Verortungen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
280 Seiten
Orlanda Verlag
978-3-944666-66-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verortungen -  Llucia Ramis
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Erste deutsche Übersetzung der katalanischen Erfolgsautorin. Der Roman setzt sich am Beispiel einer 30-jährigen Journalistin mit den Befindlichkeiten dieser Generation auseinander, die sich in Zeiten von wirtschaftlicher und beruflicher Unsicherheit mit Zukunftsängsten und Themen wie Herkunft, Heimat und Perspektiven beschäftigen. Nach der Rückkehr zu den Eltern nach Mallorca muss die Protagonistin sich mit der Depression des Vaters, der Aufarbeitung alter Liebesbeziehungen und einem gut gehüteten Familiengeheimnis auseinandersetzen. Darüberhinaus thematisiert Verortungen das Versagen der Presse als vierter Macht im Staat. Es ist der außergewöhnliche Roman einer engagierten und politischen Journalistin und Autorin. Was also zunächst als Familiengeschichte beginnt, mit einer Tochter, deren Beruf das Schreiben ist, die von der Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation berichtet, entwickelt sich zu einem sehr vielfältigen Roman. Da er nicht chronologisch erzählt wird, sondern in Schleifen auf bestimmte Punkte zurückkommt und den Geschehnissen immer wieder eine weitere Variante hinzufügt, ist er auch spannend zu lesen. Er lässt dem Leser Zeit, sich einzufinden und der Autorin an all die Plätze zu folgen, an denen sie ihre Erinnerungen verortet. Der Roman wird auf Mallorca als Schlüsselroman gelesen. Das autofiktionale Schreiben von Llucia Ramis ist ein hervorragendes Beispiel für die neue Erzählpoetik ihrer Generation und dies ganz besonders in Katalonien.

Llucia Ramis Laloux (Palma de Mallorca, 1977) ist Autorin und Radio- und Zeitungs- journalistin. Sie war Chefredakteurin der Literaturzeitschrift Quimera, leitete und moderierte die TV-Literatursendung Esto no es Islandia und arbeitete für Medien wie El Periódico, El Mundo und La Red. Ihre Romane wurden mit mit dem Premio Josep Pla 2010 und im selben Jahr mit dem Bartomeu Rosselló-Pòrcel Award ausgezeichnet. Im Jahr 2013 war sie Autorin des Jahres 2013 und für ihren neuen Roman erhielt sie 2018 den Anagramm Award

Llucia Ramis Laloux (Palma de Mallorca, 1977) ist Autorin und Radio- und Zeitungs- journalistin. Sie war Chefredakteurin der Literaturzeitschrift Quimera, leitete und moderierte die TV-Literatursendung Esto no es Islandia und arbeitete für Medien wie El Periódico, El Mundo und La Red. Ihre Romane wurden mit mit dem Premio Josep Pla 2010 und im selben Jahr mit dem Bartomeu Rosselló-Pòrcel Award ausgezeichnet. Im Jahr 2013 war sie Autorin des Jahres 2013 und für ihren neuen Roman erhielt sie 2018 den Anagramm Award

1


Feuchte, salpetergetränkte Luft weht durch die Fluggastbrücke. Ich hänge mir die Tasche über die Schulter. Es ist ein Notfall und ich habe nur das Allernötigste bei mir, aber auch das Allernötigste wiegt. In der Ankunftshalle heißen riesige Plakate mit von photoshopblauem Meer umspülten Buchten die Besucher der Insel auf Spanisch, Katalanisch, Deutsch, Englisch und Französisch willkommen.

Während sie nach den Anzeigetafeln Ausschau halten, ziehen die Touristen zwischen Geschäften mit ensaïmades, Andenkenläden, Cafés und einem Burger King, der ölige Gerüche verströmt, ihre Koffer ungeschickt hinter sich her. Wir anderen folgen einer Strecke, die wir wie im Schlaf kennen, und steuern, ohne uns aufhalten zu lassen, gleich auf den Ausgang zu. Seit dreizehn Jahren lebe ich in Barcelona und fliege mindestens vier Mal im Jahr nach Mallorca. Ich fliege nicht gerne. Flughäfen sind nervtötend, das Schlangestehen, das Warten, das fahle Licht der Neonröhren, das auf die Menschen fällt, die sich an diesem Nicht-Ort befinden. Einige auf dem Weg in die Ferien, andere zur Arbeit. Und ich, kurz davor in Erfahrung zu bringen, was mit meinem Vater los ist.

Ich schalte das Handy ein und sehe zwei entgangene Anrufe von Ivan und eine Nachricht von ihm: „Kopf hoch und Küsse. Wir reden heute Abend.“ Ich habe keine Zeit gehabt, mich von ihm zu verabschieden. Ich finde, in der letzten Zeit kommunizieren wir nur noch über entgangene Anrufe und Nachrichten. Niemand käme auf den Gedanken, dass wir in derselben Redaktion arbeiten und obendrein zusammenleben. Zu viele offene Fronten. Wir sind erschöpft. In ein Flugzeug zu steigen war das Letzte, was ich gerade jetzt brauchen konnte, aber die Stimme meiner Tante hatte besorgt geklungen. Wirklich beunruhigend war allerdings die Tatsache an sich: dass mich meine Tante überhaupt anrief. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie das schon jemals getan hätte. Und trotzdem fiel es mir schwer, ihr Glauben zu schenken. Wenn mein Vater so schlecht beieinander war, wie sie behauptete – „er wird noch jemandem was antun oder aber sich selbst“, wiederholte sie, fast so wie in einer dieser Seifenopern, mit melodramatischem Unterton –, wenn mein Vater wirklich Hilfe brauchte, hätte meine Mutter, die schließlich Psychologin ist wie er, das sicher bemerkt und mir sofort Bescheid gesagt. Andererseits ist meine Mutter sehr verschwiegen und wollte mich vielleicht nicht beunruhigen. Sie ist davon überzeugt, mit allem alleine zurechtzukommen, nie würde sie um etwas bitten. Wie heißt es doch gleich: Der Schuster trägt die schlechtesten Schuhe und so weiter.

„Auf dich hört er, er hört immer auf dich“, meine Tante ließ nicht locker, „dein Vater muss zu einem Spezialisten.“ Und das Wort „Spezialist“ klang bedrohlich. Ich war unschlüssig gestern Nachmittag auf der Glasveranda, die Wäsche halb aufgehängt, das Handy am Ohr. Doch dann kam mir das Panorama der Innenhöfe mit den alten Frauen und den Blumentöpfen, mit den Käfigen, in denen morgens Kanarienvögel zwitscherten, mit einem Mal fremd vor. Mir war gerade eben die Verantwortung zugefallen, mich um meinen Vater zu kümmern, und bliebe ich das Wochenende über zu Hause, würde das meine Unruhe und meine Gewissensbisse nur noch steigern. Außerdem ließ der Satz „auf dich hört er“ mich unentbehrlich fühlen.

Es stimmt, mein Vater ist seit einigen Monaten seltsam. Oder besser gesagt, er verhält sich seltsam. Aber er ist eben temperamentvoll und er liebt es, bis aufs Äußerste zu provozieren. Ich führte es darauf zurück, dass ihm alles zusammen, die gerade ziemlich unsichere politische Situation, ein Nachbarschaftsstreit, der immer weiter eskalierte, und sein Ruhestand gewaltig gegen den Strich gingen. Von mehreren Freunden (und von Ivan) weiß ich, dass viele Väter den Kopf verlieren, wenn sie in Rente gehen. Bei einem Abendessen, bei einem Glas Wein sprechen wir oft darüber, wie verdammt hart es sein muss, sich auf einmal überflüssig zu fühlen. Schlimmer noch: sich als Museum des eigenen Lebens vorzukommen.

Später einmal wird es heißen, dass jetzt, im Jahr 2007, für die Welt, so wie wir sie gekannt haben, der Anfang vom Ende begonnen hat. Aber im Augenblick fehlt uns die Perspektive, um dies zu erkennen. Die Krisendrohungen klingen in unseren Ohren nach den typischen Endzeittiraden der Wirtschaftsgurus. Natürlich haben sie recht, aber sie erreichen damit genauso viel, um nicht zu sagen, genauso wenig wie Umweltschützer, die vor den Auswirkungen des Ozonlochs warnen, vor dem Klimawandel oder dem Plastikmüll in unseren Ozeanen. „Bis hierher lief’s noch ganz gut“, versucht sich ein Typ zu beruhigen, während er von einem Hochhaus in die Tiefe fällt. Diese Pointe aus dem Film Hass beschreibt die oberflächliche Freude, mit der wir jeglichen Gedanken an die Zukunft vermeiden, auf die wir unweigerlich zusteuern. Ich habe nur einen Zeitvertrag, aber der ist fair. Wie Ivan zu so viel Geld kommt, diese Frage stelle ich mir nicht. Mit gerade dreißig stehen wir beruflich ganz gut da, es scheint so, als ob man uns endlich zu schätzen weiß.

Unsere Väter befinden sich auf einer anderen Ebene, fast könnte man meinen, in einem anderen Universum. Manchmal sagen wir im Scherz, sie hätten sich in unsere Kinder verwandelt. Vor allem der Vater von Ivan, seit seine Mutter ihn um die Scheidung gebeten hat.

„Es ist zum Verrücktwerden. Mein Vater kommt alleine einfach nicht klar. Er kann sich noch nicht mal ein Spiegelei braten“, sagte Ivan. Er saß am Steuer und wir waren auf dem Heimweg von der Arbeit, spät, wie immer, nachdem wir zuvor noch an der Imbissbude, die zwei Straßen von der Redaktion entfernt liegt, eine Bratwurst gegessen hatten.

„Und deine Mutter kommt sicher nicht damit klar, vierundzwanzig Stunden am Tag mit ihm zu verbringen. Als er gearbeitet hat, da ging’s vielleicht noch. Aber jetzt … Stell dir vor, du hast den ganzen Tag zu Hause auf dem Sofa einen Kerl hocken, der nicht in der Lage ist, sich ein Spiegelei zu braten.“

Mein Vater ist eher der hyperaktive Typ. Er hatte sich auf den Ruhestand gefreut, um endlich all das tun zu können, wonach ihm war und was er bislang nicht machen konnte, weil er keine Zeit dazu hatte, und das bedeutete vor allem, die mallorquinische Fauna und Flora zu retten und sich seinem Blog zu widmen. Ein sehr politischer Blog, in dem er den Partido Popular kritisiert und den nordamerikanischen Kapitalismus. Bis vor kurzem klickten Tausende seine Seite an, die Leute hinterließen einen Kommentar, renommierte Journalisten der Insel beglückwünschten ihn sogar. Er hatte eine Stimme. Er war jemand.

Der Eintrag, der vielleicht alles ins Rollen gebracht hat, trägt den Titel „Die Mauer“. Andererseits ist es irgendwie absurd, einen einfachen Text dafür verantwortlich zu machen, dass ich jetzt hier bin und an den Kofferbändern vorbeihaste, auf denen sich immer mehr Gepäckstücke ansammeln, bereit zum Abholen.

Die Ursache dafür muss tiefer liegen und nur, indem ich in der Erde scharre und mir die Hände schmutzig mache, kann ich ihr auf den Grund gehen.

Mein Vater, papaíto, wenn ich in unseren Diskussionen sarkastisch und respektlos werde, mumpare, wenn ich ihn auf Mallorquinisch anspreche, Juan Mateo in seinen Ausweispapieren und Mateu für alle übrigen, ist für mich: Papa. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes der Mann meines Lebens, denn ohne ihn wäre ich nicht hier. Jetzt bin ich seinetwegen hier und ich weiß, er wird mich abholen, so wie immer, eifrig bemüht, wenn es um jemanden aus der Familie geht, für meine Begriffe ein wenig zu sehr. Er bringt mich zur Verzweiflung, ohne dass es einen konkreten Grund dafür gäbe. Seine grenzenlose Güte und dieses fast flehende Verlangen nach Liebe in seinen Augen, wenn er mich anschaut, machen mich einfach wahnsinnig. Als ob er tief im Inneren befürchtet, ich würde seine Gefühle nicht erwidern oder jedenfalls nicht in dem Maße, wie er es gerne hätte, denn er will immer mehr und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Natürlich wird er mir meine Tasche abnehmen wollen, ich werde ihm sagen, dass er das nicht braucht, er wird darauf bestehen, ich werde wieder Nein sagen und er wird mich ein drittes Mal fragen, „willst du bestimmt nicht, dass ich deine Tasche nehme?“

Er sagt zu nichts Nein und du musst alles drei Mal wiederholen, bis er es akzeptiert. Willst du sicher nicht den Nachtisch probieren, den er sich im Restaurant bestellt hat? Soll er dich nicht doch mit dem Auto hinfahren? Willst du wirklich nicht, dass er nach Barcelona kommt und dir dabei hilft, den Computer zu konfigurieren? Nein, nein und nochmals nein. Danke, aber nein. Seine Beharrlichkeit bringt mich gegen ihn auf und das mit einer Vehemenz, die er als Konfrontation empfindet. Vielleicht ist es das ja auch. Schroff, weil ungeduldig. Wäre es denn nicht viel einfacher, er würde akzeptieren, was ich will oder eben nicht mehr will, ohne darauf zu bestehen, was ich seiner Vorstellung nach zu wollen habe? Ich wüsste gar nicht,...

Erscheint lt. Verlag 16.12.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Depression • Frauen • Generationenroman • Journalismus • Journalismuskritik • Katalanien • Korruption • Liebe • Mallorca • Spanien
ISBN-10 3-944666-66-6 / 3944666666
ISBN-13 978-3-944666-66-2 / 9783944666662
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