Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31023-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken -  Jakob Hein
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Wie verreist man, wenn man nicht reisen kann? Jakob Heins unterhaltsamer Roman über einen Hypnotiseur, der seine Klienten in die Ferne entführt. Ein Dorf, irgendwo im unteren Odertal. Lieselotte Sawidski wohnt dort, seit sie denken kann. Genau wie ihre Nachbarin Gerda. Es herrscht gemütlicher Stillstand: Jeder kennt jeden, man fühlt sich am Rand des Landes und ein wenig auch am Rand der sozialistischen Gesellschaft. Die größte Sehenswürdigkeit der Gegend sind die Kraniche. Als Gerdas Enkel Micha nach seinem Ausschluss vom Psychologiestudium bei seiner Großmutter einzieht und nach ihrem Tod in dem zerfallenden Bauernhaus bleibt, beobachtet die alte Sawidski, wie neben den Kranichen immer öfter auch seltsame Vögel aus Berlin in ihrem Dorf auftauchen - Künstler und Studenten, in erster Linie junge Frauen. Sie kommen und bleiben in Michas Bauernhaus. Die schillerndsten Gerüchte bringen Unruhe in das beschauliche Dorf. Eine Sekte sei am Entstehen, vom Bauernhaus aus würden Westreisen organisiert. Tatsächlich hat Micha eine Gabe: Er kann Menschen hypnotisieren und ihnen so ihren Traum von Frankreich oder Kalifornien erfüllen. Allerdings stößt Micha selbst ständig an die Grenzen der realen Welt. Und sein Unternehmen für Reisen im Kopf, das sogar der countrymusiksüchtige-LPG-Vorsitzende aufsucht, wird von der Stasi argwöhnisch beäugt ...

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

Inhaltsverzeichnis

Anika


In dem Moment, bevor sie ihre zur Faust geformte Hand heben und damit gegen das grüne Holztor klopfen musste, erschien ihr das Ganze nicht nur dümmlich und sinnlos, sondern so, als würde sie die Dummheit und Sinnlosigkeit ihres Anliegens in diesem Augenblick realisieren, als wachte sie aus einem Tagtraum auf, aus einer haltlosen Phantasie, einer Art zweifelsfreiem Wahn. Es war, als würde sich die Realität langsam ächzend aus ihrer perfekten Tarnung erheben und Anika dadurch bestürzt zu erkennen gezwungen sein, dass sich nicht etwa die Realität die ganze Zeit über in der Landschaft versteckt hatte, sondern dass die ganze Zeit über die Realität diese Landschaft gewesen war. Alles geriet in Bewegung und nichts war so, wie es schien, weil sie einer Illusion verfallen war.

Wie war sie nur darauf gekommen, dass sich hinter einem verwitterten Holztor im Unteren Odertal ein Ausweg für sie öffnen könnte? Mit etwas Glück würde niemand auf sie schießen und sie würde sich lediglich einen Splitter beim Klopfen einreißen, aber sicher würde niemand dieses Tor öffnen, der ihr eine Reise nach Paris ermöglichen könnte. Also spürte Anika in diesem Augenblick den starken Drang umzukehren, abzuhauen und nach Hause zu fahren. Wie war es ihr nur gelungen, die Realität so vollständig zu ignorieren, einfach auszublenden, dass hier nichts zusammenpasste? Sie hatte Urlaub eingereicht und sich eine Zugfahrkarte gekauft und hatte ihre Reisetasche gepackt, als wäre sie die Figur in einem Film, den sie selbst anschaut, ohne die Handlung zu verstehen, aber mit einem gewissen Interesse für den weiteren Verlauf.

 

Eines Nachts hatte sie mal wieder mit Doreen Wermut mit Zitronensaft gesoffen und dazu schachtelweise Club geraucht, und wie immer, wenn sie völlig betrunken war, hatte sie irgendwann von ihrer großen Reise nach Paris zu erzählen begonnen. Von der Ankunft in Orly, der Fahrt mit der 7 nach Villejuif, dem Hotel in Montmartre, den schönen Tagen am Eiffelturm, der Besuch von Morrison und Laurencin auf dem Père-Lachaise, der unvergleichliche Café au lait im Café de la paix und so weiter und weiter und weiter. Sie konnte jeden einzelnen Centime aufzählen, wofür sie ihn ausgegeben hatte, wie viel die Wochenkarte für die Métro und der Eintritt in den Louvre (nach 18 Uhr war es am Dienstag billiger) kostete.

Anika wusste, dass sie Doreen damit auf die Nerven ging, dass sie überhaupt jedem auf die Nerven ging. Ihre Frankreich-Monologe waren in jeder Hinsicht reichlich ungeschickt. Auch Männer konnte man damit nicht gerade von sich überzeugen, sie rückten verunsichert von ihr ab, wenn sie in diese Phase kam, weil sie nicht wussten, wie ihre detailversessenen Berichte fiktiver Reisen einzuordnen waren – handelte es sich um Wahngedanken einer geistig Kranken oder um den Reisebericht einer Frau, die einerseits hier saß, Schoppen um Schoppen Grauer Mönch trank und von ihrer Arbeit als Sekretärin im VEB Lacke und Farben erzählte, gleichzeitig jedoch so privilegiert war, Freizeitreisen nach Paris zu machen. Oder war sie einfach nur eine Mitarbeiterin, die einen zum Reden bringen wollte, wo Schweigen die bessere Option darstellte. So oder so hatte man mit so einer besser nichts zu tun und versuchte lieber, bei einer anderen zu landen.

Anika selbst fand es auch ein bisschen gefährlich, jedes Mal im Suff in stundenlange Monologe über ihre Traumreise nach Paris zu verfallen. Es war ja kein Geheimnis, dass der Geheimdienst viel Zeit damit verbrachte, die Bevölkerung auszuhorchen, und dass überall Spitzel sitzen könnten. Es erschien ihr zwar unwahrscheinlich, dass ihre alte Schulfreundin Doreen auch bei Horch & Guck war, aber wusste man’s?

Wenn sie im Rausch ihre Hemmung verlor, fing sie nicht an, Wirtinnenlieder zu singen oder ihrem Busen die Männer zu zeigen, sondern sie erzählte von Paris, den Arrondissements, den Bussen, den Parks, den unfreundlichen Kellnern, den kleinen Booten im Jardin du Luxembourg und so weiter und so fort. Sie hatte diese Reise zusammengepuzzelt aus vielen unendlich kleinen Teilen – aus Fernsehberichten, aus Romanen, aus Zeitungsmeldungen und kleinen Reportagen im Radio. Wenn es irgendetwas aus Paris gab, fand es Anikas Aufmerksamkeit. Dabei hätte der französische Präsident – seit 1981 war es François Mitterrand, den Anika etwas weniger mochte als seinen Vorgänger, wobei sie von beiden keine politische Meinung hatte, aber den Namen Valéry Giscard d’Estaing herrlich unnötig kompliziert und französisch fand –, hätte dieser also einen Atomangriff auf die DDR verkündet, hätte diese Ankündigung Anika wohl weniger interessiert als die Frage, ob er direkt über die Rue du Faubourg Saint-Honoré oder über den Seiteneingang in der Rue de l’Élysée in den Palast gelangt war, von dem aus man einen so schönen Blick auf die Champs Élysées hat.

Sie konnte einfach nicht anders. Sie hatte diese Reise schon so oft in ihrem Kopf gemacht und geplant, die Details verfeinert, die Route perfektioniert, dass Paris einfach aus ihr herausdrängte. Der Umstand, dass diese Reise nie stattgefunden hatte und sich daran wohl auch in den nächsten knapp vierzig Jahren nichts ändern würde, machte die Sache nicht besser.

»Weißt du was?«, stieß schließlich Doreen in einer kurzen Pause hervor, die Anika in ihrem Paris-Bericht einlegte, weil sie überlegte, ob man von der Linie 4 in die 2 am Gare du Nord oder am Barbès-Rochechouart umstieg, »Ich habe was gehört, was dich sicher interessieren wird. Im Odertal soll es einen Typen geben, der einem jede Reise besorgen kann. Jede.«

»Im Oderbruch?« Sie sprachen beide schon ziemlich skandierend, weil ihre Kleinhirne zu betäubt waren, um sie bei den feineren Bewegungen der Zunge noch zu unterstützen.

»Nei-hein. Im Unteren Odertal«, sagte Doreen. »Das ist nördlich vom Oderbruch.«

»Ist doch das Gleiche.«

»Ja, das kann sein. Aber nicht dasselbe.« Ganz genau wussten sie beide nicht, warum sie nun lachten, aber das war nach zwei Flaschen Gotano Bianco mit Zitronensaft nie restlos zu klären.

Das Thema fiel dann unter den Tisch, über den an diesem Abend noch viele weitere bunte Themen rollten. Es fiel ihnen schwer, fokussiert zu bleiben.

 

Trotzdem sprach Anika ihre Freundin beim nächsten Treffen noch mal darauf an. Zum Glück waren sie zum Eisessen verabredet, so dass außer dem Eierlikör auf dem Schwedeneisbecher kein Alkohol im Spiel war.

»Du weißt doch noch letztens in der Harmonie?«

»Erinnere mich nicht daran!«, sagte Doreen entsetzt. »Es mag sein, dass die Thüringer unglaubliche Talente besitzen. Ich meine so goethemäßig. Aber von der Wermutherstellung sollten sie die Finger lassen.«

»Vielleicht haben wir auch einfach zu viel getrunken?«

»Auch das. Aber sieh mal: Wenn ich Nordhäuser Kornbrand trinke – auch ein Thüringer alkoholisches Produkt –, dann brauche ich am nächsten Morgen zwei Glas Mineralwasser und eine Acesal, um den Tag gut zu überstehen. Nach einer Nacht voller Gotano erlebe ich am nächsten Tag die verschiedenen Kopfschmerzen wie einen Regenbogen in allen Farben des Schmerzes. Man sollte den Thüringern die Herstellung ausländischer Alkoholika nicht gestatten. Wobei ich da nicht nur auf unsere Freunde im Süden schimpfen möchte. Auch die Berliner bei Schilkin sollten sich ganz auf die Herstellung klarer Brände konzentrieren und die Finger vom Wacholderschnaps lassen, den Gin zu nennen einer Kriegserklärung an das Empire gleichkommt.«

»Mal ganz was anderes: Du hattest was erzählt von einem Typen, der jede Reise besorgen kann. In Untertal oder so? Stimmt das oder warst du da einfach schon betrunken? Oder ich.«

»Unteres Odertal«, bestätigte Doreen. »Das habe ich von einer Tante meiner Mutter, die da in der Nähe wohnt. Der Typ soll auf einem einsamen Bauernhof leben, aber nicht gefährlich sein. Und angeblich kann er dich mit Hypnose an jeden Ort bringen, an den du reisen möchtest.«

»Mit Hypnose?«

»So habe ich es verstanden. Aber du weißt, wie so etwas ist: Das ist, was meine Mutter mir erzählt hat, was ihr angeblich Tante Margrit gesagt hat über einen Mann, der bei ihr in der Nähe wohnt. Das kann auch wie Stille Post funktionieren und am Ende ist da nur mal ein Mann in einer Hüfthose durchs Dorf gelaufen.«

»Aber warum sollten sie sich dann davon erzählen?«

»Ich glaube ja auch, dass da was dran sein könnte, sonst hätte ich es dir nicht erzählt.«

»Weil du weißt ja, dass ich schon seit Längerem davon träume, mal nach Paris zu reisen …«

»Anika«, unterbrach sie ihre Freundin, »jeder, der dich länger als zwei Gläser Wein kennt, weiß, dass du davon träumst, nach Paris zu reisen. Einfach jeder. Du weißt, ich mag dich sehr, du bist meine beste Freundin, du bist klug und wunderschön und wir haben schon viel Schönes zusammen erlebt und auch viel Scheiße, aber irgendwie musst du diese Paris-Sache mal aus dir herausbekommen. Und da du noch lange nicht Rentnerin bist, musst du entweder noch dreißig Jahre damit leben, bis du das endlich mal in die Tat umsetzen kannst, oder wir finden langsam mal eine andere Lösung. Denn ich weiß nicht, wie oft ich es noch hören kann, dass du mit dem Rohr K nach Versailles fahren willst.«

»RER«, sagte Anika französisch, »und...

Erscheint lt. Verlag 10.2.2022
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR • Fantasiereise • Hypnose • hypnotiseur • Hypochonder leben länger • Jakob Hein • Kranich • Odertal • Ostberlin • Osten • Parabel • Psychiater • Psychologie • spiegel bestseller • Strelecky • Traumreise • Utopie • Wenderoman • Wirklichkeitsflucht
ISBN-10 3-462-31023-2 / 3462310232
ISBN-13 978-3-462-31023-8 / 9783462310238
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