Glück hat einen langsamen Takt (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46118-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Glück hat einen langsamen Takt -  Mechtild Borrmann
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Von Schuld und Vergebung, Zorn, Mitgefühl und Glück: feinfühlige und zutiefst menschliche Erzählungen der SPIEGEL-Bestseller-Autorin Mechtild Borrmann   Von Menschen im Schatten, am Rande der Gesellschaft und manchmal auch der Legalität erzählen Mechtild Borrmanns Kurzgeschichten: Da ist der 17-jährige Till, der noch nie verliebt war - bis er die neue Freundin seines Vaters kennen lernt. Da ist Christa, die von klein auf unter der Kälte und Bigotterie ihrer Mutter gelitten hat - bis ein einziger Satz ihr Leben dramatisch verändert. Und da ist der alte Karl Petzold, der kaum noch weiß, dass er sein Leben vergisst, und sich wundert, weshalb sein Sohn seinen Sessel aus dem Wohnzimmer trägt ...   In klarer, schnörkelloser Sprache werden diese und andere ganz alltägliche Schicksale zu Momentaufnahmen des Menschseins. Mal erschütternd, mal anrührend, mal versöhnlich handeln die Erzählungen der vielfach preisgekrönten Autorin vom Hadern und Verzweifeln, von der Wut und von Versöhnung, von großen Träumen, kleinem Glück und der Schönheit des Augenblicks. Auch in der »kurzen Form« der Erzählungen erweist sich Mechtild Borrmann als »Chronistin des Alltags und eine absolute Menschenfreundin« (Reinhard Jahn, WDR5 Mordsberatung)

Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u.?a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane 'Trümmerkind', 'Grenzgänger' und 'Feldpost' standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.

Mechtild Borrmann, Jahrgang 1960, verbrachte ihre Kindheit und Jugend am Niederrhein. Bevor sie sich als Schriftstellerin einen Namen machte, war sie u. a. als Tanz- und Theaterpädagogin und Gastronomin tätig. Die Autorin ist mit zahlreichen renommierten Preisen, u.a. dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Ihre Romane "Trümmerkind" und "Grenzgänger" standen monatelang unter den TOP 10 der Spiegel-Bestsellerliste. Mechtild Borrmann lebt als freie Schriftstellerin in Bielefeld.

Die Sonntagsbriefe


Am Heiligabend waren die Kinder und Enkelkinder da gewesen, und es war turbulent zugegangen. Als sie sich weit nach Mitternacht auf den Heimweg machten, stellte die Tochter noch eine kleine Schachtel auf den Gabentisch. Erst am nächsten Morgen öffnete seine Frau Frieda die feine silberne Schnur. »Ein Geschenk, das man nur einmal im Leben macht«, sagte sie. »Sieh nur, Hermann!«

In der Schachtel lag eine Haarlocke ihrer zweijährigen Enkelin, sorgsam mit einem rosa Band zusammengebunden.

Das Geschenk brannte ihm in Augen und Brust.

Vergessen! Vor mehr als fünfzig Jahren hatte er sie vergessen.

Damals hatte er ihr seine Liebe gestanden. Zärtlich, mit Blumen in der Hand, hatte er es ausgesprochen. Sein Gesicht in ihr dichtes dunkles Haar vergraben, hatte er es geflüstert. Sorgfältig, nach Worten suchend, hatte er es in Briefen formuliert.

Geliebte Lisa!

Das Licht, das hinter ihren großen braunen Augen zu leuchten schien, er hatte es gekannt … und vergessen.

Frieda kommt mit dem Tee in den Wintergarten.

»Hermann, jetzt sitzt du schon zwei Stunden hier herum und starrst in den Garten. Was ist denn los mit dir?«

Sie stellt das Tablett auf den kleinen Beistelltisch neben seinem Sessel, rückt eine Tasse, Zuckerdose und Milchkännchen zurecht. Draußen liegt der Garten unter einer weichen Schneedecke, wie ein unbewohntes Zimmer, in dem die Möbel mit weißen Laken sorgsam abgedeckt wurden.

Der Tag ist von einer Klarheit, die ihn angreift.

Er tätschelt Friedas Schulter.

»Nichts, Frieda, nichts. Ich will nur ein bisschen hier sitzen. Ein herrlicher Tag ist das. Lass uns später noch ein Stück gehen, ja?«

Frieda lächelt und geht. Seit zweiunddreißig Jahren sind sie nun verheiratet, und immer macht er Tauschgeschäfte. Kleine Tauschgeschäfte. Jetzt will er seine Ruhe haben und bietet Gesellschaft an. Später!

Er lehnt sich in seinem braunen Ohrensessel zurück und schaut in die nackte Krone des Ahornbaumes am Ende des Gartens. Ein kräftiger Baum. Still und stark steht er da, nur zur Linken dieser längst abgestorbene Ast.

Im Sommer liegt er geschützt im Blattwerk versteckt, aber der Winter legt ihn bloß, zeigt ihn von Wind und Witterung nackt geschält. Warum schmerzt ihn der Anblick erst jetzt?

Lisa Kranz.

Er war Schüler des Gymnasiums gewesen, und sie war – nur einen Steinwurf entfernt – in die Hauswirtschaftsschule gegangen. Über ein Jahr hatte er sie aus der Ferne angesehen und seinen Nachhauseweg so geplant, dass er ihr begegnen und ein Stück des Weges neben ihr gehen konnte.

Diese letzten unbeschwerten Sommerferien. Im folgenden Frühjahr sollte er sein Abitur machen und anschließend Medizin studieren. Das Studium hatte wohl schon mit seiner Geburt festgestanden. Der Großvater war Arzt gewesen, der Vater, und natürlich würde auch er Arzt werden.

In jenem Sommer hatte diese feste Vorstellung von seiner Zukunft Risse bekommen. Sein ganzes Streben galt nicht mehr dem Studium in Heidelberg. Jetzt kreisten seine Gedanken, seine Ängste und Hoffnungen um Lisa. Er wünschte sich sehnlich, sie an seiner Seite zu haben.

Hinter der Schule wartete er auf das Klingelzeichen der Hauswirtschaftsschule, das immer zehn Minuten nach dem Gong des Gymnasiums ertönte, und schlenderte dann, so langsam es ging, die Mozartstraße hinauf. Sie holte ihn ein, grüßte und verlangsamte ihren Schritt. Ihr tiefbraunes Haar trug sie zu einem Zopf zusammengebunden, aber rund um das schmale Gesicht waren im Laufe des Vormittags einzelne Haare und kurze, widerspenstige Locken aus dem Haarband entwischt. Vom schnellen Gehen schimmerten ihre Wangen rosig, und immer sah sie aus, als hätte sie bis eben versucht, die Welt aus den Angeln zu heben.

Über drei Monate gingen sie so nebeneinanderher, erzählten vom Unterricht des Vormittags, schimpften über Lehrer, stöhnten über Hausaufgaben und tauschten vorsichtig stille Seitenblicke.

Sie war es, die den ersten Schritt machte.

Am Wochenende würde ein Zirkus in der Stadt sein, und ihr Vater hatte zwei Freikarten bekommen. Ob er vielleicht mit ihr …?

Er sah nichts von der Vorstellung. Er sah nur sie. Wie sie sich ängstlich zurücklehnte, als die Löwen den Kreis der Manege abschritten. Wie sie lachte, als die Clowns stolpernd und schubsend miteinander stritten. Wie ihr Mund sich staunend rundete, als Akrobaten durch die Luft wirbelten.

Er nahm ihre Hand, als er sie an jenem Abend nach Hause begleitete, strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gestand seine Zuneigung.

Sie lächelte, und er sah dieses Leuchten in ihren Haselnussaugen. Dann beugte sie sich vor, küsste flüchtig seine Wange und lief ins Haus.

Er nickt dem Ahorn zu. Damals hatte er sich zum ersten Mal einen Schritt weit vom sicheren Stamm des Elternhauses entfernt. Die Eltern hatten skeptisch, aber durchaus wohlwollend genickt und lediglich gemahnt, er solle das Abitur und das anschließende Studium nicht aus den Augen verlieren.

Die Sommerferien 1934 waren ihre Zeit gewesen.

Er erinnert sich an dieses Gefühl der Freiheit, eine Weite im Innern, die in seiner jugendlichen Vorstellung von nun an sein Lebensgefühl sein würde.

Jeden Samstag brachte er ihr einen Brief mit. Einen Sonntagsbrief, denn sonntags konnten sie sich nicht sehen. Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie den Sonntag zu Hause mit ihren Eltern und Geschwistern verbrachte.

»Damit du mich morgen nicht vergisst«, sagte er jedes Mal, und sie schob den Brief wie eine Kostbarkeit in die Tasche ihres Kleides. Einmal brachte sie ihm, in blaues Seidenpapier eingewickelt, eine Locke mit.

»Die habe ich mir abgeschnitten. Ein Stück von mir, für deine Sonntage«, sagte sie lachend.

Als sie im Herbst an ihre Schulen zurückkehrten, gingen sie Hand in Hand die Mozartstraße hinauf. Sie waren ganz offiziell ein Paar. Der Sohn des Doktor Lahrmann und die Tochter des Herrenausstatters Kranz.

Kurz vor Weihnachten, es war der Freitag vor dem zweiten Advent, und sie waren im Kino gewesen, kamen sie auf dem Heimweg am Juweliergeschäft Tesch vorbei. Auf die Schaufensterscheibe war mit weißer Farbe »Jude« geschmiert. Lisa ging mit gesenktem Kopf eilig vorbei, und als sie den Stadtpark erreichten, flüsterte sie: »Hermann, ich muss dir was sagen. Meine Mutter … Sie ist Jüdin.«

Er greift zur Teetasse. Der Tee ist kalt, und doch beseitigt er die leichte Übelkeit.

Er hatte den Arm um Lisas Schultern gelegt und erwidert: »Aber Lisa, deine Mutter betrifft das doch nicht. Sie ist eine anständige, fleißige Frau! Es geht doch um die Wucherer, um die, die Deutschland ausbluten.«

»Und was ist mit Tesch?«, widersprach sie. »Glaubst du denn wirklich, dass Tesch so einer ist?«

Von übereifrigen, dummen Jungen hatte er geredet, von Auswüchsen, die sich bald geben würden, und dann hatte er seinen Vater zitiert: »Der Führer wird schon dafür sorgen, dass es nicht die Falschen trifft.«

War es da passiert? Hatte er selber geglaubt, was er gesagt hatte, oder war er an jenem Abend bereits einen ersten kleinen Schritt zurückgewichen? Jedenfalls hatte er beim Abschied gesagt: »Das mit deiner Mutter, das bleibt unser Geheimnis.«

Von nun an machten ihn Bemerkungen über Juden, die er bisher ganz selbstverständlich hingenommen hatte, hellhörig.

Der Vater, der zu Hause erklärte, dass die Juden die Wirtschaftskrise in Deutschland zu verantworten hätten. Sein Geschichtslehrer, der im Unterricht mahnte: »Die Juden sind das Unkraut, das sich in Deutschland ausbreitet und den fruchtbaren deutschen Acker zerstört.«

Er war verunsichert, und ihm kam es so vor, als habe Lisa diese Unsicherheit in sein Leben getragen. Ja, er dachte sogar manches Mal: Wenn sie doch still gewesen wäre. All diese Sätze hätten nicht ein solches Gewicht, wenn sie nicht von ihrer Mutter gesprochen hätte!

Er hört, wie Frieda im Esszimmer mit dem Geschirr klappert. Das leuchtende Blau des Himmels verliert sich langsam. Eine rötliche Wolkenbank liegt jetzt auf der Anhöhe. Im Restlicht scheint der tote Ast des Ahorns zu glühen, die äußeren Spitzen der feinen Zweige verlieren sich in der aufkommenden Dunkelheit.

An einem Donnerstag Ende April 1935 wartete er vergeblich vor der Hauswirtschaftsschule. Lisa kam nicht. Stattdessen lief Sonja, ihre Schulfreundin, auf ihn zu.

»Hast du es gewusst?«, rief sie ihm schon von Weitem entgegen.

»Was denn? Was meinst du? Wo ist Lisa?«

»Sie ist ein Mischling! Sie ist zur Hälfte Jüdin. Hast du das gewusst?«

Er schluckt und fährt sich mit der Rechten durch sein dichtes graues Haar.

Da war es passiert. Wenn nicht an jenem Abend nach dem Kino, dann an diesem Tag. Er war zurückgewichen und hatte, ohne nachzudenken, gelogen.

»Nein«, hatte er gesagt, »nein, das wusste ich nicht!«

»Jedenfalls fällt sie unter das Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen. Sie kommt nicht mehr!« Sonja war außer sich, schimpfte auf die Schule und erklärte: »Die Lisa, die gehört doch zu uns. Wir müssen was tun!«

Da hatte er sich umgedreht und war fortgegangen. Nicht die Mozartstraße hinauf, sondern über einen Umweg nach Hause. Er hatte sich geschämt. Hatte sich seiner Lüge geschämt und gleichzeitig immer wieder gedacht: Morgen wissen sie es alle. Morgen wissen es die Eltern, die Lehrer, die Freunde.

Die Dunkelheit breitet sich aus, als würde jemand beständig Tinte in die blaue Weite träufeln. Es sind nur noch wenige Tage bis zum Vollmond. Der Ahorn scheint verschluckt von der Schwärze, nur der geschälte, tote Ast glänzt silbrig weiß.

Der Vater hatte...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Am Anfang war blau • Aus Mangel an Beweisen • Autorin Bielefeld • Bielefeld • Boshaftigkeit • Brief an einen Sohn • das 4. Gebot • Das vierte Gebot • Die Spur zurück • du sollst Vater und Mutter ehren • Eifersucht • Erzählband • Erzählungen • erzählungen für erwachsene • Erzählungen Sammlung • Erzählungen Spannung • fall river • gesellschaftskritische Romane • Gesellschaftsromane • Giftmord an Weihnachten • Glauserpreis • Glück • gnadenlos • Grenzgänger • Juden • Jüdisch • Kurzgeschichten für Erwachsene • Kurzgeschichten Sammlung • Kurzgeschichten zum Nachdenken • Lottogewinn • Mechthild Borrmann Bücher • Mechtild Borrmann • Mordanklage • Mord aus Eifersucht • Mord aus Neid • Neid • ohne Ehre • Rechte Szene • Schuld • Seerose • Sonntagsbriefe • Spiegelbestseller-Autor • Tannengrün • tiefgründige Bücher • Trümmerkind • Uneheliches Kind • Weihnachtsbaum • zum Mörder geboren
ISBN-10 3-426-46118-8 / 3426461188
ISBN-13 978-3-426-46118-1 / 9783426461181
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99