Alissa kauft ihren Tod (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2022
304 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27343-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alissa kauft ihren Tod - Ljudmila Ulitzkaja
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Klug und warmherzig, voll Witz und Lakonie - Erzählungen von Ljudmila Ulitzkaja, der 'Grande Dame der russischen Literatur'. (Zeit Online)
Ljudmila Ulitzkaja beeindruckt mit diesem großen Erzählungsband: Eine Aserbaidschanerin und eine Armenierin überwinden in einer langjährigen Liebesbeziehung die Feindschaft ihrer Völker. Eine junge Moskauerin wird mit einem Iraker verkuppelt und findet ihr Glück im englischen Exil. Eine Frau verpuppt sich und wird zum Schmetterling. Ulitzkajas Alltagsgeschichten sind nie alltäglich, sie eröffnen immer neue Perspektiven. Was ist Schicksal, was Charakter? Welchen Einfluss haben wir auf das, was uns widerfährt? Von realistisch-brillanten Novellen über Szenen am Lebensende bis zu Biografien im Zeitraffer vervollkommnet sie ihre Meisterschaft, menschliche Schicksale erzählend zu verdichten.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021), Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022) und zuletzt Die Erinnerung nicht vergessen (2023). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2020 den Siegfried Lenz Preis sowie 2023 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und den Günter-Grass-Preis.

Drache und Phönix


Als nur noch eine Woche blieb, was jedoch niemand wissen konnte, bat Sarifa Mussja, eine bestimmte Nummer zu wählen, die sie ihr sogleich diktierte.

»Du hast wirklich ein unglaubliches Gedächtnis«, sagte Mussja zum tausendsten Mal bewundernd.

Sarifa, an diese Bewunderung längst gewöhnt, sagte nur ziemlich streng: »Verbinde mich.«

Sie hatte zwar einen Sekretär, doch Mussja erfüllte dessen Aufgaben besser als jeder Sekretär. Auch ihr Englisch war besser als das des Sekretärs und eindeutig besser als das von Sarifa. Genau wie ihr Russisch und ihr Französisch; seit einiger Zeit konnte sie sogar Griechisch, was nun jedoch keine Rolle mehr spielte.

Mussja wählte die Nummer mit der ihr unbekannten Vorwahl, ein Mann meldete sich mit einem langgezogenen, melodischen »Hallou«, und Mussja hielt den Hörer direkt an Sarifas Ohr, damit diese sich nicht aufrichten musste. Sarifa antwortete auf Aserbaidshanisch, und ihre Stimme wurde kräftiger und zugleich zärtlich. Mussja verstand die Sprache ein wenig, obwohl sie sie nie gesprochen hatte — sie hatte in einer damals friedlichen armenisch-aserbaidshanischen Kleinstadt eine russische Schule besucht, in der nur die Hälfte der Schüler Russen gewesen waren, die andere Hälfte Armenier und Aserbaidshaner, Kinder der gebildetsten Leute der Stadt, die wussten, dass eine gute Ausbildung nur in Russland zu bekommen war. Bei Schulabschluss konnten die Kinder fast so gut Russisch wie ihr Lehrer Alijew, ein Russophiler und glühender Kommunist. Ursprünglich war es eine rein russische Lehranstalt gewesen, zudem die erste für Mädchen in ganz Karabach. Als Mussja sie besuchte, waren die Lehrer allesamt alt, wie Museumsstücke. Eines war Lehrern und Schülern dieser Schule gemeinsam: Das Bemühen um die Feinheiten der Sprache von Puschkin und Tolstoi milderte die Differenzen zwischen Armeniern und Aserbaidshanern, denn in einem waren beide gleich: Sie gehörten nicht zur großen russischen Kultur. Sarifa hatte dieselbe Schule abgeschlossen, allerdings acht Jahre vor Mussja, kennengelernt hatten sie sich erst Jahre später in Moskau.

Ihre Heimatstadt in Karabach war seit eh und je dezent, aber deutlich in einen oberen und unteren, einen armenischen und einen aserbaidshanischen Bezirk geteilt gewesen, und das Leben kreiste wie auf dem Land um den eigenen Hof, die eigene Straße. Hin und wieder kam es zu gemischten Ehen, und das war jedes Mal etwas Besonderes, ein Ereignis, das unter Nachbarn und Verwandten hohe Wellen schlug. Warum diese Aufregung? Oh, das ist ein Thema für sich … Ehen mit Russen brachten das Blut merkwürdigerweise weniger in Wallung.

Mussja lauschte dem Gespräch. Offenbar wollte Sarifa, dass ihr Bruder herkam, sie erwähnte den nächstgelegenen Flughafen. Außerdem bat sie den Bruder um etwas, doch worum, verstand Mussja nicht, sie erhaschte das Wort »Drache«, war sich jedoch unsicher. Was für ein Drache? Zum Schluss sagte Sarifa auf Russisch: »Komm her, Said. Und beeil dich.«

Mussja nahm das Telefon an sich. Sarifa untersagte ihr zu weinen. Beide schwiegen. Mussja legte ihre porzellanweißen Hände auf den kleinen Ablagetisch des Krankenhausnachtschränkchens und ließ lautlos Tränen darauf tropfen.

Es war fast zwei Jahre her, seit bei Sarifa diese verfluchte Krankheit ausgebrochen war. Erst war sie in München behandelt und operiert worden, dann waren sie nach Israel gezogen, dort hatte sie Bestrahlung und Chemotherapie bekommen, nun lebten sie auf Zypern, wo Sarifa schon vor langer Zeit ein Haus für glückliche Sommer gekauft hatte. Jede für sich hatte wortlos ihre eigene Entscheidung getroffen: Sarifa kämpfte bis zum Letzten, und Mussja, die nicht mehr an Ärzte glaubte, hatte sich mit zwei armenischen Hexen eingelassen, ältlichen Schwestern, die von Kopf bis Fuß in Gold gefasst waren, und nachts, wenn Sarifa sie nach Hause schickte, damit sie ein wenig schlief, sprach sie heimlich per Skype mit den beiden. Sie hatte ihnen eine schwierige Aufgabe gestellt — nicht die Heilung von Sarifa, sondern die komplizierte Operation eines Seelentauschs. Die Schwestern hatten ihr ein besonderes Öl geschickt, zum Einreiben der Beine. Margo, die ältere Schwester, behauptete, ein solcher Tausch sei möglich — sie hätten mal eine Mutter gehabt, die anstelle ihres Sohnes gestorben sei. Ihr Zauber habe auf folgende schlaue Weise gewirkt: Der Junge überlebte, Professor Worobjow in Moskau konnte seine lebensgefährliche Blutkrankheit heilen, die Mutter aber geriet unter eine Straßenbahn, sie wurde überfahren, sobald ihr Sohn geheilt war.

Mussja hatte am Moskauer Pädagogischen Institut studiert, sie war literarisch gebildet und belesen, deshalb verwies ihr Gedächtnis sofort auf Berlioz: Zauberei, eine Straßenbahn, Öl.*1

»Er war ein guter Junge, ist zur Armee gegangen, aber jetzt sitzt er im Gefängnis«, sagte die eine Schwester, und die andere unterbrach sie: »Verbreite keine Gerüchte. Es gibt Wunder, jawohl, die gibt es!«

Drei Monate lang wurde es immer schlechter, und es geschah kein Wunder. Mussja fasste einen Plan: Sollte der Tausch nicht zustande kommen und Sarifa sterben, wollte sie selbst ihr folgen. Straßenbahnen gab es in ihrer zyprischen Stadt zwar nicht, aber dafür das Meer, das direkt unter ihren Fenstern rauschte und seine vielfältigen Dienste anbot, und auch der gute alte Strick war noch immer eine Möglichkeit. Warum sich Sarifas Glück — oh, sie hatte ihr Leben lang so viel Glück gehabt! — von ihr abgewandt hatte und das Schicksal nun mit einem Schlag alles einfordern wollte, was ihr so großzügig zugefallen war, darüber dachte jede für sich im Stillen nach. Doch während Sarifa herauszufinden suchte, wo sie einen Fehler gemacht hatte, mengte Mussja in ihre Gedanken archaische Motive wie Feuer, Blut und Wasser, die in einem bestimmten Verhältnis gemischt sein mussten, aber da fand sich kein Fehler, nur bedrückende Ausweglosigkeit.

»Hör auf zu schniefen. Iss lieber was, hier, Katja hat gefüllte Weinblätter mitgebracht.«

Katja war die aus Moskau geholte beste Haushaltshilfe der Welt. Sarifa legte stets Wert auf das Allerbeste, sie verstand etwas von Uhren, Brillanten, Schreibgeräten, Autos — und von Menschen.

Nun weinte Mussja erst recht los. Schon seit einer Woche aß Sarifa nicht mehr, keinen Bissen, sie trank nur noch ein wenig, und die Flüssigkeit, die in den Plastiksack an ihrem Bett tropfte, war nicht mehr rosa, sondern blutrot. Wieder gingen Mussja vage archaische Gedanken durch den Kopf: Blut-Seele-Leben flossen heraus, und durch den Tropf rann eine Nährlösung hinein, eine Art trübes Wasser. Wenn es nach ihr ginge, würde sie ihr gesamtes Blut spenden.

»Iss, und ich muss noch einen Anruf erledigen«, befahl Sarifa. »Was Geschäftliches.«

»Geschäftlich?«, fragte Mussja besorgt.

Diese bezaubernde Naivität — Mussjas absolutes Unverständnis für die geschäftliche Seite des Lebens — hatte Sarifa an ihr schon immer gemocht. Sie strich über das seidenweiche Bein ihrer Freundin. An Mussjas Körper war kein einziges Haar, schon als junges Mädchen war sie von der Großmutter angehalten worden, die Haut mit Bimsstein zu schrubben, bis sie makellos glatt war.

Sarifa hatte nach einer langen Phase körperlichen Abbaus plötzlich einen Energieschub. Sie zeigte erneut auf das Telefon.

»Ruf Shenja Raichman an, sag, sie soll herkommen, sich verabschieden …«

»Nicht doch … was sagst du denn da … wieso verabschieden …«

»Sag ihr, was du willst, aber sie soll herkommen. Heute Nacht bleibt Katja hier bei mir, du hast drei Nächte nicht geschlafen, geh nach Hause, ruh dich aus. Komm gegen Mittag wieder, und um elf schick Katja her.«

Vor zwölf Jahren hatten sie geheiratet, in Amsterdam. Sarifa hatte diesen Plan lange mit sich herumgetragen und alles gut vorbereitet: ein Bleiberecht in den Niederlanden erwirkt, eine Filiale ihrer juristischen Firma eröffnet und schließlich ein gemütliches Haus in...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Übersetzer Ganna-Maria Braungardt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Body of the Soul (O tele dushi, AST, Moskau 2019) / Pervye i poslednie (Eksmo, Moskau 2002)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Emigration • Erzählungen • Frauen • Freundinnen • Körper • Kürzestgeschichten • Miniaturen • Russland • Schicksal • Seele
ISBN-10 3-446-27343-3 / 3446273433
ISBN-13 978-3-446-27343-6 / 9783446273436
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