Die schöne Frau Seidenman (eBook)

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2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61222-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die schöne Frau Seidenman -  Andrzej Szczypiorski
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Dieser Roman handelt von der Rettung der Irma Seidenman, einer blauäugigen, schlanken und schönen Polin, und einer Vielfalt von Gestalten und Geschichten, die der Autor in einer großartigen Komposition um sie herum gruppiert. Ein Roman wie ein unvergleichliches Gemälde, voller Poesie und leisen Humors, scharf beobachtet und unsentimental.

Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nahm 1944 am Aufstand dieser Stadt gegen die deutsche Besatzung teil, kam ins KZ, betätigte sich nach dem Krieg als Schriftsteller und Publizist und wurde Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs und des Schriftstellerverbandes. 1989 wurde er von Solidarnosc als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den polnischen Senat gewählt. Er erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Szczypiorski starb 2000 in Warschau.

Andrzej Szczypiorski, geboren 1928 in Warschau, nahm 1944 am Aufstand dieser Stadt gegen die deutsche Besatzung teil, kam ins KZ, betätigte sich nach dem Krieg als Schriftsteller und Publizist und wurde Mitglied des Vorstandes des polnischen PEN-Clubs und des Schriftstellerverbandes. 1989 wurde er von Solidarnosc als Kandidat aufgestellt und vom Volk in den polnischen Senat gewählt. Er erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Szczypiorski starb 2000 in Warschau.

Im Zimmer herrschte Halbdunkel, denn der Richter mochte das Halbdunkel. Seine gewöhnlich unfertigen und nebulosen Gedanken gerieten ungern in die Falle des Lichts. Alles auf Erden ist dunkel und unklar, und der Richter liebte es, die Welt zu ergründen. Deshalb saß er meistens in der Ecke des riesengroßen Salons in einem Schaukelstuhl, den Kopf zurückgelehnt, und seine Gedanken wiegten sich sanft im Rhythmus des Sessels; er setzte ihn durch leichtes Berühren des Fußbodens mit den Füßen, abwechselnd mit dem linken und dann wieder mit dem rechten, in Bewegung. An seinen Füßen trug der Richter knöchelhohe, von einer Metallspange gehaltene Filzpantoffeln. Die Spange blinkte bläulich über dem Teppich, sobald das Licht der vom Schirm abgedunkelten Lampe darauffiel.

Der Schneider Kujawski betrachtete die Spangen an den Filzpantoffeln des Richters und berechnete im Geiste den Verlust, der ihm entstehen würde, falls er dem Richter das Bild im Goldrahmen, das an der Wand hing, abkaufte. Es stellte einen nackten Mann mit Hörnern dar, der auf einem Weinfaß saß. Der Schneider Kujawski glaubte, das sei der Teufel, einer jener fröhlichen, dem Trunk und den Späßen mit Frauen zugeneigten Teufel, die früher gern von Malern gemalt wurden, häufig vor einem recht dunklen und kaumerkennbaren Hintergrund. Mit einiger Mühe konnte der Schneider eine Mühle oder die Ruinen einer alten Burg ausmachen. Es waren zwar keine allzu schönen Bilder, doch hatten sie ihren Preis, und als Patriot und kultivierter Mensch legte der Schneider sein Geld in Kunstwerken an.

»Sie meinen also, lieber Freund«, sprach der Richter Romnicki, »vom Krieg genug zu haben. Genug vom Krieg! Immerhin, der Friede ist den Menschen angeboren. Wir alle wünschen den Frieden, wie Sie sich ausgedrückt haben …«

»So habe ich mich ausgedrückt«, sagte der Schneider und sah sich den Teufel auf der Tonne an. Dabei fiel ihm ein, daß dieser Teufel Faun hieß, und eine süße, selige Ruhe überkam ihn.

»Nun ja, einverstanden. Soll der Krieg zu Ende gehen«, sprach der Richter, »sofort, in diesem Augenblick. Möchten Sie das, lieber Freund?«

»Wer wollte es nicht, Herr Richter.«

»Bitte überlegen Sie sich’s gut. Ich rede im Ernst. Der Friede ist das Wichtigste, nicht wahr? Laßt uns darum den Krieg beenden. Sogleich, ohne die geringste Verzögerung. Geben Sie gut acht, lieber Herr Kujawski. Wo sind die Sowjets? Nehmen wir an, ungefähr am Don. Und die Angelsachsen? In Nordafrika. Vortrefflich. Unser werter Adolf Hitler beherrscht Europa. Und wir beenden heute den Krieg, Herr Kujawski. Denn Sie waren so freundlich zu bemerken, der Friede sei das Wichtigste. Ist es nicht so?«

»Herr Richter«, rief Kujawski aus. »Wie denn? Mit den Deutschen am Hals?«

»Entscheiden Sie sich, verehrter Freund. Außerdem werden sie sich von morgen an ändern. Es gibt Frieden, Friedengibt es! Erst die Präliminarien, versteht sich, dann die Friedenskonferenz, ein paar Zugeständnisse von beiden Seiten. Die Sowjets dies, Hitler das, die Angelsachsen noch etwas anderes, aber Sie stehen ja auf dem Standpunkt, der Friede sei das Wichtigste, deshalb müssen sie irgendwie übereinkommen, dafür hat die Welt ihre Diplomaten, Staatsmänner, all die öffentlichen und geheimen Kanzleien, den Austausch von Dokumenten, Zylinder, Limousinen, Champagner, Friede den Menschen guten Willens, Herr Kujawski.

»Herr Richter«, murmelte der Schneider.

»Tu l’as voulu, George Dandin!« rief der Richter mit entschlossener Stimme. »Jetzt bitte ohne Winkelzüge. Für die Winkelzüge sind auf der Welt andere Leute zuständig. Ach, teurer Freund, Kopf hoch! Wir haben ja Frieden! Und weil wir Frieden haben, dürfen die Okkupanten nicht länger so schrecklich wüten. Nun ja, wir sind unfrei. Aber wir haben uns daran gewöhnt, lieber Herr Kujawski. Schließlich sind wir beide in Unfreiheit geboren und werden auch in Unfreiheit sterben. Nun ja … Fest steht, daß sie uns zunächst grausam ausnützen werden. Vierzehn Stunden Sklavenarbeit täglich. Eine Schüssel dünne Suppe, Peitschen, Schläge. Aber das vergeht nach einiger Zeit. Weil Friede eingetreten ist, haben sie keine Chance, neue Sklaven zu nehmen. Sie müssen sich um diejenigen kümmern, die für sie arbeiten. Kopf hoch, lieber Herr Kujawski. Sind erst ein paar Jahre vergangen, werden wir acht Stunden täglich arbeiten, sie werden uns gute Lebensmittelkarten geben, sogar Kaffee und Tee werden wir bekommen, wie denn sonst, da doch Friede auf Erden ist, da man doch miteinander handelnmuß. Trinken denn die Engländer allen indischen Tee alleine? Liefern die Sowjets nicht Erdöl, Weizen, Kartoffeln und was sonst noch?! Wir werden leben, lieber Herr Kujawski, zwar unter fremdem Stiefel, das läßt sich nicht verbergen, dafür aber in Frieden, denn von heute abend an herrscht Friede auf der Welt, das höchste Gut des Menschen und der Menschheit, Herr Kujawski, nach dem sich unsere geplagten, dummen, durch Unfreiheit entehrten, an Demut, Erniedrigung, Unterwürfigkeit gewöhnten Seelen sehnen, nicht heute natürlich, noch nicht heute, doch in einiger Zeit, in einigen Jährchen, wenn sie uns erst eigene Schulen gegeben haben, ja doch, mit unserer Muttersprache in allen Fächern ohne Ausnahme, wenn wir Brot essen mit Speck und sich vielleicht sogar eine Flasche französischer Kognak findet, vielleicht schwedischer Hering, vielleicht eine Havanna-Zigarre! Überlegen Sie nur, lieber Freund, wie viele Tugenden und lobenswerte Taten unter der Sonne des europäischen Friedens erwachsen werden. Wie freudvoll das Leben unserer kleinen Sklaven sein wird, der Buben und Mädchen, die von ihren Beherrschern sogar ein Bonbon kriegen werden, sogar ein buntes Spielzeug, denn sie werden sich um die Kinderlein kümmern, sogar Ovomaltine im Kindergarten verteilen, damit die Kinder gesund und kräftig werden, damit sie später redlich arbeiten können für einen bescheidenen, aber angemessenen Lohn, Kur und Erholungsurlaub, dem GrundsatzKraft durch Freude entsprechend, das heißt man soll ausruhen, sich kurieren, die Zähne plombieren lassen, sich vernünftig ernähren und hygienisch leben, weil das die unerläßliche Vorbedingung erfolgreicher und disziplinierter Arbeit ist, und wie Sie wissen,lieber Herr Kujawski,Arbeit macht frei, das heißt besonders unter der goldenen Sonne des europäischen Friedens macht sie den Menschen frei. Und nur eines wird uns fehlen. Nur eines! Das Recht zum Widerspruch! Das Recht, laut zu sagen, daß wir ein freies und unabhängiges Polen wollen, daß wir uns auf unsere eigene Weise die Zähne putzen und ausruhen wollen, auf unsere eigene Weise Kinder zeugen und arbeiten, auf unsere eigene Weise denken, leben und sterben. Dieses Eine wird uns fehlen unter der Sonne des europäischen Friedens, den Sie, mein Freund, für das höchste Gut halten.«

Der Schneider Kujawski fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Spangen an den Pantoffeln des Richters, die ihn eben noch an kleine, glänzende Sterne erinnert hatten, hielt er nun für die Augen eines wilden Tieres.

»Was Sie nicht alles sagen, Herr Richter«, murmelte er. »Ich will Frieden, versteht sich, aber unter anderen Bedingungen. Erst soll dieser ganze Hitler zur Hölle fahren …«

»Damit der zur Hölle fährt, bedarf es eines langen Krieges, Herr Kujawski«, sprach der Richter.

»Dann muß er eben lang sein, aber ihn soll der Teufel holen!«

»Meinen Sie das, mein Freund? Paßt Ihnen der Friede von heute abend an nicht mehr? Gelüstet es Sie schon wieder nach dem fröhlichen Soldatenleben? Haben Sie von all diesen Entsetzlichkeiten nicht genug? Steckt ein so blutiger Scharfrichter in Ihnen? Das hätte ich nicht erwartet, Herr Kujawski! Haben Sie noch nicht genug an Opfern, an Bränden, an polnischem und nichtpolnischem Blut, das auf Erden vergossen wird?«

Der Richter lachte laut auf. Er hielt den Schaukelstuhl an. Die Augen des wilden Tieres erloschen.

»Einverstanden, mein Freund«, sprach er. »Wir sind endlich übereingekommen, Herr Kujawski! Es muß uns immer um Polen gehen, um das Polentum, um unsere Freiheit. Kein europäischer Friede, dieser Firlefanz für Idioten, sondern Polen. Habe ich nicht recht?«

»Gewiß haben der Herr Richter recht«, antwortete Kujawski. »Aber ich bin nicht nur an Körpergröße ein Hühnersteiß, sondern auch an Verstand.«

»Sagen Sie das nicht laut! Die Wände haben Ohren. Vielleicht sitzen da irgendwelche einheimischen Demiurgen, die nur darauf warten, daß die Leute das Vertrauen zum eigenen Verstand verlieren, um innerlich zu schwanken und sich selbst mit Zweifeln zu quälen, ob sie nicht tatsächlich, wie Sie sich auszudrücken belieben, einen Hühnersteiß-Verstand haben.«

»Demiurgen«, wiederholte der Schneider. »Von denen habe ich noch nicht gehört. Ist das so was wie Installateure?«

»Das sind, werter Herr, Spezialisten für die Erlösung der Menschheit. Ehe Sie sich’s versehen, kriecht einer nach dem anderen aus dem Loch. Sie tragen den Stein des Weisen in der Hosentasche. Jeder hat einen anderen Stein, und sie bewerfen sich mit den Steinen, nur treffen sie gewöhnlich die Köpfe anständiger Menschen wie Sie oder ich. Sie wollen unsere Zukunft über ihren Leisten schlagen. Und sie wollen unsere Vergangenheit nach ihren Leisten formen. Sind Sie derartigen Leuten noch nie begegnet, Herr Kujawski?«

»Kann schon sein«, sagte der Schneider versöhnlich undbetrachtete den Faun im Goldrahmen von neuem begehrlich.

»Übrigens«, fuhr der Richter fort, »finde ich die Bemerkung über die Installateure höchst interessant. Hoffentlich sind Sie kein Prophet, lieber Herr Kujawski. Denn es...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2021
Übersetzer Klaus Staemmler
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Belletristik • Besatzung • Europa • Gegenwartsliteratur • Humor • Kameraden • Naher Osten • Poesie • Polen • Präsidentenberater • Rettung • Roman • Schicksale • Wiener Burgtheater
ISBN-10 3-257-61222-2 / 3257612222
ISBN-13 978-3-257-61222-6 / 9783257612226
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