Ocean State (eBook)

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2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01147-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ocean State -  Stewart O?Nan
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Über Schwestern, Mütter und Töchter - und die schrecklichen Dinge, zu denen uns die Liebe treibt: Westerly, eine heruntergekommene Arbeiterstadt in Rhode Island, dem kleinsten Bundesstaat der USA. Eine Highschool-Schülerin wird umgebracht; Birdy hatte sich in den falschen Mann verliebt. Die Mörderin: ihre Mitschülerin Angel. Täterin und Opfer verband die Liebe zu Myles, Sohn wohlhabender Mittelschichtseltern, und die Hoffnung, dem Elend ihrer Herkunft zu entkommen. «Ocean State» erzählt die Vorgeschichte und die Folgen des Mordes aus wechselnden Perspektiven. Da ist Angel, die Täterin, Carol, ihre alleinerziehende Mutter, und Birdy, das Opfer - drei Menschen, deren Schicksale in einem ebenso tragischen wie unvermeidlichen Höhepunkt zusammenlaufen. Beobachterin bleibt Angels jüngere Schwester Marie. Stewart O'Nan zeichnet ein einfühlsames Porträt dieser Mädchen und Frauen am unteren Ende der Gesellschaft. Tiefgründig und bewegend, ein mitreißender Roman über das Leben der Armen in einem System, das den Reichen dient.

Stewart O'Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche von der Kritik gefeierte Romane, darunter «Emily, allein» und «Die Chance», und eroberte sich eine große Leserschaft. Stewart O'Nan lebt in Pittsburgh. 

Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche von der Kritik gefeierte Romane, darunter «Emily, allein» und «Die Chance», und eroberte sich eine große Leserschaft. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh.  Thomas Gunkel, 1956 in Treysa geboren, arbeitete mehrere Jahre als Erzieher. Nach seinem Studium der Germanistik und Geografie in Marburg begann er, englischsprachige literarische Werke ins Deutsche zu übertragen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören u.a. Larry Brown, John Cheever, Stewart O'Nan, William Trevor und Richard Yates. Thomas Gunkel lebt und arbeitet in Schwalmstadt (Hessen).

Im Haus bei der Line & Twine


Als ich im achten Schuljahr war, half meine Schwester dabei, ein anderes Mädchen zu töten. Sie sei verliebt gewesen, sagte meine Mutter, als wäre das eine Entschuldigung. Sie habe nicht gewusst, was sie tat. Ich war damals noch nie verliebt gewesen, nicht richtig, deshalb wusste ich nicht, was meine Mutter meinte, aber inzwischen weiß ich es.

Das Ganze spielte sich in Ashaway, Rhode Island, ab, in der Nähe von Westerly, unten am Strand. In jenem Herbst wohnten wir in einem Haus am Fluss, auf der anderen Straßenseite von der Garn- und Schnur-Fabrik, in der meine Großmutter meinen Großvater kennengelernt hatte. Die Line & Twine war geschlossen, überall hingen rostige BETRETEN VERBOTEN-Schilder, doch direkt oberhalb vom Wehr hatte jemand mit einem Bolzenschneider ein Loch in den Zaun geschnitten, sodass man von hinten reinschleichen konnte. Wir liefen in den Gängen zwischen den verstaubten Webstühlen immer Rollschuh, Angel fuhr Schlangenlinien und brachte mir Crossovers und Rückwärtsfahren bei. Sie konnte Pirouetten drehen wie eine Eiskunstläuferin, wobei ihre Hände Figuren in die Luft malten. Auch ich wollte Pirouetten drehen und elegant sein, so wie sie, doch ich war ein pummeliger Trampel, und wenn ich in der Kirche neben ihr stand, war ich unsichtbar. Meine Mutter sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, ich würde mein spezielles Talent schon noch entdecken. «Ich war eine Spätentwicklerin», sagte sie, als ob das ein Trost sein könnte. Und was, wenn ich kein spezielles Talent habe, wollte ich fragen. Was, wenn ich bloß eine hoffnungslose Streberin bleibe?

Das Talent meiner Mutter bestand darin, jedes Mal einen neuen Verehrer zu finden und eine neue Bleibe für uns. Sie arbeitete als Hilfspflegerin im Elms, einem Altersheim in Westerly, in dem meine Großtante Mildred lebte, und verdiente so gut wie nichts. Wenn sie freitags nach Hause kam, zog sie sich um, bürstete ihr Haar aus, schminkte sich und benutzte zu viel Parfüm. Sie war Cheerleaderin gewesen und konnte gut tanzen. Sie hielt Diät oder versuchte es wenigstens. Wenn sie vor dem schmalen Spiegel an ihrem Wandschrank stand, beklagte sie sich, dass ihr nichts mehr passte. «Ich hab mal so ausgesehen wie du», sagte sie zu Angel, als wäre es eine Drohung, und es stimmte, auf ihren alten Fotos hätte man sie für Angels Zwillingsschwester halten können. Hätte sie es gewollt, sagte sie, hätte sie einen Arzt geheiratet, aber die waren alle Arschlöcher. «Euer Vater war lieb.»

Wir wussten, dass unser Vater lieb war. Wir wussten aber nicht, wann oder warum er sich in ein Arschloch verwandelt hatte. Meine Großmutter hatte ihn nie leiden können, weil er aus einer portugiesischen Familie stammte. Er hatte meine Mutter überredet, katholisch zu werden, und sie dann verlassen. Vertrau nie einem Portugiesen, sagte sie, als wäre es ein Witz. Ich hatte sein dunkles Haar und seine dunklen Augen, wozu machte mich das dann?

Die Verehrer meiner Mutter bemühten sich, lieb zu sein, doch es waren Fremde. Manchmal bezahlten sie unsere Miete, und manchmal teilten wir sie uns. Wenn sie mit meiner Mutter Schluss machten – urplötzlich, in betrunkenem Zustand, das Gebrüll der beiden riss uns aus dem Schlaf –, mussten wir wieder umziehen. Genau wie unsere Mutter strampelten wir uns ab, dass es gut lief, weit über jedes vertretbare Maß hinaus. Unser Vater war weg, und unsere Mutter konnte nicht aufhören, verliebt sein zu wollen. «Ich schwöre, das ist das letzte Mal», sagte sie, wenn sie stocknüchtern war, und einen Monat später kam sie mit einem weiteren Versager nach Hause. Die wurden anscheinend immer jünger und gammeliger, was Angel für ein schlechtes Zeichen hielt. Meiner Mutter schien das nicht aufzufallen. Am Anfang war immer alles neu. Sie verlor an Gewicht, küsste uns zu oft und gab Versprechen, die sie nicht halten konnte.

Der Letzte war ein Matrose namens Wes gewesen, der Hummer mit nach Hause brachte, meine Mutter «Care» nannte und uns zum Fahrradfahren nach Block Island mitnahm, bis er eines Nachts ihr Telefon zertrümmerte, als sie seinetwegen die Polizei verständigen wollte. Weder er noch sie waren verletzt, deshalb brachten die Polizisten keinen von beiden vor Gericht. «Ihr Cops seid nutzlos», sagte meine Mutter. «Ja», entgegnete einer von ihnen, «deshalb sind wir um ein Uhr früh ja auch hergekommen, denn wir haben nichts Besseres zu tun.» Wir wohnten im oberen Stockwerk eines Zweifamilienhauses, und am nächsten Morgen, als Wes zum Fischen draußen im Sund war, schleppten wir drei alles, was wir tragen konnten, die Treppe runter und stopften es in den Wagen meiner Mutter.

Das Haus bei der Line & Twine stand zum Verkauf, aber 2009 wollte es niemand haben. Meine Großmutter hatte bei den Besitzern, Winterflüchtlingen, die lange vor dem Bankenkrach nach Florida gezogen waren, in der Buchhaltung gearbeitet. Wie die meisten Häuser an der River Road stand es schon jahrelang leer. Auf den Schindeln wuchs Moos und in den Dachrinnen Unkraut.

Meine Großmutter kam vorbei, um uns beim Putzen der Küche zu helfen. Sie brachte ihre Gummihandschuhe mit. «Nicht gerade das Taj Mahal», sagte sie.

«Es ist schon in Ordnung», sagte meine Mutter, als würden wir nicht lange dort wohnen. «Angel Lynn. Zieh nicht so ein Gesicht.»

«Ich hab doch gar nichts gesagt», erwiderte sie mit finsterem Blick.

«Das ist auch nicht nötig.»

Ich sagte nichts. Ich sagte fast nie etwas, aus Angst, alles noch schlimmer zu machen. Ich beobachtete die beiden wie eine Punktrichterin und vermerkte im Stillen alle Kränkungen und Beleidigungen, jeden vergeblichen Versuch, nett zu sein. Ich war dreizehn und hatte wie alle Kinder einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Ich wollte, dass alle glücklich waren, unserem wirklichen Leben zum Trotz.

In dem Zweifamilienhaus hatten Angel und ich uns ein Zimmer geteilt. Hier hatten wir beide ein eigenes und konnten die Tür hinter uns zumachen. Wenn ich im Bett lag, fehlte es mir, dass sie sich, noch lange nachdem ich aufgehört hatte zu lesen, mit ihren Freunden Nachrichten schrieb, das Leuchten auf ihrem konzentrierten Gesicht hatte etwas Beruhigendes wie ein Nachtlicht. Insgeheim wünschte ich mir, dass ich mich, sobald ich auf die Highschool käme, in sie verwandeln und ihre Stärken erben würde, nicht nur ihr Aussehen und ihre Bestimmtheit, sondern auch das Selbstvertrauen, das sie so anziehend machte, das Wissen, dass, egal, was passierte, sie immer begehrt sein würde. Jetzt, ohne sie, im Dunkeln, die Straße still, hinter der Line & Twine der über das Wehr plätschernde Fluss, kam mir dieser Traum noch unerreichbarer vor.

Unser Vater hatte uns nicht gänzlich verlassen. Er kam noch immer vorbei, um etwa die Klingel zu reparieren oder den verstopften Abfluss der Dusche mit einer Spirale freizubekommen, was wegen unserer langen Haare ein ständiges Problem war. Wir waren jedes zweite Wochenende bei ihm, und dann nahm er uns mit zum Brandungsangeln und ließ uns am Strand seinen Pick-up fahren. Die Sommergäste waren verschwunden, die Villen, um deren Gärten er sich kümmerte, für den Rest des Jahres verriegelt, die spitzen Eisentore zugekettet. Die Muschelbuden und Del’s-Lemonade-Stände hatten geschlossen, und am Ende fuhren wir zum Mittagessen in die Stadt zu One Fish Two Fish, einem Schnellimbiss in einem früheren Burger King, wo wir immer gegessen hatten, als wir noch klein waren. Dort gab es noch die ursprünglichen gelborangen Resopaltische, an den Kanten ramponiert und schmutzig, jedes verstreute Salzkorn deutlich zu sehen. Wir hatten einander nicht viel zu sagen, als befürchteten wir, Geheimnisse preiszugeben, die sich gegen uns verwenden ließen. Meistens sprachen wir über die Schule und Angels Job bei CVS. Er hatte eine Wohnung in Pawcatuck, über einem chinesischen Restaurant, sodass es überall nach verbranntem Speiseöl stank. Um das Schlafsofa von Bob’s auszuziehen, das er extra für uns gekauft hatte, musste er die schwere Seemannskiste wegschieben, die er als Couchtisch benutzte, und jedes Mal waren da dieselben ausgebleichten Arielle-Bettlaken, obwohl wir aus dem Meerjungfrau-Alter längst raus waren. Sonntags schliefen wir lange, während meine Mutter und Großmutter in der Kirche waren, und er machte uns Waffeln, ein weiteres Überbleibsel aus unserer Kindheit, und danach lieferte er uns wieder zu Hause ab. In unserer Einfahrt gab er jeder von uns einen Zwanziger, bevor er uns aussteigen ließ, als handelte es sich um ein Trinkgeld. Für unsere Mutter hatte er manchmal einen Scheck und manchmal auch nicht, je nachdem, wie die Geschäfte liefen. Sie stritten sich bitterlich wegen des Geldes, was uns alle verlegen machte, und es war ein gutes Wochenende, wenn er die gesamte Summe parat hatte. Ich blieb immer auf der Veranda, um ihm noch mal zuzuwinken, während unsere Mutter und Angel schon ins Haus gingen.

«Wie war’s?», fragte unsere Mutter. «Was habt ihr alles gemacht?»

«Nichts», sagten wir. «Das Übliche.»

Sie zeigte kein wirkliches Interesse, und wir suchten bereits nach Hinweisen darauf, wie sie das Wochenende verbracht hatte, schnupperten nach dem Geruch von Gras oder Körperspray, kontrollierten die Aschenbecher auf Zigarettenstummel, die Wertstofftonne auf zusätzliche Bierflaschen.

Eines Sonntags fand Angel unterm Nachttisch unserer Mutter den Zipfel einer Kondomverpackung. Sie zeigte ihn mir auf der geöffneten Hand, als wäre er ein Beweisstück.

«Na und?» Ich tat so, als würde mir der Gedanke keine Angst machen, dass ein weiterer Fremder von unserem Zuhause Besitz ergriff.

«Also fickt sie irgendwen.»

«Was du nicht...

Erscheint lt. Verlag 22.3.2022
Übersetzer Thomas Gunkel
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alleinerziehende Mutter • amerikanische bücher • Amerikanische Gesellschaft • Amerikanische Literatur • Aufwachsen in Armut • Beziehungsdrama • Bücher Neuerscheinungen 2022 • Coming of Age • Finanzkrise • Gesellschafsroman • Highschool • Klassengesellschaft • Klassismus • Mord • New England • Rhode Island • Rust Belt • Schwestern • Soziale Ungerechtigkeit • Teenager • toxische Beziehung • USA • US-Literatur • Vatertagsgeschenk • White Trash
ISBN-10 3-644-01147-8 / 3644011478
ISBN-13 978-3-644-01147-2 / 9783644011472
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