Julius oder die Schönheit des Spiels (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2598-9 (ISBN)

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Julius oder die Schönheit des Spiels -  Tom Saller
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Wimbledon, 1937. Das legendäre Daviscup-Match zwischen Deutschland und den USA. Nicht nur die Sportwelt hält den Atem an, als Julius von Berg den Ball vor tausenden von Zuschauern in den blauen Himmel wirft. Aufgewachsen auf einer Burg über dem Rhein, hat er sein Tennistalent im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre zur Reife gebracht; ein internationaler Star, auf dem alle Blicke ruhen. Gebannt verfolgt Julie, seine Ehefrau, das Geschehen auf dem Rasen - ebenso wie die NS-Größen in der Nachbarloge, denn es steht so viel mehr auf dem Spiel als der greifbare Sieg. Selbstbestimmung oder Mitläufertum? Ruhm oder Schande? Unten, auf dem Centre Court, trifft Julius eine folgenschwere Entscheidung ... Julius oder die Schönheit des Spiels erzählt davon, was Menschen ausmacht, und erinnert - bei allem Eintauchen in eine andere Zeit - leise daran, dass Begriffe wie Anstand und Haltung zeitlos sind.

Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut. 2018 erschien sein Debütroman Wenn Martha tanzt und wurde umgehend ein Bestseller. Tom Saller lebt in Wipperfürth, einer kleinen Stadt im Bergischen Land.

Tom Saller, geboren 1967, hat Medizin studiert und arbeitet als Psychotherapeut. 2018 erschien sein Debütroman Wenn Martha tanzt und wurde umgehend ein Bestseller, Ein neues Blau knüpfte 2019 an den großen Erfolg an. Tom Saller lebt in Wipperfürth, einer kleinen Stadt im Bergischen Land.

1984, England, Wimbledon


Der alte Mann passte nicht. Hochgewachsen und immer noch schlank lehnte er an der Rückwand des voll besetzten Pressezentrums des All England Lawn Tennis and Croquet Club und passte nicht.

Er stand nicht als Einziger dort. Auch am Schlusstag der Offenen Englischen Meisterschaften, des bedeutendsten Tennisturniers der Welt, waren die Reihen vor ihm bis auf den letzten Platz gefüllt. Aber im Unterschied zu den Reportern, Berichterstattern und Journalisten um ihn herum baumelte kein Presseausweis um seinen Hals.

Etwa siebzig Jahre alt, das schüttere, einst flammend rote Haar – »so rot, dass es selbst unter Rothaarigen auffiel«, wie er zu sagen pflegte – zurückgekämmt, hätte er der Vater der meisten Männer und Frauen im Saal sein können. Sein faltiges Gesicht zeigte die Art jahreszeitenunabhängiger Gerbung, die man insbesondere bei Menschen, die viel Zeit im Freien verbringen, findet.

Es störte ihn nicht zu stehen. Im Gegenteil, er war gewohnt, nicht allzu oft zu sitzen. Sein ganzes Leben hatte er sich bewegt – und das Leben ihn.

Präzise drei Stunden und sieben Minuten war er, von seinem Platz an der Längsseite des Centre Court aus, dem Finale im Herreneinzel gefolgt. Hatte nicht eine Sekunde lang den Blick von den beiden Spielern unten, auf dem strapazierten braunen Rasen, abgewandt; keiner ihrer Schläge war ihm entgangen. In Gedanken hatte er ihre Laufwege vorweggenommen und jedes ihrer im Spielverlauf wechselnden taktischen Manöver analysiert. Nur wenige Menschen vermochten das Spiel so zu lesen wie er.

Im Übrigen gehörte er nicht zu den Offiziellen des Clubs, trug keinen der dunkelgrünen Anzüge der Stewards oder sonstigen Helfer. Möglicherweise hätte ein sorgfältiger Beobachter in ihm einen Mann von gestern in der Welt von heute erkannt; gleichermaßen fremd und nicht fremd an diesem besonderen Ort. Aber niemand würdigte ihn ernsthaft eines Blickes.

Die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesender war nach vorn gerichtet, wo gerade ein dunkelhaariger Teenager auf dem Podium erschien. Während er sich setzte, streifte er versehentlich mit dem Arm das Mikrofon auf dem Tisch. Ein dumpfer Ton hallte durch den Raum, und ein Lächeln trat auf seine Züge.

»Sorry, a little accident«, entschuldigte er sich. Seine Aussprache war gut, dennoch merkte man, Englisch war nicht seine Muttersprache.

Die Tatsache, dass er sich dort oben befand, war alles andere als ein Missgeschick, es war eine Sensation. Nicht zuletzt der geduldigen Aufbauarbeit seiner Eltern, seines Trainers und der seines Managers geschuldet, dachte der alte Mann, sowie eines unfassbaren Talents – und doch schien all das für den Moment unwichtig geworden und in den Hintergrund getreten zu sein.

In den vorangegangenen Wochen waren Teile der englischen Presse nicht müde geworden, den jungen Deutschen mit Gerüchten, Halbwahrheiten und vermeintlichen Enthüllungen zu bombardieren. Erwischt, Wer duscht mit wem? und Der Herr der (Tennis)Bälle? prangte es auf den Titelseiten der Boulevardblätter und Sportgazetten. Den Gipfel der Geschmacklosigkeit erklomm wie gewohnt die Sun. Die Schlagzeile der gestrigen Samstagsausgabe lautete: Gewinnt bei den Herren erstmals ein Mädchen?

Der alte Mann spannte die Kiefermuskeln an.

»Ich bin Tennisspieler«, hatte der frischgebackene Wimbledonsieger gebetsmühlenartig abgewehrt, »und so will ich wahrgenommen werden. Tennis ist mein Leben.«

Ein Satz, der auch von ihm hätte stammen können, schoss es dem alten Mann durch den Kopf. Gleichzeitig war ihm bewusst, er war einer der ganz wenigen, die sich in diesem Moment an ihn, den anderen Deutschen, erinnerten.

Ausgangspunkt der aktuellen Schmutzkampagne war, dass man den jungen Mann angeblich dabei beobachtet hatte, wie er in einem Pub die Hand auf das Knie seines unbekannten Begleiters legte. Daraufhin meldete sich ein pickeliger Siebzehnjähriger zu Wort und teilte der semiinteressierten Öffentlichkeit unaufgefordert mit, es sei schon »auffällig«, wie freundlich der Newcomer ihn und die anderen Balljungen beim Vorbereitungsturnier in Queens behandelt habe. Schlimmer noch: Seitdem gelte jener bei seinen Kollegen als ihr »Lieblingsspieler«.

Der alte Mann ließ den Blick durch den Raum wandern. Überall fand sich das charakteristische Grün/Violett des Clubs, aufgelockert durch etwas Holz und Glas. Der junge Profi hatte es verdient, da oben zu sein: Der erste Deutsche, der den Herreneinzelwettbewerb der englischen Tennismeisterschaften gewann.

Drahtig, von eher kleiner Statur, der Teint ein wenig dunkler, als man es vermutet hätte, reichten ihm die schwarz glänzenden Locken bis zu den Schultern. Sein Vater stammte aus Griechenland, war Ende der Fünfziger nach Deutschland gekommen und hatte im Ruhrgebiet die Tochter eines Stahlarbeiters kennen- und lieben gelernt; auch darum wussten seit präzise vierzehn Tagen die Leser der Tages- und Wochenzeitungen auf der Insel und dem Kontinent. Den Eltern sei daran gelegen gewesen, dass ihr Sohn es einmal besser hätte als sie, und so wurde dieser zu ihrem Hoffnungsträger, dessen Karriere sie alles unterordneten. Vierzehnjährig schickten sie ihn in die Staaten, wo er ein halbes Jahr bei einem braun gebrannten kalifornischen Tennisguru trainierte. Bei seiner Rückkehr hatte er einen unterschriftsreifen Vertrag im Gepäck, aus dem hervorging, dass er seine Einkünfte in den kommenden Jahren zur Hälfte an das Unternehmen Joyspring abzuführen habe, das besagter Guru gemeinsam mit seinem amerikanischen Geschäftspartner betrieb. Als Gegenleistung werde man sämtliche Kosten übernehmen, die nötig seien, um das Jahrhunderttalent an die Weltspitze zu führen. Die Eltern unterschrieben und sahen ihren Sohn fortan nur noch zu Weihnachten und im Fernsehen.

Wie schwer sich selbst das sportbegeisterte Deutschland mit seinem neuesten Helden tat, offenbarte die Erklärung, die der Präsident des Deutschen Tennisbundes wenige Minuten zuvor draußen vor laufenden Kameras abgegeben hatte:

»Wir freuen uns, dass unsere nationale Nummer eins hier in Wimbledon den Einzeltitel errungen hat. Er ist ein sehr, ähem … besonderer junger Mann, und so gesehen ist dies die … die Stunde null des deutschen Tennissports.« Hastig hatte er hinzugefügt: »Das ist nicht negativ gemeint, verstehen Sie?«

Ja, dachte der alte Mann, alle haben verstanden, wie du es gemeint hast. Als einen Affront, nicht mehr und nicht weniger.

An der Wand über dem Podium hing eine Uhr, die außer der Zeit das Datum anzeigte: Der 1. Juli 1984. Er schluckte. Zufall oder auch nicht – heute, auf den Tag genau, wäre Julius, sein ehemaliger Weggefährte und Rivale, siebenundsiebzig Jahre alt geworden.

Die Unterschiede in Herkunft und Werdung zwischen diesem, der in den Dreißigerjahren neben Max Schmeling der mit Abstand bekannteste deutsche Sportler gewesen war, und dem jungen Spieler, der dort vorne saß, hätten nicht größer sein können.

Julius von Berg stammte aus einem alten Adelsgeschlecht. Seine Kindheit und Jugend hatte er – wie immer befiel den alten Mann bei diesem Gedanken ein Gefühl der Unwirklichkeit – auf einer Burg hoch über dem Rhein verbracht. Zeit seines Lebens schien der Tennissport für ihn eine Mischung aus Passion und angemessener Beschäftigung für einen Gentleman gewesen zu sein. Dass Tennis für ihn aber wirklich sein »Leben« war, wie eben von dem jungen Athleten auf dem Podium behauptet, dass sich darin seine Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und dem eigenen Schicksal gezeigt hatte, das wusste niemand – bis auf ihn.

»Ein Mensch ohne tief verankerte sportliche Werte ist ein Mensch ohne Moral. Auf und neben dem Platz«, hatte Julius gesagt und danach gehandelt.

Weiter vorn erkundigte sich jemand nach der Motivation der neuen Nummer drei der Weltrangliste.

»Ich gehe jedes Match so an, als ginge es um Leben und Tod«, antwortete der junge Mann ernst, »ich kann nicht anders.«

Eine kurze Pause entstand, bevor eine näselnde Stimme fragte: »Und wie halten Sie es mit der Frage der ›sportlichen Kameradschaft‹? Man liest da ja so einiges.«

Unversehens hätte man eine Stecknadel im Raum fallen hören können.

»Besser als ihr, ihr verdammten Heuchler!«, brach es aus dem alten Mann heraus.

Ruckartig drehte sich die versammelte Journaille zu ihm um. Blicke schossen durch den Saal, suchten, fanden und trafen ihn; neugierig, empört, in Teilen amüsiert.

»Ein halbes Jahrhundert ist ins Land gegangen, und nichts hat sich geändert!«

»Bitte, Sir, ich darf doch bitten«, mahnte der Pressekoordinator des Clubs im Versuch, die Wogen zu glätten, »bitte sprechen Sie nur, wenn Sie an der Reihe sind, Sir.«

Brüsk drehte sich der alte Mann um und wandte sich zum Ausgang. Der Steward an der Tür, der ihn vorhin erkannt und ohne Ausweis hatte passieren lassen, nickte ihm respektvoll zu.

»Gut gemacht, Sir«, flüsterte er.

Der alte Mann nickte und lenkte seine Schritte zum Fahrstuhl. Im untersten Geschoss des Gebäudes lag das...

Erscheint lt. Verlag 2.8.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1920er Jahre • 1930er Jahre • Adel • Berlin 20er Jahre • Berlin 30er Jahre • Erich Maria Remarque • Familie • Gottfried von Cramm • Haltung • Konzentrationslager • LGBTQ • Liebe • Marlene Dietrich • Max Schmeling • Nazideutschland • Rhein • Sport • Tennis • Tennispieler • Wettbewerb • Widerstand • Wimbledon
ISBN-10 3-8437-2598-5 / 3843725985
ISBN-13 978-3-8437-2598-9 / 9783843725989
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