Toronto (eBook)

Was uns durch die Nacht trägt
eBook Download: EPUB
2021 | 2. Auflage
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61148-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Toronto -  Kenneth Bonert
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Eine junge Mutter, ein erfolgreicher Charmeur, eine Immobilienmaklerin: Eigentlich geht es ihnen ganz gut. Dann kommt der Tag, an dem ihr Leben aus dem Ruder läuft - endlich. Alle begegnen sie jemandem, der sie auf eine Weise erkennt, wie es nur ein Fremder kann. Und durch den sie merken, was ihnen fehlt, um in sich selbst heimisch werden zu können - und vielleicht sogar glücklich.

Kenneth Bonert, geboren 1972 in Johannesburg, wo er auch aufwuchs, bis er 17-jährig mit den Eltern nach Kanada emigrierte. Er studierte Journalistik an der Ryerson University in Toronto, wo er heute als Reporter und Schriftsteller lebt. Sein erster Roman, ?Der Löwensucher?, gewann 2013 den National Jewish Book Award und den Edward Lewis Wallant Award und war auf der Shortlist für den Governor General's Award. 2019 erschien sein zweiter Roman, ?Der Anfang einer Zukunft?.

Kenneth Bonert, geboren 1972 in Johannesburg, wo er auch aufwuchs, bis er 17-jährig mit den Eltern nach Kanada emigrierte. Er studierte Journalistik an der Ryerson University in Toronto, wo er heute als Reporter und Schriftsteller lebt. Sein erster Roman, ›Der Löwensucher‹, gewann 2013 den National Jewish Book Award und den Edward Lewis Wallant Award und war auf der Shortlist für den Governor General's Award. 2019 erschien sein zweiter Roman, ›Der Anfang einer Zukunft‹.

Sie hatte das Cellospiel als einen der vielen Wege der »Bewältigung« oder »Heilung« begonnen – was diese abstrakten, verschwommenen Begriffe in der Zeit nach der Katastrophe auch immer zu bedeuten hatten – und genau wie alle anderen (Aquarellmalen, Segeln, Curling, Gruppentherapie) in einem Dunstschleier der Erschöpfung wieder aufgegeben, überwältigt vom inneren Malaria-Dschungel ihres unendlichen Schmerzes. Sie hatte versucht, sich solche Pfade ins Nirgendwo freizuschlagen, doch schon bald waren sie wieder überwuchert, als hätte es sie nie gegeben.

Mit dem Cello war es jedoch insofern etwas anderes, als sie das sperrige Instrument behielt (sie hätte besser eins mieten sollen). Es machte sich im Garderobenschrank breit wie ein lebendiges Wesen und beäugte sie von dort aus griesgrämig ob der Vernachlässigung wie unter einem staubigen, stets vorwurfsvoll hochgezogenen Augenlid hervor. In jenem Winter hatte sie seine stumme Anklage satt, nahm es heraus, reinigte und stimmte es. Sie redete sich ein, sie mache das nur, um es endlich zu verkaufen, aber dann setzte sie sich hin und begann zu spielen.

Irgendwo im Strom der verlorenen Zeit, in dem jene Musizierenden schwimmen, die Geist und Körper ganz auf das Instrument konzentrieren, klopf‌te draußen jemand gegen die große Eichentür. Im Nachhinein sah sie darin einen wundersamen mystischen Zufall, ein Zusammentreffen der Umstände, dass sie das Cello im Augenblick des Klopfens zwischen ihren weit gespreizten Oberschenkeln hatte und den glatten, lackierten Körper in der klassischen, uralten Haltung einer Frau hielt, die das Fleisch und den Samen eines Geliebten tief in ihren Schoß aufnahm.

Frisch: Nicht nur war er jung, höchstens Mitte zwanzig, sondern auch die Art und Weise, wie sein rasiertes, blasses Gesicht seine rosige Jugend verströmte und wie der Tag hinter ihm im eisigen Winterglanz knisterte – der tief aquamarinblaue, wolkenlose Toronto-Himmel und die sanften Hügel der Schneewälle glitzerten und dampf‌ten im goldenen Sonnenlicht. Sonntagmorgen, menschenleere Straßen. »Ja? Kann ich Ihnen helfen?« – sofort bedauerte sie ihren Tonfall, zu übereifrig, wie sie fand, zu abschreckend, während sie sah, wie die Röte seine rundlichen Wangen überzog wie Nesselausschlag. Er drehte an den Enden seines Schals und sagte: »Entschuldigung. Ich wollte nur. Entschuldigung, aber ich habe mich gefragt … es ist, ähm, der Wohnungsmarkt ist momentan so angespannt, und ich dachte, ich kam zufällig hier vorbei, und ich dachte, ich hätte mal ein ›Zu vermieten‹-Schild auf Ihrer Veranda gesehen? Ist schon eine Weile her, ich weiß …«

»Mehr als eine Weile«, erwiderte sie. Sie wusste, wann. Über die Inseln der Jahreszeiten hinweg, in einem schwülen Sommer voller Schweiß, Erschöpfung und unerträglicher Aussichtslosigkeit. Das Summen der Klimaanlagen auf der Straße und das Sirren der Mücken in ihrem Ohr, wenn sie sich auf klammen Laken wälzte und drehte und vergeblich um den Schlaf rang, der nicht kommen wollte. Ein Jahr. Es musste gut über ein Jahr her sein.

»Entschuldigung«, sagte er erneut und schaute zu Boden, wo er von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich wollte nicht … wollte nicht stören …«

Sie bemerkte, dass sie an ihm vorbeistarrte, und wandte den Blick wieder auf sein glattes, leuchtendes Gesicht mit den rosigen Wangen. Sein blondes Haar war an den Seiten kurz geschnitten, oben fiel es jedoch lang und glatt herunter, was sie an einen Welpen erinnerte, der unsicher auf zitternden Beinen steht. Sie war fast größer als er. »Macht nichts«, sagte sie. »Sie haben recht, da war ein Schild. Hier.« Sie deutete auf die Verandascheibe.

Sie hatte damals gedacht … was hatte sie gedacht? Hatte sie überhaupt gedacht? In dem Durcheinander der Katastrophe gab es keine Logik, lächerliche Vorstellungen hatten sich ohne irgendeinen Zusammenhang in ihrem Kopf niedergelassen und ein Eigenleben geführt wie ein wildes Rudel von Störenfrieden. Eine davon war, einen Untermieter ins Haus zu holen. Als ob sie das Geld bräuchte. Die Ausgleichsregelungen hatten ihr ein hypothekenfreies Haus beschert, und sie hatte auch noch was auf der hohen Kante. Nein, ihr Gehalt reichte für ihre und Warrens Ausgaben aus.

Sie hatte damals nicht erkannt, dass der Gedanke an einen Untermieter womöglich daher rührte, dass ein Teil von ihr vor kurzem amputiert worden war und die frische Wunde des Verlustes in stummem Schmerz nach Linderung durch die Anwesenheit eines anderen Mannes im Haus schrie. Ein Dritter, um das zerbrochene Dreieck wieder zu vervollständigen. Kaum war es ihr klargeworden, hatte sie das Schild wieder abgenommen.

Zu vermieten. Sie erinnerte sich daran, wie sie es bei Canadian Tire gekauft hatte. Rot und schwarz. Ja, sie hatte es an die Scheibe der verglasten Veranda gehängt. Hatte sie das wirklich getan? Waren das ihre Hände gewesen oder die von jemand anderem? Hatte sie es Warren machen lassen? Schwer zu sagen, welche Erinnerungen real und welche eingebildet waren, wenn das Gehirn nicht mehr richtig funktionierte, halb gelähmt vom Schock der Ereignisse, als ob es vom Gift einer eindringenden Kreatur verseucht worden wäre, die man Stress oder Angst nannte oder mit einem anderen erfundenen Wort bezeichnete, um die Realität mit einem hübschen Klangpaket zu beschönigen. Damals hatte sie auch Tabletten genommen. Sie hatte diese chemische Verseuchung gebraucht, denn das war noch bevor sie das Wahre Wissen entdeckt hatte …

»Sie ist schon weg, oder?«, fragte er, und sie stellte fest, dass sie mehrmals den Kopf schüttelte, aber ihr Gesicht musste etwas anderes ausgedrückt haben, denn er fragte: »Nicht?«

»Ich habe mich dann entschlossen, doch nicht zu vermieten.«

»Oh«, sagte er. »Okay. Ich verstehe. Darf ich fragen, ob es im Souterrain war?« Er lächelte. »Dann wäre ich nicht so enttäuscht.«

»Ach? Und warum?«

»Ich will nicht mehr in einem Keller leben«, antwortete er. »Ich habe die Nase gestrichen voll von Kellern.«

Das Lächeln und die verdrehten Augen waren eher eine bewusste Geste als ein echter Ausdruck von Heiterkeit, und er präsentierte sie mit großem Selbstvertrauen, wie eine Fahne des Übermuts über der Verwundbarkeit, die sie darunter erahnte. Sie fand das unerwartet rührend und sagte: »Im Souterrain gibt es ein Zimmer mit Bad.« Dann fügte sie wahrheitsgemäß hinzu (aber warum nur?): »Und es gibt noch eine Wohnung – im dritten Stock.«

Schnell fragte er: »Welche Einheit wollten Sie vermieten?« Eine gebildete Ausdrucksweise, eine Prise Intelligenz und sprachliche Gewandtheit als Ergänzung zum weichen Welpenhaar und zu den strahlend weißen Zähnen.

»Wusste ich selbst nicht so genau«, antwortete sie. »Irgendeine. Beide.«

»Aber dann haben Sie sich dagegen entschieden«, sagte er, zuckte mit den Schultern und drehte seine Handflächen nach oben. »Schade.« Er blickte geradewegs nach oben, dorthin, wo die durchscheinenden Eiszapfen wie eine Reihe tropfender Reißzähne von der Dachtraufe hingen. »Tolles altes Haus.« Er deutete nach rechts. »Die U-Bahn ist gleich um die Ecke. Schöne Geschäfte. Coole Bars. Ich mag die Gegend.«

»Sind Sie Student?«, fragte sie.

Er stieß einen abfälligen Laut aus und schüttelte den Kopf.

So begann es. Sie hätte ihn die gefegte Treppe hinuntergehen und wieder in der klaren Frische verschwinden lassen können, aus der er erschienen war wie Schneestaub, hätte sich hinter ihre dicke Eichentür zurückziehen und das Cello zwischen ihre gespreizten Knie sinken lassen können. Aber sein körperliches Schulterzucken schien in ihr ein mentales ausgelöst zu haben, ein Gefühl von: warum nicht?, und so holte sie diesen jungen Fremden ins Haus und zeigte ihm beide potentiellen »Einheiten«, wie er sie nannte, zuerst das Souterrainzimmer gegenüber der Waschküche mit eigenem Bad, und dann stiegen sie gemeinsam die knarrende Treppe in den dritten Stock hinauf, ein Weg, den sie seit Ewigkeiten nicht mehr zurückgelegt hatte – seit der Katastrophe. Ihre Hand zitterte auf dem Geländer.

Es war fast schockierend, einzutreten und eher das Gefühl eines sich öffnenden Raumes zu verspüren als die vertraute düstere Beklemmung, die erstickende Atmosphäre von kränklicher Wärme und medizinischem Geruch, und nach etwas anderem, süßlich Fauligem, unverkennbar der von (oh, das wusste sie, und wie sie das wusste) verwesendem Fleisch. Verfaulend, während das Herz weiter schlug.

Er fragte sie, ob es ihr gutginge, ob ihr durch das Treppensteigen schwindelig geworden sei oder so. »Nein«, sagte sie. »Es geht mir gut. Gehen Sie rein. Schauen wir uns mal um.«

Sie war sich immer noch nicht sicher, warum sie das tat, denn diese Wohnung wollte sie nie wirklich vermieten – oder? –, aber sie schlüpf‌te ganz mühelos in die Rolle der Immobilienmaklerin, die einen potentiellen Kunden durch die Räumlichkeiten führte. In der Kochnische stand ein neuer Kühlschrank (nicht angeschlossen), und in den Schubladen befanden sich sogar Kochutensilien, Töpfe und Pfannen, im Hängeschrank stand Geschirr. Sie erinnerte sich erst daran, dass all das noch hier war, als sie es sah und berührte – Instrumente vergeblicher Ernährung, denen sie nicht mehr hatte nahekommen können, nachdem es vorbei war. Es erschreckte sie, dass sie etwas so vollständig vergessen konnte. Welche anderen Bestandteile ihres alten Lebens waren für sie verloren?

Das Apartment bestand aus einem langgestreckten offenen Raum unter freiliegenden Dachbalken. »Im Sommer kann es hier oben sehr heiß...

Erscheint lt. Verlag 29.9.2021
Übersetzer Stefanie Schäfer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Digitale Einsamkeit • Einwandererland • Fremdheit als Chance • Großstadtgeschichten • Kanada • Kanada-Schwerpunkt • Liebesgeschichten • Millennials • Multikulti • Toronto • Urbane Millenials
ISBN-10 3-257-61148-X / 325761148X
ISBN-13 978-3-257-61148-9 / 9783257611489
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