritt stiegen wir nach einer herzlichen gegenseitigen Begrüßung in den Hubschrauber, der auch sofort Richtung Wissen abhob.

»Na, lieber Herr Ortheil, dann legen Sie mal los«, sagte der Herr Bundespräsident, »informieren Sie mich über Wissen und alles, was dazu gehört, und Sie, lieber Holtmann, Sie spitzen bitte gut die Ohren, damit wir vielleicht noch diese oder jene Information in meine Rede einbauen können.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Holtmann da sofort sehr beflissen und beugte sich demonstrativ etwas nach vorn, damit er mich, der ich neben dem Herrn Bundespräsidenten saß, besser verstehen konnte.

Der Hubschrauber flog sehr niedrig, er glitt wie ein großes, monströses Insekt über die dichten Wälder, schwirrte ein wenig in die Höhe und senkte sich nach Überwindung einiger Hügelkuppen langsam: Wissen an der Sieg lag jetzt genau unter uns, wir überkreisten es und schauten hinab.

»Alt-Wissen ist jetzt dort unten im Tal gut zu erkennen, man erkennt den halben Mond, den Kirchplatz an der katholischen Kirche, und das alte Terrain diesseits und jenseits der Siegbrücke, mit der Alten Post und dem Zollhaus«, begann ich, »die moderne Bebauung erstreckt sich dagegen auf Sieben Hügel, nach dem Vorbild der Sieben Hügel Roms.

Schauen Sie, Herr Bundespräsident, schauen Sie auf den Kucksberg, den Alserberg, Hohensayn, die Köttingerhöhe, den Steimel, Hunertskopf und die Blickhauser Höhe, und beachten Sie weiter, wie wiederum sieben Bäche und Flüsse von allen Seiten auf Wissen zuschießen: Der Brölbach, der Wisser Bach, die Nister, der Köttingsbach, der Selbach, der Elbbach, der Gotterbach. Durch all diese Bäche und Flüsse war das Wissener Land schon immer sehr fruchtbar, das alte Wort für Wissen deutet jedenfalls genau darauf hin, auf das Vorhandensein von reichlich Wasser und von gerodetem und für den Ackerbau genutztem Land: Wisnerofanc heißt das Gelände vor etwa elfhundert Jahren, zur Zeit der Karolinger.«

»Imponierend«, sagte da der Herr Bundespräsident und wandte sich erneut kurz nach hinten: »Holtmann, haben Sie das?«

»Ich notiere«, sagte Holtmann, »ich gebe mir Mühe, den Ausführungen von Herrn Ortheil zu folgen, Herr Bundespräsident.«

»Das wasserreiche und fruchtbare Wissener Land schmiegt sich landschaftlich reizvoll in einen Bogen der Sieg«, fuhr ich fort, »so dass es wegen seines hohen Alters und seiner schönen, von Hügeln bekränzten Lage auch Die Perle des Siegerlandes oder Der Stern des nördlichen Westerwaldes genannt wird. Die Lage im Siegbogen ist darüber hinaus eine erneute Parallele zur Lage Roms, denn auch Rom liegt ja bekanntlich im Bogen eines Flusses, jedenfalls drängt sich das historische Zentrum Roms in einen Bogen des Tibers und wird von ihm gerahmt und begrenzt.

Und wie die Römer sich auf den Höhen außerhalb dieses Zentrums ihre Landvillen und Lustgärten bauten, so haben auch viele Wissener ihre Villen und Gärten auf den nahen Hügeln erbaut, ich nenne den Alserberg, die Köttingerhöhe, den Steimel, überall dort und auf vielen weiteren Höhen werden Sie prächtige Anwesen mit geräumigen Zimmern und einladenden Gärten finden, wo die Bewohner passioniert zu leben und zu feiern verstehen.

Was nun das Straßennetz und die geographische Lage in größerem Maßstab betrifft, so führen die weiten Wege nördlich ins Rheinland, nach Köln und zum Niederrhein, östlich nach Siegen, Marburg und Leipzig, südlich nach Frankfurt und westlich nach Bonn, Aachen, Paris. Die Perle des Siegerlandes ist also seit alters her eine Drehscheibe des Verkehrs, die seit dem Bau der Eisenbahnlinie in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein bedeutender Industriestandort wurde.«

»Allerhand«, sagte da der Herr Bundespräsident, »das habe ich nicht vermutet. Und Sie, Holtmann, wussten Sie das, haben Sie das bei Ihren Recherchen bereits entdeckt?«

»Leider nein, Herr Bundespräsident«, antwortete Holtmann, sehr leise, »aber ich habe es jetzt Wort für Wort so notiert.«

»Seit uralten Tagen wurde in diesem Raum nämlich nach Eisenerz gegraben«, erzählte ich weiter, »von hier ging das gute Wissener Eisen in alle Welt, ja zeitweise waren die Transporte von hier derart zahlreich, dass der Bahnhof nicht ausreichte und ein eigener Güterbahnhof gebaut werden musste. Ende der zwanziger Jahre gab es in Wissen und damit in einem Ort mit wenigen tausend Einwohnern die Alte Hütte, die Alfred-Hütte und ein Weißblechwalzwerk mit einem jährlichen Güterumschlag von beinahe 500 000 Tonnen …«

»Unglaublich«, staunte der...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Zusatzinfo Mit zahlreichen Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berichte • Das Kind • das nicht fragte • Deutschland • Die Erfindung des Lebens • Erinnerungen • Hessen • insel taschenbuch 4909 • IT 4909 • IT4909 • Mittelgebirge • Natur • neues Buch • Nordrhein-Westfalen • Reise • Rheinland-Pfalz • Wald • Wanderweg
ISBN-10 3-458-77348-7 / 3458773487
ISBN-13 978-3-458-77348-1 / 9783458773481
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