Mein Onkel, den der Wind mitnahm (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
160 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31137-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Onkel, den der Wind mitnahm -  Bachtyar Ali
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Djamschid Khan ist hinter dicken Gefängnismauern dünn geworden. Leicht wie Papier, sodass ihn eines Tages ein Windstoß erfasst und ihn fortträgt, über die Mauern des Gefängnisses hinweg und hinaus in die weite Welt. Immer wieder weht er davon, und immer wieder beginnt er ein neues Leben. Bei der Armee, als Geist, als Prophet, als Geliebter, als fliegende Attraktion - zahllose Wirbel ziehen den Mann mit sich fort, bis er selbst nicht mehr weiß, wer er einmal war und wohin er gehört. Einzig sein Neffe ist auf der Suche nach ihm und nach etwas, das seinem Onkel seine Wurzeln zurückgibt. Eine schwerelose, berührende, auch tragische Geschichte vom sich Verlaufen, vom neu Beginnen und der Frage, wohin wir eigentlich unterwegs sind.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Erster Flug


Als Djamschid 1979 verhaftet wurde, war er siebzehn. Die Baath-Partei hatte sofort nach Machtübernahme des neu ernannten Präsidenten damit begonnen, die Kommunisten, soeben noch ihre Hauptverbündeten, zu jagen, zu verhaften und zu foltern.

Keiner in unserer Sippe wollte damals wahrhaben, dass Djamschid Kommunist geworden war, Kommunisten hatte es bei uns noch nie gegeben. Man erzählt, er habe heldenmütig die Folterungen ertragen und sich nicht brechen lassen. Sein eisernes Schweigen zwang die Schergen, immer neue Folterkünste für ihn zu ersinnen. Immer präziser, immer grausamer wurden die Methoden, ihm Schmerz zuzufügen. Als alles ohne Erfolg blieb, wurde er von einem Kerker zum nächsten weitergereicht.

Dass seine Kräfte schwanden und er bald nur noch ein Schatten seiner selbst war, mag sehr wohl auf die Misshandlung und den Hunger in den Gefängnissen zurückzuführen sein. Einige seiner Mithäftlinge berichteten von einem plötzlich einsetzenden, drastischen Gewichtsverlust.

Ich erinnere mich nur undeutlich, wie er vor seiner Verhaftung aussah. Die wenigen Fotos des Fünfzehn- und Sechzehnjährigen zeigen einen pummeligen, pausbäckigen Jungen. Sein Lächeln zeugt von einer gesunden und unbeschwerten Kindheit. Einige, die ihn schon zu dieser Zeit kannten, neigen zur Ansicht, dass ihn nicht der Freiheitsdrang oder der Glaube an soziale Gerechtigkeit dazu bewegte, Kommunist zu werden, sondern eher die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der es freie Liebe gibt, in der das Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht tabuisiert und streng kontrolliert wird. Wie dem auch sei, im Gefängnis schwanden Djamschids Kräfte, und er verlor dramatisch an Gewicht. Die Baathisten, für die ein Menschenleben keinen Pfifferling wert ist, ließen sich davon nicht beeindrucken. Sie sahen darin vielmehr einen Erfolgsbeweis der ausgeklügelten Methoden, mit denen sie, unterstützt von ausländischen Spezialisten, ihr Folterprogramm perfektioniert hatten.

Niemand weiß genau, an welchem Tag der Wind Djamschid zum ersten Mal verwehte. Fest steht aber, dass sein erster Flug in einem Sondergefängnis in Kirkuk begann.

In einer kalten Winternacht holte ihn ein Wärter aus der Zelle, um ihn den Ermittlern vorzuführen. Er wusste: Bei jedem dieser Verhöre, mit den üblichen Prügeln und Quälereien, konnte sein letztes Stündchen schlagen. Um zum Folterraum zu gelangen, musste er einen großen Hof überqueren. Auf diesem Weg nun geschah, woran er sich auch später noch glasklar erinnerte und wovon er gern in leuchtenden Farben erzählte. Er war in Begleitung des arabischen Sicherheitsbeamten. Ein hochrangiger Offizier, der in einem langen Militärmantel am anderen Ende des Hofs vor einer Tür stand, verlangte den großen Schlüsselbund, den der Wärter bei sich trug. Der Offizier befahl ihm, herüberzukommen und ihm die Tür aufzusperren. Der Wärter, nach Djamschids Beschreibung ein Typ mit Locken und Aknenarben, befahl: »Bleib stehen, ich bin gleich zurück!« Djamschid gehorchte.

Keiner weiß, was dann passierte, aber offensichtlich erhob sich unerwartet ein starker Wind, der Djamschid Khan zum ersten Mal vom Boden hob. Er erinnerte sich genau: Ein Schwindelgefühl und eine unsagbare Angst befielen ihn. Wie ein trockener Grashalm kam er sich vor, federleicht vom Wind entführt und emporgerissen, hoch über die Gefängnismauern hinaus. Unter sich sah er die Dächer des Sicherheitszentrums Nord, der Wind wirbelte ihn herum, drehte den frei Schwebenden auf den Bauch, sodass die Arme herabbaumelten, und spielte mit ihm wie mit einem abgebrochenen Ast. Starke Kopfschmerzen befielen ihn, er konnte sich das alles nicht erklären und hatte keinerlei Vorstellung davon, was als Nächstes passieren würde. Er hörte, dass vom Boden aus Schüsse abgegeben wurden, und drückte die Augen fest zu. Die Angst, abzustürzen, ließ ihn am ganzen Leibe zittern.

Aber der Wind trug ihn weiter und weiter. Von oben sah er die ganze Stadt, die Lichter der Straßenbeleuchtung, die Scheinwerfer der Autos auf den breiten und langen Straßen, aber seine Angst erlaubte es ihm nicht, den Anblick zu genießen. Ein heftiger Windstoß torpedierte ihn in die Weiten des Himmels, und er verlor die Besinnung.

Niemand weiß, welche Strecken er in seiner luftigen Höhe zurücklegte, wie lange er dort oben schwebte und wie viele Flugrunden der Wind den bewusstlosen Djamschid Khan am Himmel drehen ließ. Jedenfalls führte er ihn unserer Stadt zu, auf die bekanntlich jedes Unwetter und jeder Orkan aus allen vier Himmelsrichtungen zusteuert, und ließ ihn da fallen. Verbürgt ist, dass er nach seinem langen Flug, der im Gefängnishof begonnen hatte, auf das Dach einer Autowerkstatt in unserer Stadt fiel, wo er bei Tagesanbruch von einem Lehrling gefunden wurde.

Solange er schwebte, war Djamschid noch Kommunist. Kaum aber war er auf dem Dach gelandet, konnte er sich daran nicht mehr erinnern. Der Wind, der ihn nordwärts trug, hatte ihn sein früheres Leben vergessen lassen.

Wundersame Wandlungen geschahen, wenn der Wind ihn verwehte. Neue Leidenschaften und Träume erwachten in ihm, sobald er am Boden aufschlug. Mit jedem Sturz schwand oder verblasste ein Teil seiner Erinnerungen. So kommt es, dass ich mich zwischendurch frage: Wie soll ich es schaffen, das Leben eines Mannes zu erzählen, der ständig von Neuem sein Gedächtnis verlor?

Am Nachmittag gelangte Djamschid zum Haus meines Großvaters Hissam Khan. Der war bestürzt über den abgemagerten Jungen, der nur noch aus einer pergamentfeinen Haut bestand, die um ein paar dünne Knochen hing. Doch welch ein Glück, dass der monatelang verschollene Sohn zurück war! Angesichts der wachsenden Brutalität der Baathisten hegte niemand die leiseste Hoffnung, dass aus ihren Gefängnissen jemand je wieder lebend auftauchen würde. Schon gar nicht, wenn es sich um einen Kommunisten handelte. Hissam meinte zunächst, die Baathisten hätten sich von der Schuldlosigkeit seines Jüngsten überzeugt und ihn deshalb laufen lassen. Als ihm Djamschid aber die Geschichte seiner Reise durch die Lüfte bis ins kleinste Detail erzählte, und wie der Wind ihn hergetragen hatte, befiel meinen misstrauischen Großvater der Verdacht, sein Sohn könnte entweder ausgebrochen und geflohen oder aber verrückt geworden sein.

Mein Cousin Smail und ich wurden zu seinen Begleitern bestimmt. Unsere Aufgabe war es zu verhindern, dass er vom Wind verweht würde.

Er war drei Jahre älter als wir beide, aber wir waren viel größer und kräftiger. Beim ersten Treffen trat mir eine ausgemergelte Klappergestalt entgegen, ein Geschöpf aus gilbigem Papier, ein schmächtiger Mann, der seitlich betrachtet nicht mehr war als eine Linie. Wie ein Stück Nähseide, das im Wind flattert, oder eine Wäscheleine, die in einer leichten Brise erzittert.

Smail und ich waren Cousins, beide fünfzehn Jahre alt, aber schon zum zweiten Mal in der ersten Klasse der Mittelschule sitzen geblieben, und wir schafften es nicht in die zweite. Als sich die Verwandten versammelten, um über Djamschids Situation zu beraten, hatte man uns längst als hoffnungslose und nichtsnutzige Fälle abgestempelt. Mein Onkel Adib, der älteste Sohn von Hissam, meldete sich als Erster und schlug vor, seinen Sohn Smail zum Dauerbegleiter des erbarmungswürdigen Bruders Djamschid zu ernennen. Mein Vater Sarfraz wollte der Verwandtschaft ebenfalls brüderliche Fürsorglichkeit demonstrieren, er schloss sich unverzüglich an und stellte auch mich, seinen Sohn Salar, zur Verfügung. Weil auf Djamschid mehr als einer aufpassen müsse.

Um ihn vor den Häschern der Baathisten und den allgegenwärtigen Spionen in Sicherheit zu bringen, hatte man ihn sofort in die von Kurden kontrollierten Berggebiete gebracht. Unser Heimatdorf, aus dem wir ursprünglich stammten, lag in einer dieser kalten, kaum zugänglichen Regionen. Eine Woche nach Djamschids Rückkehr ließ mein Vater mich auf den Beifahrersitz seines Pick-ups klettern und sagte: »Wir fahren nach Baranok.« Unterwegs erklärte er mir: »Von heute an seid ihr, du und dein Cousin Smail, die Wächter eures Onkels. Er wird euch brauchen und auf euch angewiesen sein. Ihr müsst ihm dienen und ihm helfen. Ihr dürft ihn niemals aus den Augen verlieren, denn aus ihm ist ein kraftloser Schwächling geworden, den jeder Windstoß mit sich zu reißen droht.« Ich traute mich nicht, Fragen zu stellen, aber den letzten Satz meines Vaters hatte ich nicht verstanden.

In den Zeiten vor seiner Verhaftung hatte ich kaum je ein Wort mit Djamschid gewechselt. Wenn wir Großvater besuchten, kam er selten aus seinem Zimmer, meistens begrüßte er uns nicht einmal. Sein Zimmer in der obersten Etage hatte etwas von einer Festung, die außer ihm selbst und seinen engsten Freunden niemand betreten durfte. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er Schüler an einer landwirtschaftlichen Berufsschule. Ich muss gestehen, dass ich damals meinen Onkel nicht sonderlich mochte. Nicht, weil er kaum mit uns sprach, sondern weil er streng und ernst blickte. Er fand stets einen Grund, uns von oben herab zu behandeln. Wahrscheinlich dachte er sich nichts dabei. Vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass er Kommunist geworden war. Die Brüder, Vater Hissam und die adligen, einflussreichen Verwandten hielt er nun allesamt für Unterdrücker und Blutsauger. Außerdem erlaubte er niemandem, ihn mit seinem Adelstitel »Khan« anzusprechen, man musste ihn »Kamerad Djamschid« nennen. Die Wände seines Zimmers hatte er mit großen Porträts von Karl Marx und...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Übersetzer Ute Cantera-Lang, Rawezh Salim
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Biografie • Irak • Kurden • Liebe • Migration • Politik • Religion • Schicksal
ISBN-10 3-293-31137-7 / 3293311377
ISBN-13 978-3-293-31137-4 / 9783293311374
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