Eine Laune Gottes (eBook)

Roman. Mit einem Nachwort von Margaret Atwood | Nach 'Der steinerne Engel' der zweite der fünf Manawaka-Romane
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2022 | 1. Auflage
352 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-137-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Laune Gottes -  Margaret Laurence
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»Ein an Perfektion grenzender Roman.« MARGARET ATWOOD Rachel Camerons Leben ist bestimmt von ihrer Arbeit als Lehrerin und den Erwartungen ihrer stark hilfsbedürftigen Mutter. Seit der Vater starb, gibt es außer ihr niemand, der sich um die kränkliche Witwe kümmern könnte. So scheint Rachels Schicksal besiegelt - als Mauerblümchen wird sie in der kanadischen Provinzstadt Manawaka ein gesellschaftlich kontrolliertes und ereignisloses Leben führen. Doch dann begegnet Rachel ihrem ehemaligen Schulfreund Nick wieder, der für die Sommermonate zu Besuch bei seinen Eltern ist. Er geht mit ihr aus und beginnt eine Affäre mit ihr. Und obwohl Rachel ahnt, dass diese Beziehung nicht von Dauer sein kann, stürzt sie sich in dieses Verhältnis, erfährt zum ersten Mal in ihrem Leben körperliche Liebe und beginnt langsam zu begreifen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie sich nicht von den äußeren Umständen erdrücken lassen will ...

Margaret Laurence, die gemeinsam mit Margaret Atwood und Alice Munro als bedeutendste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Von frühester Jugend an wollte sie Schriftstellerin sein. 1947 heiratete sie einen Bauingenieur und ging mit ihm erst nach England und dann nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Texte, ihre bedeutendsten fünf Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Neepawa Pate stand. Margaret Laurence starb 1987.

Margaret Laurence, die gemeinsam mit Margaret Atwood und Alice Munro als bedeutendste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Von frühester Jugend an wollte sie Schriftstellerin sein. 1947 heiratete sie einen Bauingenieur und ging mit ihm erst nach England und dann nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Texte, ihre bedeutendsten fünf Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Neepawa Pate stand. Margaret Laurence starb 1987.

The wind blows low, the wind blows high

The snow comes falling from the sky,

Rachel Cameron says she’ll die

For the want of the golden city.

She is handsome, she is pretty,

She is the queen of the golden city.

Natürlich skandieren sie nicht meinen Namen. Es hört sich nur so an, hier am Klassenzimmerfenster, wo ich stehe und ihnen zusehe, denn ich erinnere mich, wie ich selbst zu diesem Lied Seil gesprungen bin, als ich ungefähr so alt war wie die kleinen Mädchen da draußen. Vor siebenundzwanzig Jahren, was unmöglich scheint, als ich selbst sieben war, aber es ist dasselbe braune Ziegelgebäude, nur mit einem neuen Flügel und renoviert. Es hätte mich damals bestimmt überrascht, hätte ich gewusst, dass ich mal hier enden würde, in diesem kleinen Raum, nicht mehr diejenige, die immer krampfhaft gefallen wollte, sondern die dünne Riesin hinter dem Pult, die die Macht hat, ein Kreidestück in der Farbe ihrer Wahl zu nehmen und egal was an die Tafel zu schreiben. Eine Macht, die auszuüben damals lohnend erschien.

Spanish dancers, turn around,
Spanish dancers, get out of this town.

Man vergisst diese Lieder, später, aber das Wissen darum muss wie eine Geheimsprache von Kind zu Kind weitergegeben werden – seit wie langer Zeit? Sie wirken wie eine ganz andere Spezies, all diese Generationen von Kindern. Als müssten sie noch immer irgendwo existieren, selbst nachdem ihre Körper grotesk geworden sind und sie den Text und die Melodien vergessen und Enttäuschung gelernt haben und schließlich gestorben sind, und die letzte getrocknete Hülle ihrer selbst zwecks anständigem Begräbnis geschminkt und geschmückt wird von Sterblichen wie Niall Cameron, meinem Vater. Blöder Gedanke. Morbide. Ich darf solchen Gedanken in meinem Kopf keinen Platz einräumen. So etwas ist gefährlich. Ich weiß das.

Nebukadnezar, King of the Jews,
Sold his wife for a pair of shoes.

Dieses Lied hier kann ich mir vorstellen, wie es weit zurückreicht durch Zeiten und Sprachen. Skandiert auf Latein vielleicht, mit den gleichen hohen Singsangstimmen selbstgefälliger kleiner Römerinnen, die im Innenhof irgendeiner Villa in Gallien oder Britannien auf den Mosaiken Seil springen, ohne zu ahnen, dass die blauen Hundsköpfigen knurrend vor den Mauern stehen und lauschen. Da. Schon wieder. Das muss aufhören. Das tut mir nicht gut. Sobald ich mich beim Grübeln erwische, muss ich einfach den Schalter umlegen und an etwas anderes denken. Am Ende werde ich noch zur Exzentrikerin, Gott bewahre. Das ist nicht nur meine Einbildung. Ich habe es schon erlebt.

Nicht nur bei Lehrerinnen, natürlich, und nicht nur bei unverheirateten Frauen. Auch Witwen können extrem wunderlich werden, aber die können sich wenigstens mit Trauer herausreden.

Damit muss ich mich sicherlich erstmal noch nicht auseinandersetzen. Vierunddreißig ist ja noch relativ jung. Aber jetzt ist die Zeit, in der man auf der Hut sein muss.

Es klingelt, die Pause ist vorbei. Ich muss schnell meine Kinder einsammeln. Ich muss aufhören, sie als meine Kinder zu bezeichnen, selbst insgeheim. Das geht einfach nicht. Wir sagen es natürlich alle. Selbst Calla sagt es über die Fünftklässlerinnen: »Willst du mal das Plakat sehen, das meine Kinder heute gemalt haben?« Aber die Worte stellen keine Bedrohung für sie dar. Sie empfindet nur eine unbestimmte Art von belustigter Zuneigung und Gereiztheit ihnen gegenüber, allen gleichermaßen.

»Na kommt, zweite Klasse. Schön in eine Reihe stellen.«

Fange ich auch schon an, in diesem affektierten Tonfall zu sprechen, den sich so viele Lehrerinnen aneignen, ohne es zu merken? Anfangs sprechen sie nur mit den Kindern so, aber es wird zur Gewohnheit, und irgendwann können sie überhaupt nur noch so reden. Sapphire Travis macht es die ganze Zeit. Rachel, Liebes, sei ein liebes Mädchen und schenk mir ein winziges Tässchen Tee ein, ja? Die armen Erstklässler. Wie halten sie das nur aus? Kinder haben einen eingebauten Verlogenheitsradar.

»Na, los. Wird das heute noch was? Du meine Güte, James, hör auf zu trödeln.«

Jetzt war ich unnötig streng. Auch hier muss ich aufpassen. Es ist schwierig, die Balance zu finden. Es ist sooft James, den ich so anspreche, aus lauter Angst, bei ihm zu sehr ins Gegenteil zu verfallen.

Warum habe ich mir keinen Mantel angezogen? Ich zittere in diesem Frühlingswind. Meine wärmend verschränkten Arme kommen mir lang und dünn vor. Die letzten Tage sind schön und mild gewesen, doch der Wind von Norden ist immer noch messerscharf. Ich erkälte mich leicht, und wenn ich eine Erkältung habe, geht sie ewig nicht weg und macht mir wirklich das Leben schwer.

James ist wie üblich der Letzte. Dieser Junge kommt grundsätzlich im Schneckentempo ins Klassenzimmer. Beim Verlassen des Raums dagegen scheint er fast abzuheben wie ein Sperling und auf wundersame Weise zu fliegen. Der Anblick seiner drahtigen Zierlichkeit, seiner zauseligen rot-braunen Haare löst bei mir eine verzweifelte Zärtlichkeit aus. Ich frage mich, warum er andere Gefühle in mir weckt? Weil er einzigartig ist, deshalb. Ich darf eigentlich nicht so empfinden. Sie sind alle einzigartig. Welch hehrer Gedanke, einer, den Willard Siddley unterschreiben würde. Natürlich sind sie alle einzigartig, aber wie bei der Gleichheit der Tiere sind manche eben einzigartiger als andere.

Als ich reingehe, ist Calla Mackie im Flur. Ich sollte nicht immer versuchen, den Blickkontakt mit ihr zu vermeiden. Sie ist nett, sie meint es gut. Wenn sie nur etwas normaler aussehen und nicht zweimal die Woche in ihr fantastisches Gotteshaus rennen würde. Sie schiebt sich nach unten durch die lärmende Menge der Kleinen, die die Treppe heraufdrängen wie Fische gegen die Strömung. Calla ist stämmig gebaut, überhaupt nicht dick, aber massig und breit. Sie sagt, sie hätte eigentlich Ukrainerin werden sollen, und tatsächlich hat sie diese slavische Kastenform und starke schwere Knochen. Sie hat grau melierte, glatte Haare, die sie sich mit der Nagelschere selbst schneidet. Ich möchte wetten, sie hat noch nie einen Fuß in einen Friseursalon gesetzt. Sie kämmt sich die Haare hinter die Ohren, schnippelt sie aber fransig über der Stirn wie bei einem Shetlandpony. Sie trägt in der Schule langärmlige Kittel, aber nicht, um ordentlich auszusehen, sondern um jeden Tag denselben braunen Tweedrock und mattgrünen Strickpullover anziehen zu können, ohne dass es auffällt. Vielleicht wäscht sie den Pullover von Zeit zu Zeit und hängt ihn abends zum Trocknen über die Heizung. Was weiß denn ich. Sie überschüttet sich mit Zitronenverbene-Duftwasser. Ihr heutiger Kittel ist aus bräunlichem Chintz und sieht aus wie eine Küchengardine. Arme Calla – was kann sie dafür, dass sie keinen Geschmack hat. Dagegen bin ich geradezu schick.

O Gott. Ich will nicht überheblich sein. Wie kann das passieren, immer noch, diese Anklänge an meine Mutter? Mein dunkelblaues Wollkleid ist drei Jahre alt und viel länger, als es heutzutage modern ist. Ich habe nie die Energie aufgebracht, es zu kürzen. Jetzt hängt es mir wie ein Sack über die Knie. Und die Asche, wo ist die? Ich spiele mich auf. Schon immer tu ich das. Niemand würde es von mir annehmen, wo ich doch so still bin.

»Rachel – ach, Rachel –, komm doch mal kurz.«

»Was ist denn?«

»Warte nach der Schule auf mich«, zischt Calla. »Ich hab was für dich.«

»Ja. Ist gut.«

Sie ist ein großzügiger Mensch. Das weiß ich, und ich sollte es mir nicht ständig in Erinnerung rufen müssen. Aber es ist mir peinlich. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Einmal hat sie mir eine ihrer Halsketten geschenkt. Eine grässliche Kette aus polierten Pfirsichkernen. Ich hatte sie nur aus Höflichkeit bewundert. Und dann musste ich sie tragen.

Später Nachmittag, die Kinder malen Bilder. Freie Themenwahl – sie dürfen malen, was sie wollen. Einigen fällt nichts ein. Ich muss Vorschläge machen – das Haus, in dem sie wohnen, was sie letztes Wochenende unternommen haben.

»Hat jemand von euch einen Spaziergang gemacht, in der Natur? Hat jemand von euch Weidenkätzchen gefunden?«

Meine eigene Stimme klingt verlogen in meinen Ohren, wie Peter Hase, und ich bemerke, wie ich neben meinem Pult stehe und ein neues Stück orangefarbene Kreide so fest in der Hand halte, dass es zerbricht. Aber die Kinder scheinen es nicht mitbekommen zu haben. Ein kleiner Antwortchor erhebt sich – natürlich sind es die Mädchen.

»Ich! Ich, Miss Cameron.«

»Ich und mein Bruder, wir haben tausend Weidenkätzchen mindestens gefunden.«

Interessante Geschöpfe, diese sehr jungen Mädchen. Sie sind oft so gefallsüchtig, dass sie Lügengeschichten erzählen, ohne es richtig zu bemerken. Ich glaube kaum, dass mehr als eine Handvoll von ihnen tatsächlich in der Natur war. Sie behaupten es nur meinetwegen. Und dennoch fühle ich mich auf eine Weise unbefangen in ihrer Gegenwart, wie ich es in Gegenwart der Jungs nicht tue, die schon automatisch spotten, trotz ihrer jungen Jahre.

Außer James Doherty. Er ist zu beschäftigt mit seinen Belangen, um sich um andere Dinge zu kümmern. Er geht seinen eigenen Weg, als würde er die Außenwelt erdulden, aber eigentlich nicht daran glauben. Seine schulischen Leistungen sind, allgemein gesprochen, schwach. Und doch weiß er unfassbar viel darüber, wie Autos funktionieren und Elektrizität und Flugzeuge. Das mit den Autos kann ich verstehen. Das Wissen hat er aufgeschnappt, weil sein Vater in der Autowerkstatt von Manawaka...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2022
Nachwort Margaret Atwood
Übersetzer Monika Baark
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Buch-Reihe • Emanzipation • Entwicklungsroman • Frauen • Gebunden • Geschenk • Kanada • Kanadische Literatur • Klassiker • Lebenslügen • Liebesgeschichte • Moderne Klassiker • neue Rechtschreibung • neues cover • Roman • Weltliteratur • Welt-Literatur • Wiederentdeckung
ISBN-10 3-96161-137-8 / 3961611378
ISBN-13 978-3-96161-137-9 / 9783961611379
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