Was alles so vorkommt (eBook)

Dreizehn alltägliche Phantasiestücke
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
186 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77005-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was alles so vorkommt -  Karl Heinz Bohrer
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Die »Dreizehn alltäglichen Phantasiestücke«, mit denen Karl Heinz Bohrer nach seiner wissenschaftlichen Studie über den »Hass« zu kleineren, handlichen Formen übergeht, sind so alltäglich nicht: Sie zeigen die Handschrift eines ruhelosen Intellektuellen, der in der konzentrierten Form kurzer Prosa über ausgewählte Befindlichkeiten, Vorlieben, Emphatisierungen, Verstörungen, auch Antipathien eines langen Lebens Auskunft gibt. Mit einem suggestiven Erlebnisbericht über eine Bahnfahrt nach Brüssel - auf dem Höhepunkt der Hitzeperiode des Jahres 2018 -, die in einer apokalyptischen Erfahrung buchstäblich zu entgleisen droht, setzt Bohrer den Ton, bevor es weitergeht zu den Fundamenten unseres Gefühlslebens: zu Herkunft und Wesensart des Ressentiments etwa, zu den Wurzeln von Freundschaft und Entfremdung, zu Reflexionen über Isolation, Einsamkeit und Alleinsein und zu narzisstisch gespiegelter Selbstwahrnehmung.

So entfaltet sich ein reiches Panorama ganz unterschiedlich gestimmter Gedanken und Erinnerungen, in denen der Autor, wie von ihm gewohnt, kein Blatt vor den Mund nimmt und den Leser das Alltägliche denn doch als die aufregende Begegnung mit dem schlechthin Fremden erfahren lässt.



<p>Karl Heinz Bohrer, geboren 1932 in K&ouml;ln, war Literaturkritiker, Herausgeber, Wissenschaftler, Verfasser vieler Werke um die zentrale Idee des Momentanismus, der &raquo;Pl&ouml;tzlichkeit&laquo;. Langj&auml;hrige Aufenthalte in Frankreich und England als bewusste Erfahrung der &raquo;Fremde&laquo;. Hochschullehrer in Deutschland, Frankreich und den USA. Als scharfz&uuml;ngiger, auch polemischer Zeitkritiker stand er immer wieder im Zentrum heftiger Diskussionen. Bohrer verstarb am 4. August 2021 in London.</p>

Eine Eisenbahnfahrt nach Brüssel


Die berühmteste Fahrt nach Brüssel war die in einer Kutsche, in der vier phantastische Gestalten beisammensaßen: eine alte Zigeunerin, ein Bärenhäuter, ein weiblicher Golem und eine bösartige Alraunwurzel, die menschliche Züge und Fähigkeiten besaß und zur Hauptfigur erkoren wurde. Erzählt hat diese Fahrt Achim von Arnim 1812, und rund zwanzig Jahre später pries sie Heinrich Heine den Franzosen als das Grauenhafte und wahrhaft Gespenstische an, das ihre urban geprägte Phantasie übersteige.

Möglicherweise wäre er anderer Meinung gewesen, hätte er ihre Fahrt nach Brüssel gekannt. Als sie letzten Juli gegen 14 Uhr in Köln auf den Zug warteten, tauchten sie in eine Hitze ein, die besser noch als Lauge beschrieben wäre. Überraschend, irgendwie grotesk, als wäre man aus dem deutschen Wald in eine tropische Gegend geraten, in der bald auch deren Tiere erscheinen würden. Vor ihnen lag die bekannte Strecke über Aachen und Lüttich/Liège. In zwei Stunden würden sie in Brüssel sein. Es war noch heißer als am Tag zuvor. Sie hatte sich in den schmalen Schatten einer Säule gestellt, um den Angriff der Sonne, anders konnte man es nicht nennen, etwas abzuwehren. Sie liebte das kühle Wetter und vermied die Hitze, soweit es möglich war.

Der Zug hatte nur zehn Minuten Verspätung, aber als er einfuhr, war es auch für den Mann erlösend. Die Kühle des Wagens erster Klasse ließ ihn die extreme Temperatur unter der gläsernen Bahnhofskuppel als überstandene Gefahr empfinden.

Damit aber fing alles erst an. Der Zug fuhr sehr langsam an. Er fuhr sehr langsam weiter. Er nahm auch nicht Fahrt auf, als er das Stadtgebiet verlassen hatte. Wieso nicht? War an den Gleisen, auf denen sie fuhren, etwas nicht in Ordnung? Aber man würde es doch nicht riskieren, auf einer Strecke zu fahren, die defekt war. Nun ja, es würde irgendeinen harmlosen Grund geben, bestimmt. Und auch der schon eingetretene Zeitverlust war bislang unerheblich für das Umsteigen in Brüssel in den Zug nach London, als plötzlich eine Stimme aus dem Wagenlautsprecher zu hören war: Man könne wegen Komplikationen nicht auf der üblichen Strecke nach Aachen weiterfahren, man müsse warten, bis diese beseitigt seien. Der Wagen kam allmählich zum Stehen. Der Wagen stand. Er stand ziemlich lange. Offenbar dauerte das mit der Regelung der Verhältnisse. Der Verdacht, dass gar nichts geregelt würde, lag nahe. Die Stimme aus dem Lautsprecher meldete sich wieder, in ihrem belgischen Französisch, Englisch und Deutsch nur schwer verständlich. Dass sie sich etwas umständlich entschuldigte für die entstandene Verspätung, so viel wurde jedoch klar, und dass man sogar zurückfahren müsse, um ein unbeschädigtes Gleis in Richtung Aachen zu finden. Nicht bloß das Gleis, offensichtlich auch die vorausliegende Schaltstelle funktionierte nicht. Mehr als die Hälfte der angesetzten Fahrzeit nach Aachen war mittlerweile bereits verstrichen, und immer noch hatten sie die ganze Fahrt dorthin vor sich. Immerhin funktionierten die Kühle spendenden Luftmaschinen.

Die nächste Ansage teilte jedoch eine neue Überraschung mit, wenn man so etwas denn Überraschung nennen kann: Man würde jetzt nicht auf einer Strecke nach Westen fahren, die sie unmittelbar zur deutsch-belgischen Grenze brächte. Nein, wegen des Zustands aller Gleise in dieser Richtung ginge es zunächst nach Nordwesten. Was für ein Zustand? Warum? Die abermals sich meldende Lautsprecherstimme schien um Verständnis zu flehen. Sie erklärte nichts, sie teilte vielmehr als weitere Neuigkeit mit, dass man, sobald man Aachen erreicht habe, nur noch nach Liège weiterführe. Dort hätten alle Reisenden, die nach Brüssel wollten, in einen wartenden belgischen Regionalzug umzusteigen.

Irgendwo auf der Höhe von Mönchengladbach musste der Zug schließlich die Richtung nach Südwesten genommen haben, den Zwischenhalt Aachen nunmehr endlich im Visier. Gesagt wurde den beiden das zwar nicht. Doch die nun auftauchenden kleinen Orte und Städte lagen südlich von dem gerade zurückgelassenen Mönchengladbach. Der Zug fuhr nach wie vor sehr langsam. Der nervöse Schaffner, der die ganze Zeit hin- und hergelaufen war, antwortete auf die Frage, warum man noch immer so langsam fahre, ob denn auch diese Gleise nicht in Ordnung seien: »Das weiß ich nicht.« Derweil hatten die nächstsitzenden jungen Männer ihre Mutmaßungen über diese seltsame, absurd wirkende Fahrt vorgebracht: Es seien nicht die technischen Fehler schuld, die man seit längerer Zeit der Deutschen Bahn nachsage und die Ursache der häufigen Verspätungen einer Institution geworden seien, die sich einmal auf dem Ruf ihrer Pünktlichkeit habe ausruhen können. Nein, das sei es nicht. Es sei die seit Tagen wie noch nie brennende Sonne, die nicht bloß die Stellwerke außer Betrieb gesetzt, sondern hier und dort die Gleise selbst an die Schmelzgrenze gebracht habe. Demnach konnten die Schienen nach Aachen überall beschädigt sein. Mit Sicherheit wusste das, wie schon der Schaffner es ausgedrückt hatte, jedoch keiner zu sagen. Und sie alle verstanden ja im Grunde auch nichts von Eisenbahntechnik. Man wusste nur, dass etwas sehr Beunruhigendes vor sich ging. Das bisher als sicherstes geltende System, das so lange Vertrauen erweckende Gefährt, war außer Kontrolle geraten, ohne dass jemand es erklären konnte. Das war es: So viel die Stimme im Lautsprecher auch redete, sie wusste nichts wirklich Aufklärendes zu sagen. Wie sollte sie auch! Man wusste, dass Schienen durch Regenüberschwemmungen und winterliches Eis unbefahrbar werden können. Das kam immer wieder mal vor. Das hier aber war noch nie vorgekommen.

Es hatte etwas Chaotisches. Es war das Chaos! Dass so etwas von der Natur herrührte, war in diesen Breitengraden neu. Das Wort, das man bislang nur metaphorisch benutzt hatte, um Unordnung, ein Durcheinander der gewohnten Ordnung, zu charakterisieren, hatte plötzlich seinen metaphorischen Charakter verloren. Nun saßen die Leute im Zug und fühlten sich zusehends einem nichtverständlichen Zwang von oben ausgesetzt, den die verschwommenen Sätze aus dem Lautsprecher nur noch verstärkten. Die dazugehörige Stimme schien aus dem Mund eines Verwirrten zu kommen, der sich seiner Lage selbst bewusst war und sich ständig dafür entschuldigte. Die Stimme wirkte panisch, als er nun das Gegenteil von dem sagte, was er gerade zuvor gesagt hatte. Die Namen der Städte, der kleinen Orte flogen nicht vorbei, sondern zogen gemächlich dahin, gut lesbar für alle. Und als der Name Geilenkirchen auftauchte, wussten jene, die sich etwas in der Gegend auskannten, sich tatsächlich auf dem Weg in Richtung der Grenzstadt Aachen. Immerhin! Man hätte sie vor einer Stunde in Richtung Brüssel verlassen sollen. Am nächsten Tag würde in der Zeitung zu lesen sein, dass bei Geilenkirchen die Sonne mit 40,5 Grad am intensivsten über Deutschland gestanden habe. Wegen des noch funktionierenden Kühlsystems war sie bisher nur zu ahnen gewesen.

Die Lautsprechererklärung hatte nicht gesagt, die Schienen würden schmelzen. Konnte Eisen überhaupt außerhalb eines Feuers schmelzen? Zuvor – das wusste man, wenn man einmal in einer Schmiede zugesehen hatte – glühte es. Doch nirgends glühten die Schienen, was jedoch nichts änderte an den sich längst einstellenden Zweifeln an der gewohnten Ordnung der Dinge. Die Sonne musste – anders waren die langsame Fahrt und ihr Umweg ja gar nicht zu erklären – überall Schienen beschädigt haben. Man war also auf offenem Feld unter den Effekt ihres Feuers geraten. Als dieser Gedanke ihn als Gedanke, noch nicht als Furcht, überkam, mengte sich dem die Vermutung einer möglichen, die Kultur verändernden Katastrophe in der Natur bei. Was bisher ein Thema der Umweltschützer gewesen war, schien nunmehr in Realität umgeschlagen.

Die Gegend, durch die sie fuhren, war ihm von Jugend an als attraktiv erschienen. Nicht, dass man sie als schön bezeichnen konnte. Sie war ja flach, irgendwie langweilig, verglich man sie mit dem eigentlichen Rheinland. Aber manche Orte hatten es ihm angetan, weil an ihren Namen das Sich-Nähern, die näher kommende Grenze nach Westen erkennbar wurde. Düren war noch so vertraut wie die westlichen Vororte von Köln, Bocklemünd und Bickendorf. Kerpen und Jülich, nicht viel weiter westlich, klangen da schon verheißungsvoll fremder. Noch vielversprechender war der Name der südlich gelegenen Stadt Zülpich, in deren Gegend er einmal als Student mit dem Fahrrad unterwegs gewesen...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller bücher • buch bestseller • Einsamkeit • Entfremdung • Erfahrungen • Erinnerungen • Essays • Fremde • Fremdheit • Freundschaft • Gefühlsleben • Hass • Lebensbericht • Phantasiestücke • Reflexion • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • ST 5213 • ST5213 • suhrkamp taschenbuch 5213
ISBN-10 3-518-77005-5 / 3518770055
ISBN-13 978-3-518-77005-4 / 9783518770054
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