Acht Berge (eBook)

Roman. »Das Wunder eines Romans.« NDR Kultur
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29091-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Acht Berge -  Paolo Cognetti
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Eine Geschichte vom Aufbrechen und vom Wiederkehren
Wagemutig erkunden Pietro und Bruno als Kinder die verlassenen Häuser des Bergdorfs, streifen an endlosen Sommertagen durch schattige Täler, folgen dem Wildbach bis zu seiner Quelle. Als Erwachsene trennen sich die Wege der beiden Freunde: Der eine wird das Dorf nie verlassen und versucht die Käserei seines Onkels wiederzubeleben, den anderen drängt es in die weite Welt hinaus, magisch angezogen von immer noch höheren Gipfeln. Das unsichtbare Band zwischen ihnen bringt Pietro immer wieder in die Heimat zurück, doch längst sind sie sich nicht mehr einig, wo das Glück des Lebens zu finden ist. Kann ihre Freundschaft trotzdem überdauern?

Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt seine Zeit am liebsten im Hochgebirge, und seine Erlebnisse in der kargen Bergwelt inspirieren den Mathematiker und Filmemacher zum Schreiben. Für seinen internationalen Bestseller »Acht Berge« , der ins Aostatal führt, erhielt er u. a. den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega. »Das Glück des Wolfes« ist sein neuester Roman, der erneut in über 20 Ländern erscheint.

Mein Vater ging auf seine Art in die Berge: Er war weniger ein Mann der Meditation als ein Dickkopf und Draufgänger. Er begann den Aufstieg, ohne seine Kräfte einzuteilen, stets im Wettlauf gegen irgendwen oder was, und wenn ihm ein Weg zu lang war, nahm er eine Abkürzung. Bei ihm war es verboten zu rasten, verboten über Hunger, Kälte oder Erschöpfung zu klagen, dafür durfte man ein schönes Lied singen, besonders bei Gewitter oder dichtem Nebel. Und sich laut johlend die Schneefelder hinabstürzen.

Meine Mutter, die ihn schon von klein auf kannte, erzählte, dass er schon damals auf niemanden warten wollte, so wild war er darauf, jeden einzuholen, den er vor sich hatte. Deshalb musste man gut zu Fuß sein, um in den Augen meines Vaters Gnade zu finden. Mit einem Lachen gab sie mir zu verstehen, dass sie ihn so erobert hatte. Später zog sie es vor, keine Wettläufe mehr zu veranstalten, sondern sich auf einer Wiese niederzulassen, die Füße in einen kalten Wildbach zu hängen oder Kräuter und Blumen zu bestimmen. Auch auf dem Gipfel bewunderte sie am liebsten die Kuppen in der Ferne, dachte an die Berge ihrer Jugend zurück und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie mit wem wo gewesen war, während mein Vater in diesem Moment nichts als Ernüchterung empfand und nur noch nach Hause wollte.

Zwei unterschiedliche Reaktionen auf dasselbe Heimweh vermutlich. Meine Eltern waren mit Anfang dreißig in die Stadt gezogen, fort aus dem ländlichen Veneto, wo meine Mutter geboren und mein Vater als Kriegswaise aufgewachsen war. Ihre ersten Berge, ihre erste große Liebe, waren die Dolomiten gewesen. Sie erwähnten sie manchmal in ihren Gesprächen, als ich noch zu klein war, ihnen zu folgen, aber manche Worte ragten eindeutig heraus, weil sie sonorer, gewichtiger waren: Rosengarten, Langkofel, Tofana, Marmolada. Es genügte, dass mein Vater einen dieser Namen nannte, und die Augen meiner Mutter begannen zu leuchten.

Das waren die Orte, an denen sie sich verliebt hatten, wie auch ich irgendwann begriff. Ein Pfarrer hatte sie in jungen Jahren mit dorthin genommen, derselbe, der sie später auch traute: am Fuß der Drei Zinnen, dort vor der kleinen Kirche, eines Morgens im Herbst. Diese Hochzeit im Hochgebirge war der Gründungsmythos unserer Familie – boykottiert von den Eltern meiner Mutter, ohne dass ich gewusst hätte, warum, gefeiert im Kreis weniger Freunde, mit Anoraks statt Hochzeitsgewändern und mit einem Bett in der Auronzohütte in ihrer ersten Nacht als Mann und Frau. Auf den Felsbändern der Großen Zinne glitzerte bereits Schnee. Es war ein Samstag im Oktober ’71, das Ende der Klettersaison – damals, aber auch noch für viele Jahre danach: Wenig später verfrachteten sie die ledernen Bergstiefel, die Kniebundhosen, ihren schwangeren Bauch und seinen Arbeitsvertrag ins Auto und zogen nach Mailand.

Gelassenheit gehörte nicht gerade zu den Tugenden meines Vaters, aber in der Stadt hätte er sie besser gebrauchen können als Ausdauer. Eine gute Aussicht hatten wir auch in Mailand; in den Siebzigern wohnten wir in einem Haus, das an einer breiten, stark befahrenen Allee stand. Unter dem Asphalt floss angeblich ein Fluss, die Olona. Tatsächlich führte die Straße an Regentagen Wasser, und dann stellte ich mir vor, wie der Fluss da unten im Dunkeln brodelte und anschwoll, bis er aus der Kanalisation kam. Doch es war der andere Fluss aus Autos, Transportern, Mopeds, Lastern, Bussen und Krankenwagen, der ständig Hochwasser hatte. Wir wohnten oben im siebten Stock, und die beiden identischen Häuserreihen, die unsere Straße säumten, verstärkten den Lärm. In manchen Nächten hielt es mein Vater einfach nicht mehr aus. Dann stand er auf und riss das Fenster auf, als wollte er die Stadt beschimpfen, ihr befehlen zu schweigen oder sie mit flüssigem Pech begießen. Minutenlang starrte er nach unten, um anschließend in seine Jacke zu schlüpfen und einen Spaziergang zu machen.

Aus diesen Fenstern sahen wir ein großes Stück Himmel. Ein eintöniges Weiß, egal zu welcher Jahreszeit, einzig und allein von Vögeln durchzogen. Meine Mutter ließ sich nicht davon abhalten, Blumen zu ziehen, auf einem von Auspuffgasen geschwärzten und von Dauerregen schimmlig gewordenen kleinen Balkon. Dort hegte sie ihre Pflänzchen und erzählte mir von Weinbergen im August, draußen auf dem Land, wo sie aufgewachsen war, von an Holzbalken aufgehängten Tabakblättern in den Trockenschuppen oder vom Spargel, der – um weiß und zart zu bleiben – geerntet werden muss, bevor er aus dem Boden sprießt, weshalb man einen besonderen Blick dafür braucht, ihn unter der Erde zu erkennen.

Jetzt nutzte sie diesen Blick auf andere Weise. Im Veneto war sie Krankenschwester gewesen, während sie in Mailand als Familienhelferin im Olmi-Viertel arbeitete, in den Sozialwohnungen am westlichen Stadtrand.

Das war ein noch ganz neuer Beruf, der gerade erst eingeführt worden war, genau wie die Beratungsstelle, für die sie arbeitete und die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Frauen während der Schwangerschaft zu unterstützen und Neugeborene während des ersten Lebensjahrs zu begleiten. Das war auch der Job meiner Mutter, der ihr gut gefiel. Nur dass man in ihrem Einsatzgebiet ein ziemliches Sendungsbewusstsein dafür brauchte. In diesem sogenannten Ulmen-Viertel gab es nämlich alles andere als Ulmen. Sämtliche Straßennamen in diesem Stadtteil, all die Erlen-, Fichten-, Lärchen- und Birkenwege, waren der reinste Hohn inmitten von zwölfstöckigen Mietskasernen, die von allen möglichen Problemen heimgesucht wurden. Zu den Aufgaben meiner Mutter gehörte es auch, das Umfeld zu kontrollieren, in dem ein Kind aufwuchs – es waren erschütternde Hausbesuche, die sie oft tagelang beschäftigten. In Extremfällen musste sie das Jugendamt informieren. Es war schwer für sie, sich zu so einer Entscheidung durchzuringen – von den vielen Beleidigungen und Drohungen einmal abgesehen. Trotzdem wusste sie, dass sie richtig handelte. Und damit war sie nicht allein. Sie fühlte sich den Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen und Lehrerinnen eng verbunden, so als hätten sie eine kollektive weibliche Verantwortung für diese Kinder.

Mein Vater hingegen war schon immer ein Einzelgänger. Er war Chemiker in einer Fabrik mit zehntausend Arbeitern, die fortwährend von Streiks und Entlassungen gebeutelt wurde. Doch egal, was dort vorfiel – er kehrte stets wutentbrannt zu uns zurück. Beim Abendessen schaute er stumm die Nachrichten, die Hände mit dem Besteck in der Luft erstarrt, so als rechnete er jeden Moment mit dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs. Bei jedem gewaltsamen Tod, bei jeder Regierungskrise, bei jeder Benzinpreiserhöhung und bei jedem anonymen Bombenattentat fluchte er leise vor sich hin. Mit den wenigen Kollegen, die er zu uns nach Hause einlud, wurde fast nur über Politik diskutiert, was stets in Streit ausartete. Bei Kommunisten machte er einen auf Antikommunist, bei Konservativen einen auf radikal und bei jedem, der ihn zum Kirchen- oder Parteieintritt bewegen wollte, kehrte er den Freidenker heraus. Aber das war keine Zeit, in der man sich einer Gruppenzugehörigkeit verweigern konnte, deshalb dauerte es nicht lange, und die Arbeitskollegen stellten ihre Besuche ein. Trotzdem ging er weiterhin in die Fabrik, als müsste er jeden Morgen in den Schützengraben, schlief schlecht und wollte die Dinge erzwingen, griff zu Ohrstöpseln und Kopfschmerztabletten und bekam cholerische Anfälle. Dann trat meine Mutter auf den Plan, die es als ihre eheliche Pflicht betrachtete, ihn zu besänftigen, die Schläge im Kampf meines Vaters mit der Welt zu dämpfen.

Zu Hause sprachen sie nach wie vor den Dialekt des Veneto. In meinen Ohren war das ihre Geheimsprache, der Widerhall eines früheren rätselhaften Lebens. Noch so ein Überbleibsel aus der Vergangenheit wie die drei Fotos, die meine Mutter auf dem Flurtischchen aufgestellt hatte. Ich sah sie mir häufig an. Das erste zeigte ihre Eltern in Venedig, auf der einzigen Reise ihres Lebens – ein Geschenk meines Großvaters an die Großmutter, zur Silberhochzeit. Auf dem zweiten posierte die ganze Familie bei der Ernte: Die Großeltern saßen in der Mitte, drei junge Frauen und ein junger Mann umstanden sie, dazu drei Körbe mit Trauben bei der Tenne. Auf dem dritten der einzige Sohn, mein Onkel, lachend mit meinem Vater neben einem Gipfelkreuz, ein aufgerolltes Seil um die Schulter und in Bergsteigermontur. Er war früh gestorben, weshalb ich seinen Namen trug, auch wenn ich Pietro und er Piero genannt wurde. Trotzdem kannte ich keinen dieser Leute. Wir besuchten sie nie, und sie kamen auch nie nach Mailand. Ein paarmal im Jahr nahm meine Mutter samstagmorgens den Zug, um sonntagabends trauriger als bei der Abfahrt wieder zurückzukehren. Doch dann verflog ihre Traurigkeit, und das Leben ging weiter. Es gab einfach zu viel zu tun, zu viele Menschen, um die man sich kümmern musste, statt in Wehmut zu versinken.

Aber diese Vergangenheit machte sich bemerkbar, wenn man es am wenigsten erwartete. Im Auto, während der langen Fahrt, die mich zur Schule, meine Mutter zur Beratungsstelle und meinen Vater zur Fabrik brachte, stimmte sie morgens manchmal ein altes Lied an. Mitten im Verkehr sang sie die erste Strophe, woraufhin er mit einfiel. Diese Lieder spielten in den Bergen und handelten vom Ersten Weltkrieg: La tradotta, La Valsugana, Il testamento del capitano. Es waren Geschichten, die ich inzwischen auswendig kannte. Mit siebenundzwanzig Mann waren sie an die Front gezogen und nur zu fünft heimgekehrt. Unten am Piave harrte ein Kreuz auf eine Mutter, die es irgendwann aufsuchen würde. Und in der Ferne wartete sehnsüchtig die Braut, doch eines Tages war sie es leid und heiratete einen andern. Der Sterbende...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2021
Übersetzer Christiane Burkhardt
Sprache deutsch
Original-Titel Le otto montagne
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtsamkeit • Alessandro Borghi • Alpen • Bäume • Berge • Bestseller • Cannes 2022 • eBooks • Einfaches Leben • Familie • Film • Filmfest München • Filmfestspiele Cannes • Freundschaft • Goldene Palme • Heimat • Jovanotti • Kino • Literaturverfilmung • Männerfreundschaft • Monte-Rosa-Massiv • Premio Strega • Robert Seethaler • Romanvorlage zum Film
ISBN-10 3-641-29091-0 / 3641290910
ISBN-13 978-3-641-29091-7 / 9783641290917
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