Spiele (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
496 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29277-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Spiele -  Ulrike Draesner
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Wie hängt die private Geschichte mit dem Lauf der Welt zusammen?
1972 wurde mit der Geiselnahme der israelischen Sportler die demonstrative Weltoffenheit der olympischen Sommerspiele aufs Brutalste torpediert. 1972 war aber auch das Jahr, in dem Katja erwachsen wurde und ihre erste Liebe sie verriet und von ihr verraten wurde. 20 Jahre später beginnt für Katja eine immer dringlicher werdende Suche nach dem, was damals wirklich geschah. Und es zeigt sich, wie sehr die private Geschichte mit der großen, politischen zusammenhängt.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.

SPIRALE


Knüllte die Atemmaske in die Tasche, sprang leichtfüßig die Stufen hinab – Katja, wie von einer Schleuder geschnellt.

Jetzt hielt keiner sie mehr auf.

Betonstufen, immer blank gewischt, darauf achtete man, die Rolltreppen oft außer Betrieb, dafür hatte man kein Geld, am Abgang zur U-Bahn Nussbäume, frisch gepflanzt, das sollte tröstlich sein. Darüber thronte riesig, glitzernd wie ein hochkant gestellter Schokoriegel in Stanniol, das Krankenhaus. Es spiegelte so sehr, dass es jeden zwang, vor ihm die Augen zu senken. War man darin, senkte man die Augen von selbst. Auf dem Dach landeten Hubschrauber. In den Kellern wurde entsorgt, was nicht zu entsorgen war. Die Keller lagen auf Höhe der Bahn.

Eine U6 fuhr ein.

Katja, ins Fenster des kleinen Kiosks im Zwischengeschoss gebeugt, strich das Wechselgeld für die Handykarte zusammen, beeilte sich. Unten lief, aufmerksam in jeden Waggon blickend, ein Angestellter in der blauen Uniform des MVV den Bahnsteig ab. Der menschenleere Zug verschwand im Tunnel, erst Minuten später fuhr er wieder vor, um die Strecke zurückzukehren, auf der anderen Seite der Tunnelwand, als gleite er zwei Gehirnhälften ab. Katja setzte die Karte ein. Ihre Gehirnhälften kamen ihr auch ganz gespalten vor, vor fünf Minuten noch mit Atemmaske, nun ohne, vor fünf Minuten noch hochgiftig, nun normal, vor fünf Minuten noch todkrank, nun »pumperlgesund« (Edgar am Telefon).

Ihre Finger tasteten nervös. Kalt und schweißig zugleich. Das Display blinkte rosa, die Schrift hellblau. Auskunft, zehn Sekunden, sein Name, seine Nummer – so einfach konnte es sein –, eine helle Stimme fragte, wollen Sie gleich verbunden werden?, erschrocken legte Katja auf.

Sie stand an der Tür der Bahn, starrte hinaus, sie fuhren schon, der Netzbalken im Handy blieb. Anrufen, ein paar Sekunden, verbunden mit Max, nach 30 Jahren, so einfach konnte es sein. Säulen, grau wie der Elefant im Hongkonger Zoo beim Schlammbad, Einfahrt in die nächste Station. Der Elefant hatte gelacht, aber vielleicht war es bereits das Fieber gewesen, das ihr vorgaukelte, man könne mit Stoßzähnen lachen, schmal und entschieden stand Max’ Nummer im Display. Katja seufzte leise, der Mann, ihr gegenüber an die Trennwand zu den ersten Sitzen gelehnt, reagierte nicht. Auf der Titelseite seiner Zeitung erkannte sie die Fotos aus Asien, Masken-Menschen auf Straßen, gehüllt in weiße Schutzanzüge, die an Raumfahrer erinnerten. Wie sie mit Max davon geträumt hatte, zum Mond zu fliegen, wenn sie erwachsen wären, miteinander verheiratet, ihre drei Kinder winkten vom Boden. Max. Nicht nur der Anzüge wegen fiel er ihr ein. Nicht nur im Krankenhaus hatte sie sich erinnert. All die Monate zuvor hatte sie an ihn gedacht, immer wieder seit jenem verflucht schmerzvollen Morgen auf der Nelkenfarm, zwischen Bananenstauden und indischen Kuckucks, als die Erinnerung an Max sich hochstieß in ihr – warm und voller Bedauern, von den Hüften, den Lenden, der Taille (Max’ Hände darauf beim Tanzen) nach oben und aus den Fingern (Katjas Hände auf Max) über Arme und Schultern nach innen – bis alles sich zusammenballte in ihrem Herzen, das heftig pulste, wie jetzt. Bestimmt hatten die Ärzte noch im EKG wilde Extraspitzen gesehen, Spitzen wie die Dolomiten oben auf den Himalaja gestellt. Ein Herz, hörte sie einen von ihnen sagen, wie bei einem Krokodil, das gerade nach Beute schnappt; schade darum, meinte ein anderer, doch der erste lachte, Herzen, eins wie’s andere, was macht das schon?

Eine Kette von Pfeilen leuchtete auf, bewegte sich.

Was willst du, sagte er, seine Stimme klang neutral, dann lachte er laut, meine Güte, Katja, ich bin verheiratet und habe eine kleine Tochter, was soll denn das jetzt? Er hatte sie sofort erkannt. Katjas Blut sauste, ihr Bauch wurde warm, verheiratet, Tochter, das wusste sie schon. Ich weiß, sagte sie, um Zeit zu gewinnen, du klingst aber nicht so, antwortete er überlegen, bitterer als sie wollte, hörte Katja sich fragen: wie denn?

Max. Nicht begeistert über ihren Anruf, er hatte gute Gründe, nicht begeistert zu sein, Katja starrte zur Tür hinaus, die Tunnelwand rauschte vorbei. Sie tauschten ein paar Floskeln, woher?, wohin?, was ist das für ein Lärm bei dir?, rief er, doch die Verbindung blieb stabil, allmählich erkannte Katja sogar seinen Tonfall wieder, da sagte er schon, was rufst du mich an, willst mich wieder aufscheuchen, ja?

Welch blödsinnige Situation, so ein überstürzter Anruf – bei Max. Den ganzen Winter in München hatte sie darüber nachgedacht, von wo aus, was sagen, sich in Ruhe auf die Couch setzen, etwas zu trinken bereitstellen, einen Zettel mit Notizen, dann die Nummer wählen – und hatte es nicht fertig gebracht. Die einzige Chance, es zu tun, war, sich selbst stolpernd zu überholen.

Ja. Nein. Ja! Ihr Herz wurde langsamer. Erinnerst du dich, wie gern mein Großvater von Heemte sprach, stotterte sie. Natürlich, antwortete Max sofort, das weiß ich wahrscheinlich noch, wenn ich auf dem Totenbett liege, er zögerte, und Jozef, er … Max’ Stimme war milder geworden, das freute Katja – und tat ihr weh.

Katjas Großvater hatte Max geliebt. Wenn es so weitergeht, adoptiert er ihn noch, ärgerte sich Katjas Vater, kaum sah er die beiden. Die U-Bahn bremste, Katja drückte das Handy ans Ohr. Jozef erzählte uns doch immer, Heemte sei blau, flüsterte sie, und trug nur blaue Hemden. Max schwieg, Katja wurde sicherer, Rosa hasste er, sieht aus wie Schweineangst, wie Zickzack an einer Grenze, wie Kaninchenherz, rief er gern. Ich weiß, antwortete Max, und exakt das, Zickzack, versuchst du jetzt mit mir, er lachte auf: schon wieder! Bin gespannt, wie du diesmal die Kurve kratzst – Katja Kaninchenherz.

Fünf Minuten, Punkt für Max.

Katja spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Es stimmte. Sie zögerte, sprach Zickzack. 31 Jahre war ihr gemeinsamer Sommer her. Eine Ewigkeit: sie 12, er 17. Er der Schachschüler ihres Großvaters, sie jahrelang über beide Ohren verliebt in ihn, dann auch er in sie, endlich, die große Liebe, was sonst, Ewigkeit garantiert. Ist wohl üblich so, beim ersten Mal.

Nicht üblich war ihr Vertrauen ineinander, und Katjas Gefühl von Zugehörigkeit. Daheim sein, bei Max. Eine Erinnerung also an ein Nest – ausgelegt mit pubertären Träumen, gewiss, doch weiß, unschuldig geradezu. Allein, die Federkiele waren spitz und scharf, mit einem Mal standen sie überall heraus, alles flog auseinander, an einem Abend nur. Katja lockte Max an. Max tanzte, und wie. Alles in Katja tanzte mit. Zwei Stunden später, nach bösem Indianergeheul und einem Lauf durchs Dorf ohne Jeans, ohne Schuhe, ohne Unterhose, schmiss Max die Schule und beschloss, zur Münchner Polizei zu gehen.

Rosa ist hier nichts, rief Katja, wir täuschten uns, sagte sie zu Max, kühl jetzt, wie sie fand, Heemte heißt nicht Hemd, Heemte heißt Heimat.

Die U-Bahn stand, die Wandkacheln der Station spiegelten, sie wusste nicht, wo sie waren, egal. Und die suchst du jetzt, Heimat?, fragte Max beschwichtigt, Katja drückte sich gegen die Trennwand vor den Sitzen und sagte, vielleicht, obwohl sie es besser wusste, und dann sagte sie, ja, holte Luft, ja doch, ja.

Und du gehörst dazu. Doch das dachte sie nur.

Wieder schnurrte der Motor, als ziehe allein das Geräusch den Zug über die Gleise. Ich bin in der U-Bahn, sagte Katja, um Zeit zu gewinnen, wer hat dir verraten, dass ich dich suche? Das müsstest du selbst am besten wissen, lachte er, ihr Anruf schien ihn plötzlich zu amüsieren, oder hast du so viele nach mir gefragt?

Die Geschichte mit dir gehört dazu. Du. Doch das hörte nur sie. Endlich war es ihr klar.

Im Glas der Tür stand eine Frau, Arme, Rumpf, den Kopf fragend zur Seite geneigt, sie selbst.

Wir haben uns zufällig am Bus getroffen, dein Vater und ich, sagte Max, er hat gleich gefragt, ob du dich schon bei mir gemeldet hast, du habest dich angelegentlich erkundigt.

»Angelegentlich«, eindeutig Edgar, Katja wunderte sich, dass er Max sofort erkannt hatte, typisch, sagte sie, so redet er immer noch, aber Zufall – nein, Max, Zufall ist doch nur der Ort, an dem die eigene Angst sich versteckt.

Bilder huschten durch Katjas Kopf, Flugzeuge, Flughäfen, glasige Ein- und Ausgänge, das ewige Einpacken, Auspacken ihrer Koffer, ihrer Kameras.

Verstehe ich nicht, sagte Max, wie kommst du jetzt auf Zufall?, ich habe nicht von Zufall gesprochen. Doch, antwortete Katja, nein, sagte er, mit Zufall hatte das damals nichts zu tun, wenn es darum geht, hänge ich sofort ein. Ich meine nicht damals, du hast eben Zufall gesagt, ach, egal …, und er stöhnte, es wäre besser, wir hätten uns gar nicht erst kennen gelernt!

Nicht, dass sie das nicht selbst schon gedacht hatte. Nicht nur einmal.

Nicht, dass es sie jetzt nicht traf.

Ihr Spiegelbild sah blass aus, sie war schmaler geworden (es stand ihr), sie drehte sich weg.

Katja …,

Max …,

gleichzeitig hatten sie eingesetzt, gleichzeitig brachen sie ab. Katja hörte Max atmen, im Hintergrund schrie ein Kind. Immerhin hatte er nicht sofort aufgelegt, immerhin war seine Stimme nicht mehr ganz so reserviert. Sie strich sich über die Stirn. Die Bahn hatte sich gefüllt, doch jeder saß für sich allein. Es war erstaunlich still.

Tja, Heemte, sagte Max nachdenklich, wir täuschten uns ständig. Sie hörte Schritte, eine Tür schlug, das Kindergeschrei verschwand. Er schien nun allein, seine Stimme kam näher. Genug Geplänkel!, sagte er entschieden, als habe er sich im Gehen eine Strategie überlegt, als habe das Gehen ihn an etwas erinnert, was willst du von mir?

...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1972 • 2022 • 50 Jahre • 50. Jahrestag • 5. September • eBooks • Entführung • Flughafen • Geiselnahme • israelische Mannschaft • München • München 1972 • Neuerscheinung • Neuheiten 2022 • Olympia 1972 • olympia 2022 • Olympia Attentat • Olympiapark München • Olympische Sommerspiele • OlympischeSommerspiele • Olympische Spiele • Pubertät • Rache • Roman • Romane • Terrorismus • Volker Kutscher
ISBN-10 3-641-29277-8 / 3641292778
ISBN-13 978-3-641-29277-5 / 9783641292775
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