Eine fremde Tochter (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
232 Seiten
Orlanda Verlag
978-3-944666-81-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine fremde Tochter -  Najat El Hachmi
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Aufrichtig und mutig erzählt Najat El Hachmi die Geschichte einer jungen Frau, die in Marokko geboren wurde und in Katalonien aufwächst. Während ihre Mutter eng mit der traditionellen marokkanischen Lebensweise und muslimischen Religion verbunden ist, befindet sich die Protagonistin in einem permanenten Konflikt zwischen der katalanischen und marokkanischen Kultur und den Sprachen - ein Zustand, der ihre beidseitige Verbundenheit und zugleich ihre doppelte Fremdheit spürbar macht. Nachdem sie sich zuerst dem Willen der Mutter beugt und einer arrangierten Ehe zustimmt, schafft sie es schließlich doch nach langem inneren Kampf, die Bande zu zerreißen und ihren selbstbestimmten Weg zu gehen. Ein eindrucksvolles, multikulturelles Buch.

Najat El Hachmi ist eine katalanisch marokkanische Autorin, die im Alter von acht Jahren gemeinsam mit ihrer Familie von Marokko nach Spanien migrierte und heute in Barcelona lebt. El Hachmis Werk beschäftigt sich den Themen Identität, kultureller Verwurzelung und Entfremdung. 2015 gewann sie für 'Fremde Tochter' den BBVA San Juan-Preis und den Ciutat de Barcelona-Preis als bester katalanischer Roman.

Najat El Hachmi ist eine katalanisch marokkanische Autorin, die im Alter von acht Jahren gemeinsam mit ihrer Familie von Marokko nach Spanien migrierte und heute in Barcelona lebt. El Hachmis Werk beschäftigt sich den Themen Identität, kultureller Verwurzelung und Entfremdung. 2015 gewann sie für "Fremde Tochter" den BBVA San Juan-Preis und den Ciutat de Barcelona-Preis als bester katalanischer Roman.

Heute früh hat sich Raureif gebildet. Er überzog die nach Jauche riechenden Felder der Hochebene, während ich mich in meinem Bett wälzte, das nicht aufhörte zu knarzen. Ein lächerliches Sprungfederbett, zu eng und zu kurz, in meinem immer dunklen Altstadtzimmer. Meine Mutter muss mich gehört haben, sie hat sehr gute Ohren und einen leichten Schlaf. Bei jedem Umdrehen habe ich an sie gedacht und auch jedes Mal, wenn ich das verklumpte Laken zurechtzog.

Ich bin in der Gewissheit aufgewachsen, dass ihr kein Geräusch aus meinem Bett entgeht, dass sie über meine Bewegungen Bescheid weiß und jeden Laut meines Körpers mitbekommt, selbst wenn ich mich gar nicht rege – wie ich atme, wie meine Eingeweide pochen. Im Bett, die Finger um das Kissen gekrampft, sagte ich mir ein ums andere Mal, dass ich nicht an sie denken durfte; dass dies der schwierigste Teil des anbrechenden Tages war; dass ich es schaffen musste, so schwer es mir auch fiel. Ließe ich sie in meinen Kopf hinein, und sei es nur für einen Moment, dann wäre es, als würde ich mich umwenden und zur Salzsäule erstarren.

Wenn ich die muffige, feuchte Luft des Zimmers etwas tiefer in die Nase sog, nahm ich den Geruch meines eigenen Atems wahr, den ich seit Stunden verteilt hatte, die Ausdünstungen meines Körpers. Um mich abzulenken, versuchte ich die Zusammensetzung dieses Geruchs zu bestimmen, die Bestandteile dessen, was mir entströmt und damit bereits tot war.

Die Schlaflosigkeit führte mich in eine Spirale flüchtiger Gedanken, von einem Ort zum anderen, zum anderen, zum anderen – und so weiter, ohne Ende. Diese Eigenart meines Kopfs, immer herumzuflattern, immer kreuz und quer, tut mir manchmal gut. Sie bringt mir Zerstreuung, kann mir zähe Stunden erträglich machen. Heute Nacht ist es aber nur zeitweise so gewesen. Dann wieder wurden die Stunden endlos, unerträglich, beklemmend, klaustrophobisch, und mehr als einmal war ich drauf und dran, aufzustehen und zu fliehen. Ich kann nicht mehr, sagte ich zu mir selbst und tastete im Dunkeln nach dem Resopalnachttisch. Ein altmodisches Resopal, kalt und glänzend, gemasert wie echtes Holz. Aber wo gibt es graues Holz? Ich fand schon immer, dass er ein angeberischer Nachttisch war, mit seinen rostigen Füßen. Resopal ohne Muster, glatt und eingestanden künstlich, wäre für meinen Geschmack würdevoller, wahrhaftiger. All das habe ich heute Morgen gedacht, während ich die Finger über die kalte Oberfläche gleiten ließ und auf diese Weise den Drang bremste, hinauszurennen.

Hinter der Wand, die uns trennte, atmete meine Mutter schwer, und es beruhigte mich zu wissen, dass sie schlief. Sie würde den Schrecken, der sie am Tag erwartete, besser durchstehen, wenn sie ausgeruht war. Vielleicht war diese Nacht für lange Zeit die letzte, in der sie schlafen konnte. Schließlich würde ihr Leben fortan nicht mehr dasselbe sein.

Nach dem Weckerklingeln habe ich es gemacht wie immer. Ich habe mir das Gesicht gewaschen und den Kaffee aufgesetzt. Ich sah mich in der Küche um und wusste, in Zukunft würde es mich beruhigen, mich an ihre Einzelheiten zu erinnern. Nach einiger Zeit würde ich mich fragen: Wie sahen die Türen der Schränke aus? Aus welchem Material waren die Griffe? Welche Farbtöne hatten die Bodenfliesen? Ich habe mir alles genau eingeprägt, um diesen engen, lang gezogenen Raum für immer im Gedächtnis zu behalten. Die vergilbten Möbel, die billigen Oberflächen, die Arbeitsplatte, um die Spüle herum abgeblättert. Der Kühlschrank gleich daneben, auch gelblich geworden mit der Zeit. Es ist die Farbe der Küche, die Farbe des Hauses, die Farbe meines Lebens hier: ein schlaffes Gelb ohne Seele und Leidenschaft, ohne jede interessante Nuance, ein fades Gelb. Ich schaute mir alles an und fühlte mich ein wenig wie die Evelyn in James Joyces Dubliners, bloß dass mich niemand misshandelte.

Ich habe die italienische Espressokanne auf den Herd gesetzt, die Mumna auf dem Markt günstig erstanden hatte und eines Tages mitbrachte, weil sie wusste, dass meine Mutter sich so sehr eine wünschte. Mir kam der Gedanke, dass ich sie ja doch nicht ganz allein zurücklassen werde. Auch wenn wir hier nur zu zweit gewesen sind, sie und ich, kennt sie doch viele Leute, die sie mögen und sich um sie kümmern werden.

Ich habe die Milch angewärmt, als ich hörte, wie meine Mutter im Bad ihre Waschungen vornahm. Ich habe mir vorgestellt, wie sie ihre Arme benetzt, bis zu den Ellenbogen, mit Gesten, die seit ihrer Kindheit dieselben sind, nicht bloß flink und routiniert, sondern ein fester Bestandteil von ihr. Als die Milch zu schäumen begann, habe ich sie vom Feuer genommen und den Topf mit dem Wasser fürs Brot auf den Herd gestellt. Ich ließ das Wasser warm werden und schüttete Mehl in die Teigschüssel, wie immer nach Augenmaß, einen Hügel, dessen Proportionen ich nun fast so präzise beherrsche, wie meine Mutter es verlangt. Natürlich kriege ich das Brot nie so hin wie sie, doch immerhin beschwert sie sich nicht mehr so oft über meinen Mangel an Übung. Ich bohre ein Loch in die Mitte des Hügels, streue das Salz hinein und die Hefe, die ich mit einer gewissen Lust zerkrümelt habe. Das kühlschrankfrische Ferment, wie es sich beim Durchkneten bindet, ruft ein eigenartig angenehmes Gefühl in meinen Fingerspitzen hervor. Ich spüre genau, wie von diesen winzigen Stellen meiner Haut aus die Empfindungen in einen ganz speziellen Bereich meines Gehirns geleitet und von dort aus dann überallhin ausgestrahlt werden. So bin ich, so funktioniere ich, aber ich habe nicht vor, das irgendwem zu erklären. Lust zu empfinden bei Dingen, die eigentlich keine Lust hervorrufen sollten, diese Augenblicke des Wohlgefühls auch noch exponentiell zu steigern und sie in jeden Winkel meiner selbst auszuweiten, das muss verdächtig wirken, das ist ja nicht üblich. Ich weiß nicht, ob andere das auch kennen, ich werde es nicht riskieren, zu fragen.

Wenn schon die Hefe solches Kribbeln bei mir auslöst, dann erst recht das Gießen des lauwarmen Wassers in die Mehlgrube, der Zerfall des kleinen Hügels, das Gefühl, wie der Teig sich bindet und mir an den Handflächen kleben bleibt, in jeder kleinen Falte und an den Häutchen zwischen den Fingern. Was meine Hände spüren, dringt in jeden Winkel meines Körpers vor, auch in Zonen, deren Namen ich nicht kenne und deren Anatomie ich mir nicht vorstellen kann, ich erbebe ganz und gar, auf eine Weise, die niemand sieht oder mitbekommt – und danach fühlt es sich an, als würde ich mich in alle Winde zerstreuen. Es ist wohl eine Art Einssein mit der Welt, eine intime und geheime Seligkeit. Mir diese Lust nicht anmerken zu lassen, hat mich immer enorme Anstrengung gekostet. Wenn ich könnte, würde ich mich ändern, um die Dinge weniger intensiv zu spüren.

Nachdem ich die Zutaten vermengt hatte, stellte ich die Schüssel aus Ton auf den Boden, um mit ganzer Kraft weiter zu kneten. Auf den Knien, die Zehen gegen die Fliesen gestemmt – ich kann mir nichts Sinnlicheres vorstellen. Erfunden habe ich es nicht, meine Mutter hat immer auf diese Weise Brot gemacht. Und auch alle anderen Frauen von dort, ob sie einen großen Küchentisch haben oder nicht.

Als der Kaffee auf dem Herd zu brodeln begann, erschreckte mich die Stimme meiner Mutter mit ihrem üblichen Guten Morgen. Blitzschnell musste ich aus meinem inneren Tumult auftauchen. Wir küssen uns nicht, das ist bei uns nicht üblich. Wenn ich daran denke, wie sie damals in unserem Dorf, bei den Großeltern, alle Frauen mit ein paar Küsschen auf die Wange – oder auf den Kopf, die Großmutter, oder auf den Handrücken, den Großvater – begrüßte, wird mir unbehaglich zumute. Vor allem, weil sie auch mich küssten, diese anderen Frauen. Aber wir unter uns, einfach so, nein: Meine Mutter und ich, wir küssen uns nie. Auch heute nicht, nichts ist heute anders als sonst.

Sie hat die Herdflamme abgestellt und die beiden heißen Flüssigkeiten in der Kaffee-Teekanne gemischt. Die nenne ich so, weil weder Teekanne noch Kaffeekanne das passende Wort für sie ist. Für ein paar Augenblicke bleibe ich an dieser Frage hängen: Wie würde man das Gefäß richtig bezeichnen? Thaglacht, Abarrad, in unserer-ihrer Sprache so sauber unterschieden, aber ich bin nicht imstande, eine Entsprechung zu finden. Und diese kleine, banale Abschweifung in Vokabelfragen erinnert mich daran, wie weit entfernt ich von ihr bin, von ihrer Welt, von ihrer Art zu leben und die Dinge zu betrachten. So viel ich auch übersetze, so sehr ich mich auch bemühe, die Wörter von einer Sprache in die andere umzuschütten: Es wird mir nie wirklich gelingen, immer bleiben Unterschiede. Dennoch ist das Übersetzen ein süßer Zeitvertreib, ein zumindest fassbares Zeichen des Willens, unsere Wirklichkeiten einander anzunähern; und es ist mir immer nützlich gewesen, seit wir hierhergekommen sind.

Ich dachte über diese Dinge nach, um nicht an Mutter zu denken, um sie nicht mit einem Lebewohl-Blick anzusehen, meine Absichten nicht durchblicken zu lassen. Sie sollte nicht merken, dass ich mich gerade von ihr verabschiedete....

Erscheint lt. Verlag 13.1.2021
Übersetzer Michael Ebmeyer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arrangierte Ehe • Barcelona • Diversität • Einwanderung • Feminismus • Frauen • Herkuft • Identität • Inklusion • Integration • Interkulturelle Identität • Islam • Islamkritik • Katalonien • Kulturelle Vielfalt • Marokko • Migration • Muslimische Frau • Rassismus • Selbstbestimmung • Selbstfindung • Spanien • Tradition
ISBN-10 3-944666-81-X / 394466681X
ISBN-13 978-3-944666-81-5 / 9783944666815
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 513 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99