Eine Art Familie (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
368 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-27850-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Art Familie -  Jo Lendle
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»Es ist die Geschichte einer deutschen Familie. Zufällig meiner eigenen.« Jo Lendle
Man sucht sich die Zeiten nicht aus, in die man gerät und die einen prägen. So wie Lud und Alma. Lud, 1899 geboren, und sein Bruder Wilhelm verehren Bach und Hölderlin und teilen dieselben unerreichbaren Ideale. Wilhelm, der früh in die nationalsozialistische Partei eintritt, misst andere daran, Lud sich selbst, was ihn ein Leben lang mit sich hadern lässt. Alma hat ihre Eltern schon als Kind verloren. Ihr Patenonkel Lud, wenig älter als sie selbst, und seine Haushälterin werden ihr eine Art Familie werden. Als Professor für Pharmakologie erforscht Lud den Schlaf und die Frage, wie man ihn erzeugen kann. Während er die Tage an der Universität verbringt, kann Alma zu Hause nicht aufhören, an ihn zu denken. Als er beginnt, Giftgas zu erforschen, erzählt er ihr nichts davon. Sein Ringen mit den hehren Idealen wird verzweifelter. Denn da ist auch noch Gerhard, an dessen Seite er im Ersten Weltkrieg kämpfte, den er nicht aus seinem Kopf bekommt.

Vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus und die junge DDR bis in die Bundesrepublik der Nachkriegszeit führt Jo Lendles raffiniert erzählter Roman über das Zerbrechen einer Familie, über Schuld, über Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Welt und die feinen Unterschiede zwischen Schlaf, Narkose und Tod. Es ist die Geschichte einer deutschen Familie - zufällig seiner eigenen.

Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. Bei der DVA veröffentlichte er seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008). 2021 erschien sein Roman »Eine Art Familie« bei Penguin.

NICHTS UND DIE WILDNIS

In der Familie wurde er Lud genannt. Es hat gedauert, bis ich verstand, dass es eine Abkürzung ist, dabei ist es bei uns durchaus üblich, uns mit abgekürzten Namen zu rufen.

Ludwig Lendle war im letzten Jahr des alten Jahrhunderts zur Welt gekommen. In Wiesbaden, wohin ein Vorfahr auf der Suche nach einem besseren Leben aus den Wäldern des Taunus gezogen war. Die Suche nach einem besseren Leben erwies sich als bleibende Herausforderung.

Im Taunus verliert sich die Spur unserer Familie. In Rambach in Nassau, um genau zu sein. Dorthin war vor vielen Zeiten ein Landsknecht gekommen, in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Woher er stammte, ist nicht bekannt, wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt von irgendwoher stammte. Wahrscheinlich wusste er es selber nicht. Geographie gehörte damals noch zu den approximativen Fächern, im Gegensatz zur Religion. Im Vorarlberger Dreiländereck gibt es Familien, deren Namen sich auf den heiligen Landolin zurückführen lassen, vielleicht war das seine Herkunft und er konnte oder wollte nicht zurück. Sein Name war Johannes Lendle. Offenbar ließ er sich in Rambach nieder, um noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Der alte Traum.

In einer Pause des Krieges wurde erhoben, was die Bewohner des Dorfes besaßen. Mit feinem Federstrich schrieb der Amtmann an den Kopf des Blattes eine lange Überschrift: Verzeichnuß derer Inwohner so zu Rambach, und alle Vormundschaften, sammt deren leeren Häußer 4ten Decembris 1630 wie volget.

In einer langen Liste führte er die Männer des Ortes auf und zählte bei jedem hinzu, was er besaß: Er und sein Weib 1 Sohn und 3 Döchter ein paar Ochsen. Oder: Ein Kind helt sich zu Herborn ist schlecht, ein paar entlehnte Rinder. Oder: Zwen Jung, ob sie noch im leben, ist ungewiß.

Ganz am Ende der Liste findet sich ein kurzer Satz. Der Ursprung unserer Familie, unsere Wurzel. In kaum lesbarer Schrift steht dort als letzter Eintrag: Hanß Lendlae hat gar nichts.

Ludwigs Vater war Kolonialwarenhändler gewesen, er war darüber gestorben. Ludwigs Mutter Pauline war eine geborene Machenheimer, der Name hatte ihr in der Schule einigen Spott eingebracht. Mach in Eimer! – die anderen Kinder konnten gar nicht genug davon bekommen. Womöglich hat die Erfahrung sie ein wenig verhärten lassen, es ließe einen manches leichter verstehen. Es gab einen Bruder, Wilhelm. Von ihm wird noch die Rede sein.

An der Kindheit jedenfalls gab es wenig auszusetzen, die Brüder waren gute Sänger, gute Turner, gute Kinder gewesen. Ansonsten bestand ihr Heranwachsen im Wesentlichen aus ausgedehnten Wanderungen: Vogelsberg, Rhön, Odenwald, Wasserkuppe – sie kannten jedes Mauseloch. Sie hatten Spuren zu lesen gelernt, die Zeichen der Wolken, die Zeichen der Tiere. Abdrücke von Tatzen und Krallen, Fraßspuren, Gewölle. Sie hatten herausgefunden, wie man die Windrichtung bestimmt und wie einem das Rindenmoos die Wetterseite der Bäume verrät. Sie wussten heraufkommende Tiefdruckgebiete vorherzusagen, Entfernungen zu schätzen, sich zu verstecken. Lebenslanges Glück: gelernt haben, sich zu verstecken. Sie konnten essbare Sprösslinge von giftigen unterscheiden, sie kauten Wildkräuter, mitten im Platzregen verstanden sie sich darauf, ein Lagerfeuer zu machen. Das Holz entzündeten sie anfangs mit vielen Streichhölzern, dann mit wenigen, später mit den Funken unaufhörlich aneinandergeschlagener Feuersteine. Abends wurde die Gitarre herausgeholt. In die Dunkelheit hinein sagten sie Stefan-George-Verse auf. Sie legten sich schlafen unter dem Dach der Sterne und kannten jeden ihrer Namen. Ludwig sah sich als Wildhüter, Wilhelm als Wilderer. Der eine wähnte sich in der Natur, der andere im Kampf.

Dann hatte der echte Kampf begonnen. Ludwig kam an die Maas und legte ein Tagebuch an.

»Der Krieg holt«, schrieb er, »seltsame Dinge aus den Menschen hervor. Nicht ausschließlich Schlechtes, obwohl das Schlechte überwiegt.« Man müsse Entscheidungen treffen, ohne die Folgen abwägen zu können. Nicht nur, weil in aller Regel die Zeit dafür fehle, sondern auch, weil nahezu jede einzelne Entscheidung eine Frage betreffe, für die es noch keine Erfahrung gab. »Soll man den Nachschubtruppen einen höheren Bedarf an Kartoffeln melden, um nach der unweigerlichen Kürzung zumindest einen genügenden Rest zugeteilt zu bekommen, oder versündigt man sich damit an den Kameraden?« Sollte man, als Gerhard getroffen wurde, der ihm ein Freund geworden war, mitten in der Schlacht zu ihm hinauskriechen, um seinen Körper zu bergen, oder war das nichts als Irrsinn, ein sinnloses, sentimentales Aufbegehren gegen den niemals zu ordnenden Lauf der Welt. Ludwig tat es trotzdem. Rechts und links von ihm die Geräusche niedergehender Schrapnells. Gerhard lebte. Ludwig zog ihn zurück in den Graben. Tagelang wachte er an der Seite des Verletzten, überwältigt von Sehnsucht nach ihrer Verbundenheit. Er schätzte Gerhard höher als sich selbst. Was keine Kunst war. Die unlösbare Frage, ob Zuneigung eher überlebte, wenn man sie dem anderen eingestand oder sie für sich behielt. Manchmal, wenn niemand zusah als die taubstumme Nacht, weinte Ludwig an der Brust des schlafenden Freundes.

Überhaupt die Kameraden. Es war nicht leicht, so nah beieinanderzuleben, ohne nach Luft zu schnappen. Bisweilen wurde ihm schwindelig. Der Schmutz, das Gewehröl, der unablässige Regen. In den Gefechtspausen las Ludwig im Hyperion. Längst waren die Seiten seiner Ausgabe kaum mehr zu entziffern, zum Glück konnte er sich große Teile mit geschlossenen Augen aufsagen. Er tat es nachts beim Versuch, in den Schlaf zu finden, und tags im Schützengraben. Wenn er das Gewehr anlegte, glaubte er im Visier einen der Verse zu sehen, als hielte er darauf an. Im letzten Moment riss er den Lauf hoch und schoss in die leere Luft.

Was er mit Bleistift vorne ins Buch gekritzelt hatte: »Wir sterben, sobald wir auf der Welt sind. Es ist ein allmählicher Process. Bis es so weit ist, sind wir hier.«

Gerhard überlebte.

*

»Alma. Ein schöner Name. Ist dir bewusst, was er bedeutet?«

»Er bedeutet etwas? Ich dachte immer, es sei einfach mein Name.«

»Ich habe nachgeschaut.« Ludwig goss Tee nach. Er erklärte ihr, dass das mosaische Almáh »Junge Frau« bedeute. Das passe doch zu ihr. Noch, dachte sie. Wie immer, fuhr er fort, gebe es daneben weitere Deutungen. Bei den Krimtartaren bedeute ihr Name »Apfel«, bei den Mongolen »Wildmensch«. Bei den Arabern »Auf-dem-Wasser«.

»Wildmensch?«, fragte Alma.

»Bei den alten Römern«, sagte Lud, »stand er für das Nähren.« Ihrer Fruchtbarkeitsgöttin hätten sie den Namen Alma Mater gegeben, noch immer hießen die Universitäten nach ihr. In den iberischen Sprachen bedeute Alma »Seele«, aber auch »Geist«. Im Gotischen heiße es »tapfer«. Sie versammele eine eindrucksvolle Liste guter Eigenschaften in sich.

»Du hast meinen Namen nachgeschlagen?«

Obwohl Ludwig Lendle Student war, gab es im Klosett auf halber Treppe statt zerrissener Zeitungen echtes Toilettenpapier. Alma verwendete zunächst jeweils ein einzelnes Blatt, später, mit wachsendem Vertrauen, auch ein zweites.

Am Mittag, wenn Ludwig sich zu einem Schläfchen hinlegte, schlich sie in sein Arbeitszimmer. Es war noch stiller hier als im Rest der Wohnung. Ein strenger, ein wenig säuerlicher Geruch, eine Mischung aus alten Büchern und alter Milch. Der Geruch seines Zimmers war, wenn sie es genau bedachte, das Älteste an ihm. Alma überlegte, ein Fenster zu öffnen, aber die frische Luft hätte verraten, dass jemand hier gewesen war. Auf dem Schreibtisch lagen bräunliche Mappen, Alma blätterte hinein, sie enthielten vergilbte Zeitungsausschnitte. Auf jede hatte er mit Bleistift die Namen der darin besprochenen Autoren, Komponisten, Mediziner geschrieben, eine Mappe hieß einfach »Zur Sprache« – sie enthielt Artikel zu den Bemühungen um eine Rechtschreibreform, ein Absatz war vollständig mit Bleistift und Lineal unterstrichen: »Wir haben gesehen, dass die Vocale a, o, u und ihre Umlaute von dem Parasiten h befreit werden sollen. In dieser Aufzählung vermissen wir leider e und i. Diese armen Lettern werden wegen ihrer Dünnleibigkeit verdammt, den falschen Hauchlaut als ewige Last mit sich herumzuschleppen.«

Unter dem Fenster standen mehrere Kartons, die bis zum Rand mit weiteren Schnipseln gefüllt waren. Offenbar warteten sie darauf, eingeordnet zu werden.

Ludwig Lendles Bibliothek bewies Ambition, erst recht für einen so jungen Mann. Von Albert Schweitzer nicht nur die große Bach-Monographie, sondern auch die jüngst erschienene Neuauflage seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. Einige Bände Laotse, reichlich Luther, auch Calvins Predigten über das erste Buch Samuel mit seiner Verteidigung der Hexenverbrennung. Dazu Mystik: Meister Eckharts Vom Wunder der Seele sowie – unausweichlich – Böhmes Aurora oder Morgenröte im Aufgang, dessen Titel auf die Braut des Hohelieds anspielte: »Wer ist sie, die hervorbricht wie die Morgenröte, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, gewaltig wie ein Heer?«

Zur Finanzierung weiterer Lektüren hatte Ludwig nach seiner Rückkehr aus dem Krieg auf einem Fischstand in der Kleinmarkthalle ausgeholfen, wo es Rheinaal gab, Welse, Zander, selten Stör. Im Morgengrauen landeten unten am Fluss die kleinen Boote an, und Ludwig half mit, den Fang herauszuwuchten. Während er die Körbe hinauf zum Markt trug, wurden die Schläge der Schwanzflossen...

Erscheint lt. Verlag 30.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1899-1969 • Bundesrepublik • DDR • eBooks • Giftgas • Homosexualität • Ludwig Lendle • Narkose • Nationalsozialismus • Schlaf • Schuldfrage • Unerwiderte Liebe • ungleiche Brüder • Wissenschaft im Dritten Reich
ISBN-10 3-641-27850-3 / 3641278503
ISBN-13 978-3-641-27850-2 / 9783641278502
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