Plötzlich klopft es an der Tür (eBook)

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2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2839-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Plötzlich klopft es an der Tür - Etgar Keret
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»Von all den großartigen Büchern, die Etgar Keret geschrieben hat, ist das sein allerbestes.« Jonathan Safran Foer.

Mit einer grandiosen Kurzgeschichtensammlung meldet sich der israelische Meistererzähler Etgar Keret zurück. Wir begegnen einem sprechenden Goldfisch, der Wünsche erfüllt, einem pathologischen Lügner, der feststellen muss, dass alle seine Lügen wahr sind, und einer Frau, die einen Reißverschluss im Mund ihres Geliebten entdeckt. Etgar Keret kondensiert ganze Leben in ein paar Sätze, witzig, überraschend, immer zugleich surreal und nah an der Wirklichkeit. Er schreibt über Nostalgien und Sehnsüchte - mit unwiderstehlicher Phantasie und großer menschlicher Tiefe.



Etgar Keret, geboren 1967 in Ramat Gan, Israel, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Israels. Er gilt als Meister der Kurzgeschichte, seine Short-Story-Bände sind in Israel Bestseller und werden in 40 Sprachen übersetzt. Sein neuester Band »Tu's nicht« wurde mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Etgar Keret schreibt auch Drehbücher und Graphic Novels. Er lebt mit seiner Familie in Tel Aviv. Mehr zum Autor unter www.etgarkeret.com.

Plötzlich klopft es an die Tür


»Erzähl mir eine Geschichte«, befiehlt der bärtige Mann, der bei mir im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzt. Die Lage, ich gestehe es, ist nicht gerade erfreulich für mich. Ich schreibe schließlich Geschichten, ich erzähle sie nicht. Und auch das mache ich nicht auf Bestellung. Der letzte Mensch, der mich gebeten hat, ihm eine Geschichte zu erzählen, war mein Sohn. Das war vor einem Jahr. Ich habe ihm etwas von einer Fee und einer Wühlmaus erzählt, ich weiß nicht mal mehr, was, und nach zwei Minuten ist er eingeschlafen. Doch hier ist die Lage wesentlich anders geartet. Denn mein Sohn hat keinen Bart. Und keine Pistole. Denn mein Sohn hat um die Geschichte hübsch gebeten, während dieser Mann einfach versucht, sie mir zu rauben.

Ich versuche dem Bärtigen zu erklären, dass es sich, wenn er die Pistole in die Tasche zurücksteckte, nur zu seinen Gunsten auswirken würde. Zu unseren Gunsten. Es ist schwierig, eine Geschichte zu erfinden, wenn dir die Mündung einer geladenen Pistole auf den Kopf zielt. Aber der Kerl bleibt stur. In diesem Staat, erklärt er, musst du, wenn du was willst, es mit Gewalt einfordern. Er ist ein Neueinwanderer aus Schweden. In Schweden ist das völlig anders. Dort bittet man, wenn man was will, höflich darum, und meistens kriegt man es auch. Aber in dieser dampfenden und erstickenden Levante ist das nicht so. Eine Woche hier reicht dir aus, um zu verstehen, wie es funktioniert. Oder richtiger gesagt, um zu kapieren, wie es nicht funktioniert. Die Palästinenser haben hübsch um einen Staat gebeten. Haben sie was gekriegt? Einen Scheißdreck haben sie gekriegt. Haben sie sich darauf verlegt, Kinder in Bussen in die Luft zu jagen, und plötzlich fing man an, ihnen zuzuhören. Die Siedler wollten, dass man den Dialog mit ihnen aufnimmt. Hat man? Einen feuchten Dreck hat man. Haben sie rumgeprügelt, ein bisschen kochendes Öl auf Grenzwächter gekippt, und auf einmal hat man angefangen, ihnen entgegenzukommen. Dieser Staat ist ein Staat, der nur Gewalt versteht, egal, ob von Politik, Wirtschaft oder einem Parkplatz die Rede ist. Bloß Gewalt verstehen wir hier.

Schweden, von wo aus der Bärtige die Einwanderung nach Israel gemacht hat, ist ein fortschrittlicher Ort, erfolgreich auf nicht gerade wenigen Gebieten. Schweden ist nicht bloß Abba und Ikea und Nobelpreis. Schweden, das ist eine volle Welt, und alles, was sie erreicht haben, haben sie ausschließlich auf sanften Wegen erreicht. In Schweden, wenn er zum Haus der Solistin von Ace of Base gehen, an die Tür klopfen und darum bitten würde, dass sie ihm ein Lied vorsingt, würde sie ihm ein Glas Tee machen, eine Akustikgitarre unterm Bett rausziehen und für ihn spielen. Und das alles mit einem Lächeln. Aber hier? Wenn er keine Pistole in der Hand hätte, würde ich ihn doch bloß sämtliche Treppen hinunterwerfen.

»Schauen Sie«, versuche ich einzuwenden.

»Nichts da mit schauen Sie«, knurrt der Bärtige und spannt den Abzug, »entweder eine Geschichte oder eine Kugel in den Kopf.« Ich begreife, dass mir keine Wahl bleibt. Dem Kerl ist es absolut ernst.

»Zwei Menschen sitzen in einem Raum«, fange ich an, »und plötzlich hört man ein Klopfen an der Tür.« Der Bärtige richtet sich gespannt auf. Für einen Moment kommt mir vor, die Geschichte habe ihn gepackt, aber nein, die ist es nicht. Er horcht auf etwas anderes. Jemand klopft wirklich an die Tür.

»Mach auf«, sagt er zu mir, »und probier ja nichts. Bring ihn so schnell wie möglich weiter, sonst wird das böse enden.« Der junge Mann an der Tür ist von einer Meinungsumfrage. Er hat ein paar Fragen. Kurze. Zur hohen Feuchtigkeit hier im Sommer und dazu, wie sie sich auf meine Nerven auswirkt. Ich sage ihm, dass ich nicht interessiert bin, an der Umfrage teilzunehmen, aber er drängt sich trotzdem in die Wohnung.

»Wer ist das?«, fragt er mich und deutet auf den Bärtigen.

»Das ist mein Neffe aus Schweden«, lüge ich. »Er ist hergekommen, um seinen Vater zu beerdigen, der durch eine Schneelawine getötet wurde. Wir gehen gerade das Testament durch. Wären Sie bitte bereit, unsere Privatsphäre zu respektieren und zu gehen?«

»Is ja schon gut«, klopft mir der Meinungsforscher auf die Schulter, »doch bloß ein paar Fragen, gib deinem Bruder eine Chance, sich zu ernähren. Sie zahlen mir pro Kopf.« Er lümmelt sich mit seinem Ordner auf das Sofa. Der Schwede setzt sich neben ihn. Ich stehe noch, versuche entschieden zu klingen.

»Ich bitte Sie zu gehen«, sage ich zu ihm, »Sie sind zu einer ungünstigen Zeit gekommen.«

»Ungünstig, eh?« Der Meinungsforscher zieht einen Trommelrevolver aus dem Ordner. »Warum denn ungünstig, weil dein Bruder Orientale ist? Für Schweden, wie ich sehe, hast du ein Meer von Zeit. Aber für einen Marokkaner, einen entlassenen Soldaten, der ein Stück von seiner Milz im Libanon gelassen hat, für einen Kameraden hat man nicht mal ne Minute übrig.« Ich versuche ihm zu erklären, dass dem so nicht ist. Dass er mich einfach in einem delikaten Augenblick mit diesem Schweden erwischt hat. Aber der Meinungsforscher nähert den Revolverlauf seinen Lippen, signalisiert mir, den Mund zu halten. »Marschmarsch, allez-hopp«, sagt er, »nix mit Ausreden. Setz dich hier in den Sessel, und fang an auszuspucken.«

»Was ausspucken?«, frage ich. Die Wahrheit ist, dass ich jetzt langsam echt in Stress komme. Auch der Schwede hat eine Schusswaffe, es könnte hier eine Spannung entstehen, Ost-West und solches Zeug, Mentalitätsunterschiede. Oder er könnte einfach bloß so explodieren, weil er die Geschichte nur für sich selber, solomäßig, wollte.

»Leg dich nicht mit mir an«, droht der Meinungsforscher, »ich hab ne kurze Lunte. Nu, spuck schon aus, irgendeine Geschichte, ticketacke.«

»Ja«, schließt sich ihm der Schwede in überraschender Harmonie an, und auch er richtet seine Waffe auf mich. Ich räuspere mich und fange wieder an:

»Drei Menschen sitzen in einem Raum …«

»Und ohne ›plötzlich klopft es an der Tür‹«, fährt der Schwede warnend dazwischen. Der Meinungsforscher versteht nicht genau, was er damit meint, aber er springt auf die gleiche Welle mit auf.

»Wallah«, sagt er, »ohne Türklopfen. Erzähl was anderes. Was Überraschendes.« Ich schweige einen Moment, hole Luft. Beider Blick ist auf mich konzentriert. Wie kommt es nur, dass ich immer in solche Situationen gerate? Einem Amos Oz oder Grossman würde das nie im Leben passieren. Plötzlich ist ein Klopfen an der Tür zu hören. Ihr Blick wird konzentriert drohend. Ich zucke mit den Achseln. Das bin schließlich absolut nicht ich. Es gibt überhaupt nichts in meiner Geschichte, das mit diesem Klopfen in Zusammenhang steht.

»Werd ihn los«, befiehlt mir der Meinungsforscher, »werd ihn los, wer immer das auch ist.« Ich öffne die Tür nur einen Spalt. Ein Pizzabote steht dort.

»Bist du Keret?«, fragt er.

»Ja«, sage ich, »aber ich habe keine Pizza bestellt.«

»Bei mir steht hier, Zamenhoff vierzehn«, er wedelt mir mit einem Zettel vor der Nase herum und drängelt sich hinein.

»Das mag ja da stehen«, sage ich, »aber ich habe überhaupt keine Pizza bestellt.«

»Familienausgabe«, beharrt er. »Halb Ananas, halb Sardellen. Ist schon bezahlt. Mit Karte. Gib mir bloß ein Trinkgeld, und weg bin ich.«

»Bist du auch wegen der Geschichte hier?«, forscht der Schwede.

»Was für eine Geschichte?«, fragt der Bote. Man sieht, dass er schwindelt, er ist nicht besonders gut darin.

»Hol ihn raus«, wirft ihm der Meinungsforscher zu, »nu, hol schon den Revolver raus.«

»Ich hab keinen Revolver«, gesteht der Bote und deckt unter seinem Pizzapappkarton ein langes Schlachtermesser auf. »Aber ich schneid ihn in Scheibchen wie eine Pastrami, wenn er mir hier jetzt nicht gleich irgendein Geschichtchen vorsingt.«

Die drei sitzen auf dem Sofa. Der Schwede rechts, neben ihm der Bote, links der Meinungsforscher.

»Ich kann so nicht«, sage ich zu ihnen, »da kommt einfach keine Geschichte raus, wenn ihr drei mit der Waffe und dem Ganzen hier seid. Geht raus, dreht mal eine kleine Runde, und bis ihr zurückkommt, werde ich schon irgendwas fertig haben.«

»Der Scheißkerl wird die Polizei rufen«, sagt der Meinungsforscher zum Schweden, »was meint der denn, dass wir von gestern sind?«

»Nu, jetzt rück schon eine raus, und dann gehen wir«, fleht der Bote, »eine, eine kurze. Sei kein Knauser. Es sind schwere Zeiten. Arbeitslosigkeit, Anschläge, Iraner. Die Leute sind gierig nach was anderem. Was, meinst du denn, hat uns, korrekte Normalbürger, so weit gebracht, bis hierher zu dir? Die Verzweiflung, Mann, die Verzweiflung.«

Ich nicke und fange wieder an.

»Vier Menschen sitzen in einem Raum. Es ist heiß. Langweilig. Die Klimaanlage läuft nicht. Einer von ihnen verlangt eine Geschichte. Der zweite und der dritte schließen sich ihm an …«

»Das ist keine Geschichte«, platzt der Meinungsforscher wütend dazwischen, »das ist ein Bericht. Das ist genau das, was hier jetzt passiert. Genau das, vor dem wir zu fliehen versuchen. Kipp doch die Wirklichkeit nicht so über uns aus wie ein Mülllaster. Wirf deine Phantasie an, Bruderherz, erfind was, lass es strömen, geh damit so weit wie möglich.« Ich fange erneut an.

»Ein Mann sitzt allein in einem Zimmer. Er ist einsam. Er ist Schriftsteller. Er will eine Geschichte schreiben. Sehr viel Zeit ist vergangen, seit er seine letzte Geschichte...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2021
Übersetzer Barbara Linner
Sprache deutsch
Original-Titel Pit‘om Dfika Ba-Delet
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Erzählungen • Etgar Keret • Familie • Goldfisch • Humor • Israel • Komik • Leben • Liebe • Storys • Weltliteratur • Witz
ISBN-10 3-8412-2839-9 / 3841228399
ISBN-13 978-3-8412-2839-0 / 9783841228390
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