Ferrara (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
288 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-26589-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ferrara -  Bert Wagendorp
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Die vier Jugendfreunde Bart, Joost, David und André treffen sich in Ferrara, Fahrradstadt im Norden Italiens und Perle der Renaissance. Vor fünf Jahren haben sie sich zuletzt gesehen, am Mont Ventoux. Inzwischen sind sie in ihren Fünfzigern, und alle suchen sie nach einer neuen Lebensperspektive: Gemeinsam wollen sie ein Designhotel aufmachen. Doch selbst in Ferrara holt die Realität des Lebens sie ein. Barts Tochter Anna trifft eine Entscheidung, die ihrem Vater gar nicht gefällt, eine alte Fischerhütte im Po-Delta birgt ein düsteres Geheimnis, und Unsterblichkeit bleibt auch hier eine Illusion.

Bert Wagendorp, Jahrgang 1956, ist als Kolumnist für die niederländische Zeitung De Volkskrant und eine flämische Tageszeitung tätig. Zwischen 1989 und 1994 berichtete er unter anderem von der Tour de France. Zudem hat er das literarische Radrennmagazin De Muur mitbegründet. Sein Roman »Ventoux« war der große Überraschungsbestseller der letzten Jahre in den Niederlanden und wurde dort erfolgreich verfilmt. Die Arbeiten an der Verfilmung von »Ferrara« haben bereits begonnen.

3

Im Frühherbst 2016 lud uns André zu einer gemeinsamen Radtour ein, die wie immer in Zutphen beginnen sollte, der Stadt, die unsere Jugenderinnerungen bewahrte, nachdem wir – mit Ausnahme von David – in den Westen des Landes gezogen waren. »Wir entscheiden dann spontan, wohin wir fahren«, erklärte André in unserer WhatsApp-Gruppe The Four Horsemen of the Apocalypse, »es geht darum, mal wieder Neuigkeiten auszutauschen. Für abends hab ich einen Tisch im Schloss Engelenburg reserviert, bringt also halbwegs ordentliche Klamotten mit. Ich will mich nicht für euch schämen müssen.«

David sagte, er habe sein Rad schon seit Monaten nicht mehr angefasst, aber wir versicherten ihm, dass auch wir in mieser Form seien und im Seniorentempo fahren würden. Der Einzige, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er die Wahrheit sagte, war André. Er sah toll aus und hatte immer noch den durchtrainierten Körper eines Athleten. »Laufband und Rudergerät«, sagte er.

Es war einer dieser typischen späten Septembertage voll sanfter Erinnerungen an den Sommer; die Sonne wärmte noch ein wenig, aber das Licht war schon diffuser, als würde sich Zutphen für den Herbst verschleiern, als dürfte es nach dem harten Licht des Sommers allmählich wieder für ein paar Monate in einen Dämmerzustand versinken. Die Lichtreflexe auf dem Wasser der IJssel waren wie Zuckungen, Signale, die vor der nahenden stillen Dunkelheit warnten.

In Davids Wohnung zogen wir uns um. Die alte Vertrautheit stellte sich sofort wieder ein; wer uns nicht kannte, hätte gedacht, wir würden uns täglich sehen. Updates zum Stand der Dinge in unserem Leben wurden ausgetauscht, ein Stakkato kurzer Sätze und Codewörter, Andeutungen, hinter denen sich eine nur uns bekannte Welt verbarg, kleine Sticheleien, die mit dem Hochziehen einer Augenbraue oder einem Grinsen beantwortet wurden.

Für einen Aufwärmkaffee fuhren wir zum Vaticano am Houtmarkt, setzten uns draußen an einen Tisch und beobachteten die Leute, die vorbeikamen, in der Hoffnung, jemanden von früher zu erkennen. David beteiligte sich nicht an dem Spielchen, er kannte vermutlich sowieso drei Viertel von ihnen. Joost zeigte auf einen Mann mit einer vollen Albert-Heijn-Tüte, der von einer Frau begleitet wurde.

»Kennt ihr den noch?«

»Keine Ahnung.«

»Frits Hesseling. War eine Klasse über uns.«

»Mensch, du hast recht«, sagte André. »Sieht nicht besonders glücklich aus. Und seine Frau auch nicht. Kommt mir übrigens bekannt vor.«

»Mia soundso«, sagte ich. »Ich vermute, sie hat sich in einen Kollegen verliebt und spielt nach dreißig Jahren mit dem Gedanken, Frits zu verlassen. Die Kinder sind aus dem Haus, und sie hat auf einmal keine Lust mehr.«

David lachte. »Ihr projiziert eure eigenen Probleme auf nichts ahnende andere Menschen. Frits kommt manchmal zu uns ins Café. Aber nicht mit ihr.«

»So? Mit wem denn dann?«

»Berufsgeheimnis.« Er hob die Hand, und Frits erwiderte den Gruß.

»Fritsie!«, rief Joost. Frits reagierte nicht, seine Frau musterte uns argwöhnisch.

»Jeden Sonntagvormittag bin ich hier mit meinem Vater zum De Korenbeurs gegangen«, sagte ich. »Da hat er Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Und ich Donald Duck. Mit einem Kakao. Ich glaube, so hat er die Illusion aufrechterhalten, dass er noch ein eigenes Leben hätte.«

»Mit dir als Beweis des Gegenteils neben sich«, meinte Joost.

»Ich bin immer mit meiner Mutter zum Markt gefahren, hinten auf ihrem Rad«, sagte André. »Sie hat jedes Mal dieselben Marktstände abgeklappert, Käse, Kartoffeln, Obst, zuletzt ging sie zum Fischstand, wo sie zwei Heringe kaufte. Und all die Typen haben mit ihr geflirtet, und meine Mutter hat verführerisch gelächelt. Es machte mich eifersüchtig, ich hatte das Gefühl, dass sie mich vergaß.«

»Weißt du noch, wie du hier mal auf meinen Schultern gesessen hast, Dré?«, fragte Joost. »Hopp, Joossie, hopp, hast du gerufen. Es goss wie aus Eimern, aber das machte uns nichts aus.«

»Weiß ich noch!«, antwortete André. »Ich war zu stoned, um auch nur einen Schritt zu gehen. Und anschließend sind wir zu dir nach Hause, da haben wir Strammen Max gegessen.«

»Und du hast das Sofa vollgekotzt. Wovon Mutter Marjolein nicht begeistert war. Und David hat saubergemacht. Peter hat sich die ganze Zeit halb totgelacht. War Laura eigentlich auch dabei?«

»Nein«, sagte David. »Wenn ich mich recht erinnere, war das nicht lange vor unseren Abschlussprüfungen, Frühjahr 1982. Das heißt, sie hat natürlich gepaukt.« Wie immer ergänzte David die Details. »Ein halbes Jahr später war alles kaputt.«

»Aber das wussten wir damals zum Glück nicht«, erwiderte Joost. »Sonst wären wir nicht so gut gelaunt gewesen.«

»Nichts wussten wir«, ergänzte ich.

»So ist es auch heute, Bart. So ist es immer.« Während er das sagte, grüßte David mit erhobener Hand eine junge Frau. »David!«, rief sie fröhlich.

»Freundin von George. Enkelin von Giesma, Mathe.«

André schüttelte ungläubig den Kopf. »Irre, hier geht alles einfach immer weiter. Ist er noch am Baudartius-Kolleg?«

»Ja. Geht aber demnächst in Pension.«

»Die Menschen hier haben das Rätsel der Zeit geknackt«, erklärte Joost. »Das sagen sie nur niemandem, denn sonst wäre hier bald viel zu viel los. Aber in Zutphen bleibt alles für immer gleich.«

André winkte der Kellnerin. »Noch einen Kaffee, und dann sind wir weg.«

Wir fuhren die IJssel entlang nach Bronkhorst. Niemand erhob Einwände, als David vorschlug, uns dort kurz an einen der Tische vor dem Restaurant Wapen van Bronkhorst zu setzen. Joost sagte, er habe mein neuestes Buch gelesen.

»Wie hat’s dir gefallen?«, fragte David.

»Gut«, antwortete Joost, »hab mir gleich Sorgen gemacht, Bart. Wollte dich noch anrufen, bin dann aber irgendwie wieder nicht dazu gekommen. Klasse, wie du diesen Premierminister beschreibst. Saukomisch.«

»Man borgt sich hier was, klaut da was, denkt sich den Rest aus, so ungefähr macht man das als Romanautor.«

»Ihr Schriftsteller dürft das«, sagte Joost. »Ihr macht nichts anderes, als zu plagiieren. Ihr tut so, als würdet ihr euch was ausdenken, dabei stammt alles unmittelbar aus der Wirklichkeit.« Er starrte einen Moment trübsinnig vor sich hin. »Los«, sagte er dann, nachdem er einen Zwanziger auf den Tisch gelegt hatte. »Wir brechen auf. Die Fähre wartet.«

Und dann, als wir am anderen Ufer der IJssel weiterfahren wollten, verkündete Joost plötzlich, er habe vor auszuwandern, nach Ferrara, Italien. Er habe das Vorkaufsrecht auf ein Haus in der Stadt. Kein Ferienhaus, sondern ein alter Palazzo, den er in ein Designhotel verwandeln wolle. André bremste scharf ab. David lachte laut auf, ich legte Joost die Hand auf die Schulter und starrte ihn fassungslos an.

»Joost in der Sendung Ich wandere aus!«, rief André. »Hast du schon bei denen angerufen? Hast du gesehen, wie die Leute nach zwei Wochen in einem Schweinestall irgendwo in den Bergen flennend auf den Knien darum betteln, nach Heerhugowaard zurück zu dürfen? Okay, wir begeben uns zum nächstgelegenen Etablissement, und da erzählt uns Joost alles von seinen Plänen. Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.«

Das nächstgelegene Etablissement war das Café in Bronkhorst, weshalb wir kurz danach wieder auf der Fähre standen. »Es hat uns auf dieser Seite nicht gefallen«, sagte Joost zu dem Schiffer.

Auf der Terrasse vor dem Wapen van Bronkhorst bestellten wir Strammen Max. »Schon wieder zurück?«, fragte der Kellner. »Wir haben Heimweh gekriegt«, antwortete Joost. Der Kellner nickte verständnisvoll. »Ich fahr da auch nie hin. Am anderen Ufer fängt der Westen an.«

Wenn Joost einen Entschluss fasste, geschah das selten impulsiv. Was er tat, basierte auf Axiomen, Gleichungen, Formeln. Als wir 1982 den Ventoux hinaufgefahren waren und seine Zeit eine andere war als vorher von ihm berechnet, anders gesagt, als ich schneller gewesen war als er, lag das nicht an seinen Berechnungen, nein, seiner Ansicht nach stimmte mit der Wirklichkeit etwas nicht.

Bei der Auswahl seines neuen Wohnortes war er gründlich vorgegangen. Er hatte versucht, alles Zufällige auszuschließen, denn er wollte nicht nur einen geeigneten Ort für sein weiteres Leben finden, sondern einen Ort, an dem er endlich glücklich werden und jener ideale Joost sein konnte, der ihm seit jeher vorschwebte, aber bisher ein unerreichbares Ziel geblieben war. Er dachte in Gleichungen, deren Ergebnis, wenn man alle Unbekannten richtig errechnete, zwangsläufig der neue Joost sein musste, vollkommen glücklich in seinem selbstgeschaffenen Paradies.

Wir mussten lachen, als er uns seine Methode erklärte. Wir kannten ihn ja nicht anders, aber diesmal schien er bei seinem Versuch, jedes Risiko eines Scheiterns auszuschließen, noch einen Schritt weiter zu gehen; für Experimente blieb keine Zeit mehr.

»Erst einmal musste ich mich für ein Land entscheiden«, sagte er. »Option Nummer eins, in den Niederlanden bleiben, fiel weg, das ist wohl klar. Ich hab hier nichts mehr zu suchen, man stellt mir wegen dieser unbedeutenden Affäre hartnäckig nach, ich werde nie wieder eine Chance bekommen. Nächste Frage: Welches Land denn dann? Ich hab’s gern warm und sonnig, Punkt eins. Also in den Süden. Aber nicht zu weit nach Süden, dann wird’s zu warm, und man landet in der Sahara. Irgendwas am Mittelmeer also. Nicht zu weit entfernt von meinen Töchtern. Portugal, Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland, Kroatien,...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2022
Übersetzer Andreas Ecke
Sprache deutsch
Original-Titel Ferrara
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2022 • Bestsellerautor • eBooks • Fahrradstadt • Freundschaft unter Männern • Humor • Italien • lustig • lustige • neue Lebensperspektive • Neuerscheinung • Padellone • Po-Delta • Roman • Romane • Spannung • Unsterblichkeit • Vater und Tochter • Ventoux
ISBN-10 3-641-26589-4 / 3641265894
ISBN-13 978-3-641-26589-2 / 9783641265892
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