Eine gemeinsame Sache (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9488-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine gemeinsame Sache -  Anne Tyler
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Wie bei der Familie Tull in 'Dinner im Restaurant Heimweh' und den Whitshanks in 'Der leuchtend blaue Faden' begleitet Anne Tyler in 'Eine gemeinsame Sache' die unvergessliche Familie Garrett im Laufe mehrerer Jahrzehnte. Dabei deckt sie nicht nur Geheimnisse auf, sondern zeigt, wie wir all die subtilen Äußerungen von Liebe, Enttäuschung, Stolz und Ablehnung unserer Nächsten verinnerlichen. Denn schon das Verhalten eines einzelnen Familienmitglieds kann die familiären Beziehungen über Generationen hinweg prägen. Anne Tyler zeichnet ihre Figuren mit feinem Witz, voller Empathie und so nahe am Leben, dass sich jede und jeder im geschilderten Familienleben wiedererkennt.

Anne Tyler, geboren 1941 in Minneapolis, Minnesota, ist die Autorin von 22 Romanen. Sie erhielt den Pulitzerpreis sowie den Sunday Times Award für ihr Lebenswerk. Bei Kein & Aber erschienen von ihr die Bestseller 'Der leuchtend blaue Faden', 'Launen der Zeit' und 'Der Sinn des Ganzen', mit dem sie für den Booker Prize nominiert war. Anne Tyler lebt in Baltimore.

1


Dies trug sich im März 2010 zu, als der Bahnhof von Philadelphia noch eine Anzeigetafel hatte, deren Plättchen bei jeder neuen Gate-Information laut ratterten. Serena Drew stand davor und starrte auf die Zeile, die den nächsten Zug nach Baltimore ankündigte. Warum dauerte es hier so lange, bis sie das Gate bekanntgaben? In Baltimore erfuhr man das viel früher.

Ihr Freund, der neben ihr stand, war entspannter. Nach einem kurzen Blick auf die Tafel hatte er sich in sein Handy vertieft. Jetzt schüttelte er angesichts einer Nachricht den Kopf und scrollte zur nächsten.

Serena und James kamen gerade vom Sonntagsbesuch bei James’ Eltern, Serenas erstem Treffen mit den beiden. Zwei Wochen lang hatte sie sich mit der Frage beschäftigt, was sie anziehen sollte, und sich letztlich für Jeans und Rollkragenpulli entschieden (das Standardoutfit der Master-Studentinnen, das nicht übertrieben bemüht wirkte). Außerdem hatte sie sich überlegt, welche Gesprächsthemen infrage kämen. Es war ziemlich gut gelaufen, fand sie. Seine Eltern hatten sie herzlich begrüßt und ihr sofort das Du angeboten (»George«, »Dora«), und weil Dora wie ein Wasserfall geredet hatte, war der Smalltalk kein Problem gewesen. »Beim nächsten Mal musst du unbedingt die Schwestern von James und ihre Männer und Kinder kennenlernen«, hatte Dora nach dem Essen gesagt. »Wir wollten dich bei deinem ersten Besuch nicht gleich überfordern.«

Beim nächsten Mal. Bei deinem ersten Besuch. Es hatte viel versprechend geklungen.

Doch jetzt war Serena zu schlapp vor Erleichterung, um auch nur das leiseste Triumphgefühl aufzubringen. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.

James und sie hatten sich zu Beginn des neuen Studienjahrs kennengelernt. Er sah so gut aus, dass sie es kaum glauben konnte, als er sie nach dem Seminar auf einen Kaffee einlud. Er war groß und schlank, hatte einen braunen Wuschelkopf und einen kurzen Bart. (Während Serena fast pummelig war und sich ihr sandheller Pferdeschwanz kaum von ihrer blassen Haut abhob.) In den Seminaren saß er lässig zurückgelehnt da, machte sich nie Notizen und schien gar nicht zuzuhören, meldete sich aber plötzlich mit erstaunlich klugen Bemerkungen. Sie hatte befürchtet, er würde sie vergleichsweise dröge finden, doch außerhalb der Uni war er von Anfang an nett gewesen. Sie gingen oft ins Kino und in günstige Lokale, und Serenas Eltern, die in der Stadt wohnten, mochten ihn sehr und hatten James und sie schon mehrmals zum Abendessen eingeladen.

Der Bahnhof von Philadelphia machte mehr her als der von Baltimore. Er war riesig, und an der hohen Kassettendecke hingen längliche Lampen, die an umgedrehte Wolkenkratzer erinnerten. Auch die Reisenden wirkten einen Tick vornehmer als die in Baltimore. Serena sah sogar eine Frau mit einem eigenen Gepäckträger, der ihr das Kofferset hinterherschob. Während sie das Gepäck bewunderte (dunkelbraunes, glänzendes Leder mit Messingbeschlägen), fiel ihr Blick auf einen jungen Mann im Anzug, der stehengeblieben war, um den Wagen vorbeizulassen. »Oh«, sagte sie.

James blickte von seinem Handy auf. »Hm?«

»Ich glaube, das ist mein Cousin«, sagte Serena kleinlaut.

»Wo?«

»Da drüben. Der im Anzug.«

»Du glaubst, er ist dein Cousin?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.«

Sie betrachteten den Mann. Er wirkte älter als James und Serena, wenn auch nicht wesentlich (vielleicht lag es am Anzug), und hatte Serenas helles Haar und ihren spitzen Amorbogen. Doch während ihre Augen das in der Familie Garrett typische Blau aufwiesen, waren seine von einem fast durchsichtigen Grau, das auch aus mehreren Metern Distanz auffiel. Der Gepäckwagen war inzwischen vorbeigerollt, doch der Mann ging nicht weiter, sondern hob den Blick zur Anzeigetafel.

»Ja, das könnte Nicholas sein«, sagte Serena.

»Vielleicht sieht er ihm nur ähnlich«, meinte James. »Wenn er es wirklich wäre, würdest du ihn mit Sicherheit erkennen.«

»Wir haben uns länger nicht gesehen. Er ist der Sohn von David, dem Bruder meiner Mutter. Sie wohnen hier in Philly.«

»Geh hin und frag ihn. Was ist schon dabei?«

»Und wenn ich mich geirrt habe, stehe ich blöd da.«

James kniff die Augen zusammen und sah sie verständnislos an.

»Jetzt ist es sowieso zu spät«, sagte Serena, denn der Mann, wer immer er war, hatte die benötigte Information offenbar gefunden. Er drehte sich um, zog den Tragegurt seiner Reisetasche ein Stück höher auf die Schulter und schlug den Weg zur anderen Seite des Bahnhofs ein. Serena sah noch einmal auf die Anzeigetafel. »An welchem Gate fährt der Zug normalerweise ab? Vielleicht riskieren wir es einfach und gehen schon mal hin.«

»Er fährt nicht gleich los, sobald das Gate bekannt ist«, erklärte James. »Man muss sich oben an der Treppe anstellen und warten.«

»Aber dann finden wir vielleicht keine Plätze nebeneinander.«

Er grinste auf die verschmitzte Art, die sie so liebte. »Typisch du«, sollte das heißen.

»Schon gut, ich mache mir mal wieder zu viele Gedanken.«

James wechselte das Thema. »Den eigenen Cousin erkennt man doch auch, wenn man ihn länger nicht gesehen hat!«

»Erkennst du alle deine Cousins und Cousinen, wenn sie unerwartet vor dir stehen?«

»Ja.«

»Sicher?«

»Na klar!«

Sie bemerkte, dass er das Interesse an der Sache schon wieder verloren hatte. Er sah zum Imbissbereich auf der anderen Seite und sagte: »Ich könnte eine Limo vertragen.«

»Kannst du dir im Zug kaufen.«

»Willst du auch was?«

»Ich warte, bis wir im Zug sind.«

James verstand nicht, worum es ihr ging, denn er sagte »Wenn sie das Gate bekanntgeben, bevor ich zurück bin, stellst du dich schon mal an« und zog unbeschwert los.

Sie waren noch nie zusammen weggefahren, nicht mal für einen kleinen Tagesausflug wie diesen. Serena war etwas enttäuscht, dass er ihre Reiseangst nicht teilte.

Kaum war sie allein, holte sie ihre Puderdose aus dem Rucksack und überprüfte ihre Zähne im Spiegel. Zum Nachtisch hatte es eine Art Obstcrumble mit gehackten Walnüssen gegeben, die sie noch immer im Mund spürte. Normalerweise wäre sie kurz in die Gästetoilette verschwunden, doch die Zeit war knapp geworden – »Oh, oh, euer Zug!«, hatte Dora gerufen –, und sie waren Hals über Kopf zum Bahnhof aufgebrochen. James’ Vater hatte am Steuer gesessen, James daneben, Dora und Serena hinten. »Damit wir Frauen uns in Ruhe unterhalten können«, wie sich Dora ausgedrückt hatte. In dem Gespräch hatte Dora erwähnt, dass Serena unbedingt James’ Schwestern kennenlernen müsse, und dann gefragt: »Wie viele Geschwister hast du eigentlich, meine Liebe?«

»Nur einen Bruder, aber der war bei meiner Geburt fast erwachsen. Ich habe mir immer Schwestern gewünscht.« Serena war rot geworden, weil es möglicherweise so geklungen hatte, als wäre sie darauf aus, in James’ Familie einzuheiraten.

Dora hatte sie halbherzig angelächelt und ihr die Hand getätschelt.

Doch Serena hatte es wörtlich gemeint. In dem gemütlichen kleinen Zuhause bei ihren Eltern hatte sie ihre Schulfreundinnen immer um deren große, lebhafte Verwandtschaft beneidet, die aus dem Lachen nicht herauskam und um Raum und Aufmerksamkeit rivalisierte. Einige hatten sogar Halbgeschwister und Stiefmütter oder Stiefväter, die sie in Anspruch nahmen, solange es ihnen passte, und mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollten, sobald es schlecht lief – so wie Kinder reicher Leute völlig annehmbares Essen wegwarfen, während die Hungerleidenden sehnsüchtig zusahen.

Warts ab, sagte sie sich. Wer weiß, wie deine zukünftige Familie mal aussieht!

Der Anzeigetafel zufolge hatte der Zug nach Baltimore fünf Minuten Verspätung, was wahrscheinlich eher fünfzehn bedeutete. Und das Gate fehlte noch immer. Serena drehte sich um und hielt Ausschau nach James. Da war er auch schon, Gott sei Dank. Er kam mit einem Trinkbecher in der Hand auf sie zu. Und neben ihm, einen halben Schritt hinterher, ging der Mann, von dem sie dachte, er könnte ihr Cousin sein. Sie blinzelte verwundert.

»Schau, wen ich mitgebracht habe!«, sagte James, als er bei ihr angekommen war.

»Serena?«, fragte der Mann.

»Nicholas?«

»Hey!« Er streckte ihr die Hand entgegen, überlegte es sich anders, beugte sich vor und schlang unbeholfen einen Arm um ihre Schulter. Er roch nach frisch gebügelter Baumwolle.

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Ich bin auf dem Weg nach New York.«

»Ach so.«

»Zu einem Meeting morgen früh.«

»Aha.« Wahrscheinlich ein Geschäftstermin. Sie hatte keine Ahnung, was er beruflich tat. »Wie gehts deinen Eltern?«

»Gut. Aber sie werden natürlich nicht jünger. Mein Dad braucht wahrscheinlich ein neues Hüftgelenk.«

»Mist.«

»Ich habe ihn am Zeitungskiosk entdeckt«, sagte James auf den Zehen wippend. »Ich bin einen Meter hinter ihm stehen geblieben und habe ganz leise ›Nicholas?‹ gesagt.« Er wirkte höchst zufrieden mit sich.

»Ich dachte zuerst, ich hätte es mir eingebildet, und habe zur Seite geschielt, ohne den Kopf zu bewegen –«

»Den eigenen Namen nimmt man eher wahr«, erklärte James. »Hätte ich beispielsweise ›Richard‹ gesagt, hättest du es wahrscheinlich gar nicht gehört.«

»Meine Mom hat auch Probleme mit der Hüfte«, sagte Serena zu Nicholas. »Ist vielleicht genetisch bedingt.«

»Deine Mutter...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2022
Übersetzer Michaela Grabinger
Sprache deutsch
Original-Titel French Braid
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanische Literatur • Beziehungen • Familie • Familiengeschichte • Familienprobleme • Familientreffen • USA • Verwandtschaft
ISBN-10 3-0369-9488-2 / 3036994882
ISBN-13 978-3-0369-9488-8 / 9783036994888
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