Bruder aller Bilder (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00247-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bruder aller Bilder -  Georg Klein
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Irgendetwas führt Sportreporter Addi Schmuck im Schilde, als er arrangiert, dass seine junge Kollegin Moni Gottlieb für ihn von allen redaktionellen Pflichten freigestellt wird. Ebenso zwingend selbstverständlich scheint, dass sie ihr Smartphone zu Hause lassen muss, bevor sie die Arena des Bundesliga-Clubs am Südrand der Stadt ansteuern. Der dortige Greenkeeper hat mit einem rätselhaften Naturphänomen zu kämpfen und erhofft sich von Schmuck einen rettenden Rat. Allerdings ist Schmuck in dieser Frage selbst des Beistands bedürftig. Er macht seine Kollegin mit einem brüderlichen Freund bekannt, der ein merkwürdig verwachsenes Refugium bewohnt und nur «der Auskenner» genannt wird. Ein Spiel zu dritt beginnt. Und Moni Gottlieb, die ebenso vorsichtig wie hellsichtig ist, darf erfahren, wie sich Diesseits und Jenseits verflechten können. Kaum ein Schriftsteller unserer Zeit handhabt die Mittel der erzählenden Literatur subtiler als Georg Klein, kaum einer treibt das Spiel mit größerem Vergnügen und Eigensinn voran. Sein neuer Roman führt uns in die Redaktion einer traditionsreichen süddeutschen Regionalzeitung - und in das Zwischenreich von Medialität und belebter Natur. Eine dunkle Komödie in leuchtender Prosa.

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns», «Sünde Güte Blitz», «Die Zukunft des Mars» und «Miakro» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für sein Werk wurden ihm der Niedersächsische Staatspreis, der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien der Roman «Bruder aller Bilder» (2021). 

Georg Klein, 1953 in Augsburg geboren, veröffentlichte die Romane «Libidissi», «Barbar Rosa», «Die Sonne scheint uns», «Sünde Güte Blitz», «Die Zukunft des Mars» und «Miakro» sowie die Erzählungsbände «Anrufung des Blinden Fisches», «Die Logik der Süße» und «Von den Deutschen». Für sein Werk wurden ihm der Niedersächsische Staatspreis, der Brüder-Grimm-Preis und der Bachmann-Preis verliehen; für «Roman unserer Kindheit» erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse 2010. Zuletzt erschien der Roman «Bruder aller Bilder» (2021). 

1. Sanddorn


Den zweiten Becher Kaffee, den sie zum halbwegs Wachwerden notwendig brauchte, trank MoGo, die Schulter ans Fenster gelehnt, schon im Stehen. Über dem Plastikklappstuhl, der einzigen Sitzgelegenheit in ihrer winzigen Küche, hing griffbereit ihre Wildlederjacke. Portemonnaie, Schlüssel und die obligatorischen drei Päckchen Papiertaschentücher waren auf die gewohnten Taschen verteilt. Morgendumm bis in die Fingerspitzen, wie sie um diese Tageszeit unausweichlich war, hätte sie beinahe auch das Smartphone eingesteckt, obwohl ihr gestern ausdrücklich hiervon abgeraten worden war. Und synchron zu einem letzten Schlürfen und Schlucken hielt unten, vor dem Eingang des Appartementblocks, der Wagen, bei dessen Fahrer es sich um einen von ihr mit einiger Neugier erwarteten Kollegen, den in Stadt und Region über die Grenzen seines Metiers hinaus bekannten und beliebten Sportreporter Addi Schmuck, handeln musste.

Schmucks Tisch in der Redaktion der Allgemeinen war, seit MoGo ihren auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag angetreten hatte, stets unverändert leergeräumt gewesen. Außer dem Bildschirm und der Tastatur stand da als ein drittes solitäres Objekt nur ein mechanischer Aschenbecher, ein Modell, wie es ihr seit Unzeiten nicht mehr vor Augen gekommen war. Und als sie während der nervös beflissenen Stunden ihres ersten regulären Arbeitstags auf dem Rückweg von der Toilette im Zickzack durch das Großraumbüro erneut an Schmucks verwaistem Platz wie an einer Leerstelle im Text der generellen Geschäftigkeit vorübergekommen war, hatte sie innehalten müssen. Sie drückte auf den konisch geformten Kunststoffknopf. Mit einem Klicken sank das verchromte Stäbchen nach unten in den schwarz lackierten Blechzylinder, die braunfleckigen Blechdeckelchen schwenkten zur Seite, eine unsichtbare Feder wurde gelöst, und mit einem bewusstlos bereitwilligen Schnurren hatte das Maschinchen einen imaginären Zigarettenstummel in seinem Hohlraum verschwinden lassen – exakt so, wie dies einst, in seiner dinglichen Vorzeit, als das Rauchen in MoGos und in Schmucks Profession allerorten Usus gewesen war, mit ungezählten krummgedrückten Kippen vonstattengegangen war.

«Schmuck holt dich morgen früh um neun bei dir ab. Du bist ab sofort für ihn freigestellt. Volle fünf Tage will er dich haben. Weiß Gott, wozu. Wie dem auch sei: Schmuck kriegt bei uns alles, was er will. Na, fast alles! Fünf Tage, das heißt, das Wochenende mitgezählt, bis kommenden Dienstag, also den 20. September eingeschlossen. Alles Weitere von ihm. Nein, eine Handynummer gibt’s nicht. Und dein eigenes Smartphone lässt du bitte zuhause. Unser Addi kann die Dinger auf den Tod nicht ausstehen. Ich schreibe dir für den Fall der Fälle seine Festnetznummer auf. Allerdings erreichst du damit bloß seinen verrauschten Anrufbeantworter. Du wirst schon sehen, Schätzchen: Addi Schmuck ist, wie er ist.»

So hatte es gestern aus dem rosa geschminkten Mund der Redaktionssekretärin geklungen. Frau Küppers nannte sie seit dem ersten Tag notorisch «Süße», «Kleines» oder «Schätzchen». Mit etwas Glück war dies mütterlich warmbusig, zumindest tantenhaft nett gemeint. Aber nach MoGos bisherigen Erfahrungen mit mittelalten Vertreterinnen ihres Geschlechts konnte die Küppers ebenso gut eine mit allen Wassern der Intrige gewaschene, eine jeden einzelnen Satz taktisch kalkulierende Klapperschlange sein.

«Schau zu, dass du morgen früh absprungbereit bist. Schmuck fährt einen auffälligen Amischlitten, ein oranges Cabrio, einen echten Oldtimer, bestimmt doppelt so alt wie du, Süße.»

MoGo nahm wie immer das Treppenhaus. Draußen war es noch kühl, der Himmel dunstfrei und stählern blau. Die ersten beiden Septemberwochen hatten mit einem Licht verwöhnt, das jeden, dessen Gemüt für Wetter mehr als bloß beiläufig empfänglich war, euphorisch wehmütig stimmen musste, da das Glänzen allzu vieler Oberflächen das Verenden dieses ausnahmsherrlichen Herbstes bereits wie eine Drohung in sich trug.

Das schwarze Kunstlederverdeck von Addi Schmucks Cabriolet war fleckig verblichen. Das Orange des Lacks erinnerte MoGo an die Beeren von Sanddorn. Autos hatten ihr nie etwas bedeutet. Aber mit Hilfe des silbernen Wildpferds, das da mit wehender Mähne im Kühlergrill des Wagens auf der Stelle galoppierte, erriet sie dennoch, erstaunt über die eigene Kenntnis, um welches US-amerikanische Modell es sich handelte. Und vielleicht weil ihr eigenes Vehikel, ihr gebraucht gekaufter schwarzer Motorroller, mit einem Platten und einigen arg hässlichen, sturzbedingten Schrammen in der Tiefgarage stand, fiel ihr auf, wie stimmig das kalkig grelle Weiß des Rings, der den Reifen von Schmucks Wagen aufgeprägt war, mit dem stumpfen Dunkel des Gummis und dem glänzenden Sanddornton der Radkappen zusammenschwang.

Schmuck stand neben der Beifahrertür. In einem spontanen Fehlschluss glaubte MoGo, dies bedeute nun, sie solle sich statt seiner hinters Lenkrad setzen. Aber schon mit dem nächsten Gedanken erfasste sie aus der Art, wie seine Hand an die Tür griff, dass der hagere alte Kerl ihr die nun aufhalten und sie, sobald sie Platz genommen hätte, ins Schloss schlenzen würde.

In seinem Wagen roch es dann, anders als erwartet, nicht nach kaltem Zigarettenrauch, sondern nach einem zitronig parfümierten Rasierwasser. Ganz ähnlich hatte es in manchen Männerzimmern des Seniorenstifts geduftet, in dem sie, noch unmittelbar vor ihrer Einstellung bei der Allgemeinen, als Nachtwache gejobbt hatte. Und weil dies dort, in den finalen Daseinsgehäusen der betuchten greisen Herrschaften, oft genug ein notdürftiger Deckduft gewesen war, forschte MoGo, während Schmuck um das Heck seines Wagens auf die Fahrerseite hinüberging, vorsichtig schnuppernd nach etwas Untergründigem, war erleichtert, bloß die Ausdünstung der Ledersitze, vermutlich das Pflegemittel, mit dem sie seit Jahr und Tag eingerieben wurden, in die Nase zu bekommen, und musste heftig niesen.

«Gesundheit, Monique! Geht Monique in Ordnung? Nein? Ich seh’ schon, eher nicht. Wahrscheinlich ist dir Moni lieber. Entschuldige, hätte ich mir eigentlich denken können. Offen gesagt: Mir ist die Todesanzeige für deine Mutter aufgefallen. Respekt, gut gemacht! Ist und bleibt in seiner schwarz gerahmten Kürze ein verflixt schwieriges Genre. Nur Nachruf ist noch ein bisschen heikler. Also, mein kollegiales Beileid! Auch wenn es mittlerweile natürlich schon ein bisschen spät kommt.»

Am offenen Grab ihrer Mutter hatte sich MoGo geschworen, der Verstorbenen abschließend alles, restlos alles, sogar den unsäglichen Vornamen, den diese ihr, ihrem ersten und einzigen Kind, verpasst hatte, zu verzeihen. Wie zu erwarten, war dies nicht gelungen. Dass Addi Schmuck in der heiklen Namensfrage umgehend nachgebessert hatte, sprach für ihn, und während sie beide nun, ohne dass ihr das anvisierte Ziel verraten worden wäre, Richtung Süden, Richtung Stadtrand rollten, versuchte sie, sich aus den Augenwinkeln ein erstes Bild seines schmalen, grau beflaumten Schädels zu machen. Aber die Sonne blendete, und das mit wenigen dünnen Linien gezeichnete Portrait, das seine Wochenendkolumnen schmückte, dominierte vorerst noch künstlich nachhaltig, was sie sich als ein leibhaftiges Gesicht einzuprägen begann.

«Keine Sonnenbrille dabei? Du hast vielleicht gar keine. Ich übrigens auch nicht. Wenn ich mal eine besaß, habe ich sie in Bälde wieder verloren. Immer interessant, was jemand wider Erwarten nicht besitzt, weil er es nicht in seinem Besitz behalten kann. Du und ich, wir sind, wenn die Sonne tief steht, zum Blinzeln gezwungen. Ist lästig, kann gelegentlich aber auch von Vorteil sein. Beruflich zum Beispiel.

Kommst du mit der Küppers klar? Ich glaube, sie mag dich leiden. Wie findest du ihren Lippenstift? Früher hat sie sich auch die Fingernägel in diesem Babyrosa lackiert. Warum macht sie das mittlerweile nicht mehr? Denk doch bei Gelegenheit für mich drüber nach. Rede ich zu viel? Entschuldige, das bringt das Älterwerden so mit sich. Sag ungeniert, wenn es dir auf die Nerven geht. Du kannst übrigens ruhig die Augen zumachen. Ist noch ein Stückchen hin. Ich glaube, du bist genau das Gegenteil einer Frühaufsteherin. Sag mal, hast du Schnupfen? Deine Nase ist ganz rot gerubbelt.»

Wahrscheinlich war es unhöflich, nicht zumindest hierauf mit ein paar Worten zu antworten. Aber MoGo widerstrebte es, in aller Herrgottsfrüh das leidige Bandwurmwort Feinstaubüberempfindlichkeit in den Mund zu nehmen, und so ließ sie es bei einem deutlichen Nicken bewenden, das als ein Ja auf Schmucks letzte Frage durchgehen mochte.

Sein Wagen hörte sich dann, gleich mit dem Anlassen des Motors, unverschämt gut an, altmodisch laut und unrein sonor wie das Hecheln und Knurren eines sehr großen Hundes, und als hätte er ihre Gedanken mitgelesen, sagte Schmuck etwas über Zylinder und Hubraum, Baujahr und Pferdestärken, irgendwelche Zahlen, die sie vermutlich beeindrucken sollten, die MoGo jedoch im Nu, kaum war ihr Kopf an die Nackenstütze gesunken, vergessen hatte.

Warum sollte sie nicht noch ein bisschen dösen, wenn er es ihr ausdrücklich erlaubt hatte. Addi Schmuck war ab sofort ihr Chef auf Zeit. Und dieses exklusive Vorgesetztsein fußte zudem in einem nicht unpikanten Umstand, falls stimmte, was ihr bereits während des Praktikums, das ihrer Anstellung vorausgegangen war, von der Küppers, vielsagend lächelnd, als ein intern anscheinend offenkundiges Geheimnis verraten worden war.

«Die Gräfin und unser Addi Schmuck, da passt seit Jahr und Tag kein Blatt dazwischen. Kein Blatt Papier und auch kein Laken! Wenn du...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Augsburg • Deutsche Romane • Dreiecksgeschichte • Gegenwartsliteratur • Katze • Leipziger Buchpreis • Medien • Miakro • Natur • Neuer Roman Georg Klein • Preis der Leipziger Buchmesse • Roman • Roman unserer Kindheit • Rosenau-Stadion • Sportreporter • SWR-Bestenliste • Tierwelt • Tod • Trauer • zeitgenössische Belletristik
ISBN-10 3-644-00247-9 / 3644002479
ISBN-13 978-3-644-00247-0 / 9783644002470
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