Matou (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
960 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27158-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Matou - Michael Köhlmeier
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Der charismatischste Erzähler der Welt ist ein Kater - ' Michael Köhlmeier ist ein stofflich wie stilistisch monumentales Werk gelungen.' Jérôme Jaminet, SWR2
Die großen Fragen der Menschheit - betrachtet von einem einzigartigen Kater: Matou. Sein Leben ist ein Sieben-Leben-Leben, es reicht von der Französischen Revolution bis in die Gegenwart. Seine Leidenschaft ist es, den Menschen verstehen zu lernen. E.T.A. Hoffmann und Andy Warhol kannte er persönlich, auf der Katzeninsel Hydra führte er einst einen autokratischen Staat und kämpfte im Kongo gegen die Kolonialherren. Matous Leben sind voller großer Abenteuer, er ist ein wilder Geschichtenerzähler und ein noch größerer Philosoph. Er ist der Homer der Katzen. Der neue große Roman von Michael Köhlmeier ist eine Liebeserklärung an Mensch und Tier: voller Sprachwitz und Ironie. Ein Geniestreich.

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane Abendland (2007), Madalyn (2010), Die Abenteuer des Joel Spazierer (2013), Spielplatz der Helden (2014, Erstausgabe 1988), Zwei Herren am Strand (2014), Das Mädchen mit dem Fingerhut (2016), Bruder und Schwester Lenobel (2018), Matou (2021) und zuletzt Frankie (2023), außerdem die Gedichtbände Der Liebhaber bald nach dem Frühstück (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und Ein Vorbild für die Tiere (Gedichte, 2017) sowie die Novelle Der Mann, der Verlorenes wiederfindet (2017) und Die Märchen (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.

 

 

ZWEITES KAPITEL


 

1


 

Ich bin im Begriff zu erfahren, dass es eine Kunst ist, einen eigenen Gedanken in Worte zu fassen – nicht zu vergleichen mit dem bloßen Niederschreiben von Gedanken anderer! Bisher habe ich aus Büchern abgeschrieben. Um in Form zu bleiben. Das eigene Wort zwingt den Gedanken in eine enge Abhängigkeit – auch das erfuhr ich erst, als ich nach Worten suchte, um sie aufzuschreiben. Du musst also verzeihen, wenn meine Erzählung noch nicht den stabilen Ton gefunden hat, den du erwarten darfst.

Du wirst keinen beleseneren Kater, keine belesenere Katze, keinen beleseneren Affen finden als mich. Wenigstens zwei meiner sieben Leben habe ich in Bibliotheken zugebracht. Es wird dir nicht entgangen sein, dass ich in den vorherigen Abschnitten Zitate eingewoben habe, das heißt, sie haben sich ganz von selbst in meine Gedanken eingefügt – sind ganz von selbst »in meine Feder geflossen«. Es waren Halbzeilen aus Thomas Carlyles großer Darstellung der Französischen Revolution dabei, auch Wendungen anderer Autoren zum selben Thema wie Jules Michelet oder Albert Soboul, ein umstrittenes und ein gesichertes Zitat von Danton, ein verstümmeltes von Immanuel Kant, ein Bonmot von Paul-Henri Thiry d’Holbach, Trauriges von Robert Burton, dem ersten Erforscher der Traurigkeit, Krümelchen von Shakespeare, Blaise Pascal und Augustinus, ein Schäufelchen Seneca, zu Anfang gleich ein breiter Batzen Jean-Jacques Rousseau, einiges schon lange Gemerktes und Gemischtes, alles durchaus kunterbunt – das Gedankenzelt, in dem ich wohne, ist zusammengesetzt aus vielen Flicken, und bisweilen dünkt mich, es ist nicht ein Zelt, sondern die Haut unter meinem Fell.

Bald nachdem ich begonnen hatte zu lesen und im technischen Umgang mit einem Buch einigermaßen geübt war, verschlang ich ganze Regale voll – wenn mir diese Metapher erlaubt ist … wobei ich ohne Absicht eine der ersten und höchsten Hürden beim Namen nenne, die einem wie mir in den Weg gestellt werden, wenn er sich über eure Sprache die Welt aneignen möchte: die Metapher. Ich habe immer wieder versucht, mich mit Meinesgleichen über diese Merkwürdigkeit auszutauschen – der einen oder anderen Katze bin ich begegnet, die sich für euch mehr interessiert hat als die meisten von euch für uns. Man hielt Euresgleichen für verrückt, ich sage es heraus. Wie kann jemand etwas sagen wollen, indem er von etwas anderem spricht? Ich formulierte vorhin, ich sei bei »einer Hürde« angelangt – wo ist sie denn, die Hürde, wie sieht sie aus, wie riecht sie, wie fühlt sie sich an, wenn man den Buckel an ihr reibt? Ah, es ist gar keine wirkliche Hürde? So was! Aber sie wird mir »in den Weg gestellt« – wer stellt sie mir denn in den Weg, wie riecht er, ist er ein Katzenfreund oder nicht, und überhaupt: Wo bitte soll ein Weg sein, wenn ich in meinem Büro hocke und ein Buch lese oder an meinen Lebensgeschichten schreibe? Ah, da ist gar niemand, der etwas stellt, und einen Weg gibt es auch nicht? So was! Ich habe »Regale voll Büchern verschlungen«? Wohl bekomm’s! Katzen sagen: »Ich habe Fleisch gefressen«, dann haben sie Fleisch gefressen, oder sie sagen, »mein Herr hat sich mir in den Weg gestellt«, dann hat sich der Herr in den Weg gestellt und so weiter – das Fleisch ist Fleisch, der Herr ist der Herr, und der Weg ist der Weg. Was ist, ist das, was es ist, und ist so, wie es ist, und basta. Die Dinge sind ergreifend, tragisch, schön, lustig, beständig, wirr, bequem, lästig, langweilig, unnahbar, tröstlich, prächtig, angsteinflößend – und sie sind, was sie sind, und ein Ding steht nicht für ein anderes, sondern nur für sich selbst. Ihr sprecht vom Herzen, meint jedoch nicht den pumpenden Klumpen in eurer Brust, sondern ein Gefühl; wisst allerdings nicht, was genau ein Gefühl ist, und flüchtet euch wieder in Umschreibungen und sucht nach Worten, blumigen oder grässlichen, rührenden oder abstoßenden, lobenden oder erniedrigenden, die ihr ebenso wenig definieren könnt; behauptet aber, dass nur Euresgleichen befähigt seien, Gefühle, jedenfalls jene, die ihr die tiefen, edlen, wahren nennt, zu empfinden, während Meinesgleichen tatsächlich nur einen pumpenden Klumpen in der Brust tragen, der sich zur Metapher nicht eignet. Bis ich mein erstes Buch gelesen hatte, dachte ich, was ich nicht mit meiner Pfote berühren kann, kann ich auch nicht denken. – Ganz bin ich von dieser Meinung nicht abgewichen, aber allzu vehement vertreten möchte ich sie auch nicht mehr, zumal mir von einem Gescheiten erklärt wurde, wenn ich etwas denke, was sich angreifen lässt, so ist es, wenn ich es denke, auf alle Fälle ein Gedanke, und Gedanken lassen sich nicht angreifen – ihr seid wahrhaftig ein kompliziertes Geschlecht …

Und apropos »Feder«: Das war wieder eine Metapher oder etwas Ähnliches, eine poetische Umschreibung oder eine ironische Wendung oder historische Reminiszenz – such es dir aus. Tatsächlich benützte ich beim Schreiben keine Feder. Und wahrscheinlich niemand von euch, der heute diese Redewendung gebraucht, verwendet eine solche. Camille Desmoulins hingegen schrieb tatsächlich mit einer Feder. Ihr arbeitet am Computer. Ich schreibe seit jeher mit einer meiner Krallen. Ich habe irgendwann in meinem vorletzten Leben eine Schreibmaschine ausprobiert, eine amerikanische Royal Junior aus dem Jahr 1935, war damals schon ein veraltetes Modell. Ging nicht gut. War zu anstrengend für mich, die Tasten niederzudrücken, ich musste mich mit meinem Gewicht darauf stemmen. Sah aus, als bohrte ich in einem Mauseloch, allerdings ohne die Maus zu erwischen. Mein damaliger Herr – du wirst ihn kennen, ich verrate dir seinen Namen noch nicht – besorgte daraufhin eine andere, eine moderne, eine IBM Kugelkopfschreibmaschine, den sogenannten »Sekretärinnen-Traum«. Sie war tatsächlich leicht zu bedienen; ein sanfter Stoß der Pfote, und der Metallkopf mit den vorstehenden Buchstaben schoss vor und schlug mit einem lauten Klack! auf das Farbband. – Uh! Nicht für eine Katze gemacht! – Ich wusste, der Klack wurde von mir ausgelöst, aber der von der Natur so tief eingepflanzte Instinkt war nicht zu beruhigen, das Geräusch meldete Gefahr, und diese Meldung paralysierte die Vernunft; jedes Mal zuckte ich zusammen, die Muskeln spannten sich, der Herzschlag verdoppelte sich, und mein Mut raste hin und her zwischen Angst und Mordlust – als hätte ich die Zähne eines Räubers aufeinanderschlagen hören. Mich zu beherrschen, strengte mich so sehr an, dass ich nicht mehr in Worte fassen konnte, was ich niederschreiben wollte. Mein Herr war nachsichtig mit mir, er hielt nichts von Dressur; er respektierte meine Natur, und wir verschenkten das wertvolle Stück, das heißt, wir stellten es auf die Straße, fünf Minuten später war es weg. Er engagierte Sekretärinnen, die mitschreiben sollten, was ich erzählte. Du musst wissen, mein Herr war ein berühmter Mann, es war für ihn leicht, jemanden zu finden, der sich auf Extravaganzen einließ. Er gab eine Annonce in die Zeitung: »Sekretärin gesucht, die auch vor dem Außergewöhnlichsten nicht zurückschreckt« – darunter sein Name. Über hundert Frauen meldeten sich. Aber anscheinend hat die Toleranz gegenüber dem Extravaganten dort ihre Grenze, wo ein Tier anfängt zu sprechen. Eine der Sekretärinnen bekam einen Nervenzusammenbruch, gleich als ich meine Schnauze ein Stückchen öffnete und den ersten Satz sagte, sie musste mit dem Rettungsauto ins Bellevue Hospital in der 1st Avenue gebracht werden. Eine Zweite packte mich und grapschte an mir herum, weil sie den Reißverschluss finden wollte, sie meinte, in meinem Bauch sei wie bei einer Sprechpuppe ein Tonbandgerät versteckt, beinahe hätte sie mich umgebracht. Die Dritte hörte mir eine Weile zu, ohne sich Notizen zu machen, dann stand sie auf und ging. Sehr langsam ging sie, und als sie an meinem Herrn vorüberkam und er sie fragte, was denn los sei, antwortete sie: »Ich hörte, wie eine laute Stimme aus dem Tempel den sieben Engeln zurief: Geht und gießt die sieben Schalen mit dem Zorn Gottes über die Erde!« Sie wurde wenige Tage später festgenommen, nachdem sie im Washington Square Park mit einer Maschinenpistole auf die Vögel in den Bäumen geschossen hatte. Sie behauptete, sie habe die Stadt von dem Tier mit den zehn Hörnern und den sieben Köpfen befreien wollen.

Mein damaliger Herr hielt nicht viel von Handschrift, er bewunderte Maschinen, wollte am liebsten selbst eine sein und sagte voraus, jegliche Handarbeit werde über kurz oder lang aufhören und vergessen werden. Aber er stellte mir Tinte und Papier zur Verfügung, überlegte sich sogar, mir ein Rucksäckchen zu basteln, in dem ein Block und schwarze Kreide für meine Schreibkralle bereitlägen, damit ich mir unterwegs Merkwürdiges notieren könnte. Er war es, der mich animierte, nicht nur abzuschreiben, sondern Eigenes niederzuschreiben. »Nimm, was du findest, und mach es zu Deinem, aber mach es zu Deinem«, sagte er. Die nächtlichen Gespräche mit ihm vermisse ich sehr. Ich werde unsere Geschichte erzählen, wenn die Zeit dazu ist. Dass er eine Katze besaß, die sprechen, lesen und mit der Pfote schreiben konnte, darin hatte er eine metaphysische Bevorzugung seiner Person gesehen; denn bei aller Modernität und kommerziellen Diesseitigkeit und Zukunftsverliebtheit war er ein gottesfürchtiger Mann gewesen, ein Katholik, der zusammen mit seiner Mutter, als sie noch lebte, jeden Sonntag die Heilige Messe in der St. Patrick’s Cathedral besuchte. Manchmal hatte er mich mitgenommen, immer zur Weihnachtsmette, er trug mich unter seinem Mantel an seiner Brust. Er durfte sich darauf verlassen, dass ich Ruhe gab.

Ich habe es in meinem jetzigen Leben mit...

Erscheint lt. Verlag 23.8.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Andy Warhol • Faust • Französische Revolution • Homer • Katzenroman • #ohnefolie • ohnefolie • Philosophie • sieben Leben • Tierroman • Universalgelehrter
ISBN-10 3-446-27158-9 / 3446271589
ISBN-13 978-3-446-27158-6 / 9783446271586
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