Die Anomalie (eBook)

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2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01076-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Anomalie -  Hervé Le Tellier
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Der Überraschungserfolg aus Frankreich: eine brillante Mischung aus Thriller, Komödie und großer Literatur. Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal in New York. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin. Sie alle führen auf unterschiedliche Weise ein Doppelleben. Und nun gibt es sie tatsächlich doppelt ? sie sind mit sich selbst konfrontiert, in der Anomalie einer verrückt gewordenen Welt. Hochkomisch und teuflisch intelligent spielt der Roman mit unseren Gewissheiten und fragt nach den Grenzen von Sprache, Literatur und Leben. Facettenreich, weltumfassend, ein literarisches Ereignis.

Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino und Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris. Für seinen Roman «L'Anomalie» erhielt er 2020 den Prix Goncourt.

Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino und Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris. Für seinen Roman «L'Anomalie» erhielt er 2020 den Prix Goncourt. Romy Ritte, geboren 1957 in Hackenbroich, ist Übersetzerin und Leiterin der deutschen Abteilung des Lycée International Honoré de Balzac. Jürgen und Romy Ritte leben in Paris und übertragen gemeinsam das Werk von Hervé Le Tellier ins Deutsche. Jürgen Ritte, geboren 1956 in Köln, ist Übersetzer, Literaturkritiker, Essayist und Professor für Literaturwissenschaft an der Université Sorbonne Nouvelle in Paris. Ausgezeichnet mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis. Er übersetzte u. a. Patrick Deville, Edmond Jabès, Paul Morand, Georges Perec, Marcel Prousts Korrespondenz, Olivier Rolin.

Blake


Jemanden umlegen, das ist noch gar nichts. Man muss beobachten, überwachen, nachdenken, sehr viel nachdenken, und im entscheidenden Augenblick eine Leere schaffen. Das ist es. Eine Leere schaffen. Es hinbekommen, dass das Universum sich zusammenzieht, sich so lange zusammenzieht, bis es sich auf den Gewehrlauf oder die Messerspitze verdichtet. Das ist alles. Sich keine Fragen stellen, nicht von der Wut leiten lassen, ein Protokoll erstellen, methodisch vorgehen. Blake kennt sich da aus, und das schon seit so langer Zeit, dass er gar nicht mehr weiß, seit wann er sich auskennt. Der Rest kommt dann ganz von alleine.

Blake bestreitet sein Leben mit dem Tod der anderen. Bitte, keine Moralpredigten. Wenn Sie mit Ethik anfangen, antwortet er mit Statistik. Denn – mit Verlaub, sagt Blake – wenn ein Gesundheitsminister das Budget kürzt, hier einen Scanner streicht, dort einen Arzt und da noch eine Intensivstation, dann dürfte ihm doch klar sein, dass er damit die Existenz von ein paar tausend Unbekannten erheblich verkürzt. Verantwortlich, aber nicht schuldig. Das alte Lied. Blake ist das Gegenteil. Und überhaupt, er hat sich nicht zu rechtfertigen, es ist ihm egal.

Töten, das ist keine Berufung, das ist eine Veranlagung. Ein Geisteszustand, wenn Ihnen das lieber ist. Blake ist elf Jahre alt und nennt sich noch nicht Blake. Er sitzt neben seiner Mutter im Peugeot auf einer kleinen Landstraße bei Bordeaux. Sie fahren nicht wirklich schnell, ein Hund kreuzt die Straße, der Aufprall bringt sie kaum aus der Spur, die Mutter schreit auf, bremst, viel zu heftig, der Wagen schlingert, der Motor säuft ab. Bleib im Auto, Liebling, um Gottes willen, bleib brav im Auto. Blake gehorcht nicht, er folgt seiner Mutter. Es ist ein grauhaariger Collie, der Zusammenstoß hat ihm den Brustkorb eingedrückt, sein Blut fließt über den Straßenrand, aber er ist nicht tot, er winselt, es hört sich an wie ein jammerndes Baby. Die Mutter ist panisch, läuft in alle Richtungen, hält ihre Hände vor Blakes Augen, stammelt zusammenhanglose Wörter, sie will einen Krankenwagen rufen, Aber Mama, das ist ein Köter, nichts als ein Köter. Auf dem rissigen Asphalt hechelt der Collie, sein gebrochener, verdrehter Körper krümmt sich in einem bizarren Winkel, Zuckungen, die langsam schwächer werden, durchrütteln ihn, er agonisiert unter Blakes Augen, und Blake beobachtet interessiert, wie das Leben aus dem Tier entweicht. Es ist zu Ende. Der Junge mimt ein wenig Trauer, das heißt, er mimt das, was er für Trauer hält, damit seine Mutter sich keine Fragen stellt, aber er verspürt nichts. Die Mutter steht noch immer da, wie zu Eis gefroren vor dem kleinen Leichnam, Blake verliert die Geduld, zieht sie am Ärmel, Los, Mama, es bringt nichts hierzubleiben, er ist jetzt tot, gehen wir, ich komm zu spät zum Fußball.

 

Töten, das meint auch Fertigkeiten. An dem Tag, da sein Onkel ihn mit auf die Jagd nimmt, stellt Blake fest, dass er alles hat, was er braucht. Drei Schüsse, drei Hasen, eine Art Begabung. Er zielt schnell und genau, er weiß sich mit den schlimmsten verrotteten Karabinern abzufinden, mit den am schlechtesten justierten Gewehren. Die Mädchen schleppen ihn mit auf die Kirmes, Hey, bitte, ich will die Giraffe, den Elefanten, den Game Boy, ja, genau, noch mal! Und Blake verteilt Plüschtiere, Spielekonsolen, er wird zum Schrecken der Schießbuden, bevor er sich dafür entscheidet, diskret zu agieren. Blake gefällt auch, was Onkel Charles ihm beibringt, Rehen die Kehle durchtrennen, Hasen aufbrechen. Verstehen wir uns richtig: Er empfindet keinerlei Vergnügen beim Töten oder wenn er einem waidwunden Tier den Rest gibt. Er ist kein perverser Wüstling. Nein, was ihm gefällt, das sind die technischen Handgriffe, die reibungslose Routine, die sich kraft steter Wiederholung einstellt.

Blake ist zwanzig Jahre alt und unter einem sehr französischen Namen, Lipowski, Farsati oder Martin, an einer Hotelfachschule in einer kleinen Stadt in den Alpen eingeschrieben. Doch Vorsicht, das ist keine Verlegenheitswahl, er hätte egal was machen können, er hatte auch Spaß an Elektronik, am Programmieren, er war sprachbegabt, Englisch zum Beispiel, gerade einmal drei Monate bei Lang’s in London, und er sprach fast akzentfrei. Aber was Blake am meisten gefällt, das ist Kochen. Wegen der Momente im Leerlauf, in denen man ein Rezept ersinnt, wegen der Zeit, die ohne Hast verstreicht, selbst inmitten des fieberhaften Treibens in einer Küche, der langen stillen Sekunden, in denen man zuschaut, wie die Butter in der Pfanne zerläuft, die Zwiebeln glasig werden, ein Soufflé aufgeht. Er liebt den Duft der Gewürze, er liebt es, auf den Tellern ein Arrangement von Farben und Geschmacksnoten zu kreieren. Er hätte der brillanteste Eleve der Schule sein können, aber scheiße noch mal, ehrlich, Lipowski (oder Farsati oder Martin), es könnte nicht schaden, wenn Sie nur ein wenig freundlicher zu den Gästen wären. Das ist ein Dienstleistungsgewerbe, Dienstleistung, merken Sie sich das, Lipowski (oder Farsati oder Martin)!

Eines Abends erklärt ihm ein ziemlich betrunkener Typ in einer Bar, dass er jemand anderen umbringen lassen will. Er hat gewiss einen guten Grund dafür, irgendwas mit dem Job, mit einer Frau, aber Blake schert sich nicht drum.

– Würdest du das machen, für Kohle?

– Du bist verrückt, antwortet Blake. Total verrückt.

– Ich zahle, und zwar anständig.

Er schlägt eine Summe mit drei Nullen vor. Blake amüsiert sich.

– Nicht doch, soll das ein Witz sein?

Blake trinkt langsam, lässt sich alle Zeit. Der Typ ist auf dem Tresen zusammengesackt, er schüttelt ihn.

– Hör zu, ich kenne jemanden, der es machen würde. Fürs Doppelte. Ich bin ihm noch nie begegnet. Morgen sage ich dir, wie du ihn erreichen kannst, aber dann zu mir kein Wort mehr darüber, okay?

In dieser Nacht erfindet Blake Blake. Wegen William Blake, den er gelesen hat, nachdem er Roter Drache gesehen hatte, den Film mit Anthony Hopkins, und weil ihm ein Gedicht gefiel: «In die gefährliche Welt ich sprang: / hilflos, nackt, laut wimmernd: / wie ein böser Geist versteckt in einer Wolke». Und außerdem: Blake, black, Lack – und klack!

 

Schon am nächsten Tag beherbergt ein nordamerikanischer Server die in einem Genfer Internetcafé geschaffene Mail-Adresse eines gewissen blake.mick.22, Blake kauft gegen Barzahlung einem Unbekannten einen gebrauchten Laptop ab, besorgt sich ein altes Nokia und eine Prepaid-SIM-Karte, einen Fotoapparat, ein Teleobjektiv. Nachdem die Ausrüstung komplett ist, liefert der angehende Koch dem Typen den Kontakt dieses «Blake», «ohne Garantie, dass die Adresse noch funktioniert», und er wartet. Drei Tage später schickt der Mann aus der Bar Blake eine windungsreiche Nachricht, aus der hervorgeht, dass er der Sache nicht traut. Er stellt Fragen. Sucht nach dem Fehler im System. Lässt manchmal einen Tag zwischen zwei Mailwechseln verstreichen. Blake spricht von Zielvorgabe, von Logistik, von Lieferzeiten, und diese Vorsichtsmaßnahmen wiegen ihn endlich in Sicherheit. Sie einigen sich, Blake verlangt die Hälfte als Vorschuss: Jetzt sind es schon vier Nullen. Als der Mann ihm seinen Wunsch offenbart, es möge nach einer «natürlichen Ursache» aussehen, verdoppelt Blake die Summe und verlangt einen Monat Zeit. Nunmehr davon überzeugt, dass er es mit einem Profi zu tun hat, akzeptiert der Mann alle Bedingungen.

Es ist sein erstes Mal, und Blake spielt alles durch. Er ist bereits äußerst sorgfältig, vorsichtig, erfinderisch. Er hat schon so viele Filme gesehen. Man macht sich keine Vorstellung davon, was die Auftragskiller den Szenaristen in Hollywood verdanken. Schon zu Anfang seiner Karriere empfängt er die vereinbarte Summe, die Informationen zu seinem Auftrag in einem Plastikbeutel, der an einem von ihm zuvor festgelegten Ort abgelegt wird: ein Bus, ein Fast-Food-Restaurant, eine Baustelle, eine Mülltonne, ein Park. Er vermeidet allzu abgelegene Winkel, in denen man nur ihn sähe, allzu stark bevölkerte, in denen er niemanden ausfindig machen könnte. Er wird stets Stunden im Voraus zur Stelle sein, um die Umgebung zu erkunden. Er wird Handschuhe tragen, eine Kapuze, einen Hut, eine Brille, sich die Haare färben, lernen, wie man sich einen falschen Bart anklebt, die Wangen höhlt, sie bläht, er wird Dutzende von Nummernschildern aus aller Herren Länder zur Verfügung haben. Mit der Zeit übt Blake sich im Messerwerfen, je nach Distanz half-spin oder full-spin, er macht sich mit der Herstellung einer Bombe vertraut, mit der Extraktion eines nicht nachweisbaren Gifts aus einer Qualle, er weiß, wie man in wenigen Sekunden einen 9-mm-Browning, eine Glock 43 auseinandernimmt und zusammenbaut, er lässt sich in Bitcoins bezahlen, dieser Kryptowährung, deren Ströme nicht nachvollziehbar sind, und kauft damit auch seine Waffen. Er richtet seine Seite im Deep Web ein, und das Darknet wird für ihn eines Tages zum Kinderspiel. Denn es gibt Tutorials für absolut alles im Internet. Man braucht nur zu suchen.

Seine Zielvorgabe ist also ein Mann in den Fünfzigern, Blake bekommt sein Foto, seinen Namen, aber er beschließt, ihn Ken zu nennen. Genau, wie Barbies Ehemann. Eine gute Wahl: Ken, das ist so, als existiere er nicht wirklich.

Ken lebt allein, immerhin schon mal das, sagt sich Blake, denn bei einem verheirateten Typen, drei Kinder, hätte er nicht gewusst, wie er sich eine Gelegenheit verschaffen...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2021
Übersetzer Romy Ritte, Jürgen Ritte
Zusatzinfo Mit 1 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerikanische Wirklichkeit • Doppelleben • Doppelung • Flughafen • frankreich roman • französische Bücher • Französische Gegenwartsliteratur • Französische Literatur • high concept • isbn nummer eingeben • Manifest • New York • Oulipo • Parallelgeschichten • Paris • Prix Goncourt • romane frankreich • Science-fiction • spiegel bestseller 2021 • Überwachung • Vatertagsgeschenk • Zeitsprung
ISBN-10 3-644-01076-5 / 3644010765
ISBN-13 978-3-644-01076-5 / 9783644010765
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