Am Götterbaum (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
280 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76632-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Am Götterbaum - Hans Pleschinski
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An einem Märzabend macht sich die Münchner Stadträtin Antonia Silberstein auf den Weg zu einer Ortsbesichtigung der besonderen Art. In ihrer Begleitung: die Schriftstellerin Ortrud Vandervelt und die Bibliothekarin Therese Flößer. Das Ziel des launigen Spaziergangs der drei Frauen: die hinter einer Mauer versteckt liegende einstige Villa eines großen Vergessenen. Antonia Silberstein hat verwegene Pläne für diese Villa, aber sie braucht den guten Rat eines Experten. Schon auf dem Spaziergang sind sich die Frauen, zwischen Autos, Passanten, Verkehrsinseln mäandernd, uneins über Rang, Werk und Vermächtnis des Mannes, dessen einstige Behausung sie in ein spektakuläres Kulturzentrum verwandeln könnten: Paul Heyse. Der erste echte deutsche Literaturnobelpreisträger (1830- 1914), hochgeehrt, liberal, ein schöner Mann mit einer liebenswerten Ausstrahlung, Autor von Romanen, Theaterstücken und nicht zuletzt 180 Novellen, ist so vergessen, dass in München vor allem eine Unterführung an ihn erinnert. Hat er das verdient?
In seinem neuen Roman erzählt Hans Pleschinski kenntnisreich, scharfzüngig und komisch von Heyses Leben und Werk, von Ruhm und Vergänglichkeit und dem stets bedrohten Reichtum der Kultur in einer sich verschleißenden Welt. Mit einem genauen Blick auf die Gegenwart entfachter in spritzigen Dialogen ein höchst unterhaltsames Feuerwerk.

Hans Pleschinski, geboren 1956, lebt als freier Autor in München. Zuletzt erhielt er u.a. den Hannelore-Greve- Literaturpreis (2006), den Nicolas-Born- Preis (2008) und wurde 2012 zum Chevalier dans l'ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich ernannt. 2014 erhielt er den Literaturpreis der Stadt München und den Niederrheinischen Literaturpreis. 2020 wurde ihm der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung zuerkannt. Hans Pleschinski ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Im Tor


Der Wind frischte auf.

Pappbecher rollten über das Pflaster.

Das Gold der Mariensäule leuchtete im Abendschein.

Aus den Passantenscharen blitzten Lichter der Smartphones.

Chinesische und japanische Touristen konnte ein Einheimischer kaum unterscheiden. Gewiss waren auch Koreaner darunter. Selfiestangen drohten sich zu verhaken. Das neugotische Rathaus hielten offenbar viele Angereiste für mittelalterlich und knipsten den Trugbau von früh bis in die Nacht. Was erzählten sie in Shanghai oder in Sapporo zu ihren Schnappschüssen? Nein, das ist nicht Versailles, das war, glaube ich, in Kopenhagen. Aber welche Freunde und Verwandten in Fernost wollten sich überhaupt Dutzende, Hunderte von abgelichteten Bauten Europas anschauen? Vielleicht nur die Großmutter, bis sie auf der Reismatte einschliefe.

Von vornherein Bildmüll.

Zeitalter des Mülls.

Überall, bis in die Bergwerksschächte und in die Tiefsee.

Späte Tage der Menschheit.

Verwüstung des Planeten, steigende Temperaturen, längst Wassermangel im übervölkerten Nildelta, Ressourcen verbraucht, vor der Versteppung und Entvölkerung wüchse in der Holledau Büffelgras; was bereits kräftiger wucherte, war Fanatismus jedweder Art; vielleicht fühlte sich mancher nur noch so lebendig: Ich hasse, also bin ich, ich hasse den Nachbarn, die anderen, den Kompromiss, die Demokratie, das Unklare, Europa, in dem es mir nie gut genug gehen kann, einfach dreinschlagen – dann hört man etwas –, Liebe und Zuversicht hatten wir, jetzt haben wir Grimm und Hass.

Wirkliche Unvorstellbarkeit, die Menschheit zerstörte sich selbst und ihr Zuhause.

Es lag am Föhn.

Bei den alpinen Fallwinden, die schlagartig eine perverse Wärme ins Voralpenland und in den Winter drückten, Märzstaub aufwirbelten, den möglicherweise tödlichen Feinstaub. Abgase, Reifenabrieb, das karzinogene Vanadium. Von Amts wegen kannte sie sich mit Schadstoffen und den städtischen Maßnahmen dagegen aus. Hoffentlich drohten nicht weitere Heimsuchungen.

Bei diesen Warmwindattacken wachte man morgens zerrüttet auf, wie in einem Waffeleisen, sah schwarz, kämpfte sich den Tag lang durch Zerfall, schluckte lustlos Pasta, sah Extremisten vereint mit Fundamentalisten, hinter ihnen die diversen Nationalisten, die Dauerwütenden mittendrin, in Straßburg das Europa-Parlament stürmen und das Gestühl zertrümmern.

Dann wäre alles kaputt.

Am Föhn lag es, wenn sie mit Kopfweh an so etwas dachte.

Antonia Silberstein strich sich das Haar aus der Stirn. Hamburgerinnen hatten mit dem dortigen Wetter vielleicht noch mehr Pech. In der böenreichen Feuchte im Norden klebte bald jede Frisur am Kopf. Eine Goldgrube für die Hairstylisten an der Alster, Binnen und Außen.

Chinesen trugen meist schlechtere Kleidung als Japaner und Koreaner und benahmen sich ruppiger. Vielleicht freundeten sich heute Abend an einem Wirtshaustisch Amerikaner und Neuseeländer miteinander an.

Eigentlich war ja rundum alles in Ordnung.

Volle Taschen, junge Leute. Büroangestellte erledigten nach Feierabend ihre Einkäufe. Die Schaufenster der Parfümerien und Telefonshops leuchteten. Zischlaute in der Nähe, wie Messerspitzen in der Luft; Spanier tauschten sich aus, wiesen auf das Glockenspiel am Rathausturm und knipsten es.

Ein paar Radfahrer, sogar ein rasender, kreuzten die Fußgängerzone. Polizei war ehedem sichtbarer oder furchtloser gewesen. Dagegen schickten sich die Bronzeputten der Mariensäule seit einer Pest energisch an, die empörten Drachen zu ihren Füßen mit dem Schwert zu durchbohren. Bei den Himmelsboten hatten Päpste gekniet, zumindest einer, und zur Mater Bavariae gebetet. Beim bis dato letzten Besuch des römischen Oberhirten hatten TV-Kameraleute fast verzweifelt nach dichten Haufen von jubelnden Gläubigen gespäht. Der Zuspruch für die alleinseligmachende Kirche ließ immer deutlicher nach.

Dabei war es wichtig, dass sie an Liebe deinen Nächsten wie dich selbst erinnerte, denn er ist dir gleich.

Doch Gott und Götter waren tot, hieß es, es existierte kein magischer Raum mehr.

Antonia Silberstein trat vom windigen Platz ein paar Schritte zurück ins Eingangsgewölbe. Steinernes Rankenwerk, hinter einer schmiedeeisernen Gitterpforte der pompöse Aufgang zum Ratssaal. Der Prunk des Bürgertums von vor gut einhundert Jahren. Welche Selbstgewissheit der Ahnen und was für immense Summen sie in die Darbietung ihrer Fähigkeiten, ihrer Macht, ihres Seins investiert hatten. Und dennoch waren an der Schauseite dieses Rathauses keine Bürgermeister, sondern so viele Fürsten wie sonst nirgendwo im Lande verewigt. Damit war klar, wer das letzte Wort gehabt hatte. – Alles, der Pomp, die Statuen aus der Zeit vor den Kriegen, die Blutbäder, Hunger, Tod, Chaos und Neufindung gebracht hatten. Einige Inschriften im Gemäuer hatte Silberstein und hatten gewiss auch Kollegen aus den anderen Fraktionen noch nie eingehend wahrgenommen. Für deutsches Volksthum, deutsche Einheit, Ehre und Freiheit. Zur Erinnerung an das 13. deutsche Turnerfest im Jahre 1923. Auf der gegenüberliegenden Gewölbewand: Den Mitgliedern der US-Streitkräfte, die München am 30. April 1945 von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft befreiten. Dafür ließ sich gar nicht genug danken, doch ungewöhnlich, dass Soldaten als Mitglieder bezeichnet wurden. Waren Mitglieder gefallen? Vielleicht zählte Zivilpersonal dazu. Egal, man wusste, was gemeint war. Und wieder linker Hand schwarz und in grauen Stein gemeißelt: Spiele der XX. Olympiade München 26. August bis 11. September 1972. Das große, bunte Weltfest. Dann das Attentat. Der stille Ausklang. – Seit dem Sportereignis gab es die U-Bahn und in Schweden eine Königin, die Gästebetreuerin gewesen war. IX. EuroGames München 2004. Gelockertere Zeiten, die Gegner dieser Inschrift an prominenter Stelle im Rathauseingang waren deutlich überstimmt worden. Das vielleicht beschwingteste Fest seit Menschengedenken, dreißigtausend Schwule und Lesben waren zu Volleyball, Ringen und Staffellauf angereist, Kaufhäuser durften erstmals nachts geöffnet haben, die Gäste galten als shoppingfreudig. – Nun, München spielte immer mit auf der Welt, wenn auch nicht stets in vorderster oder auch nur zweiter Reihe – Mailand, Budapest, Barcelona boten sich opulenter dar –, aber es war unverwechselbar vorhanden, auch mit allerlei Überraschungen und Besonderheiten. Das traditionelle Waschen von Geldbörsen am Aschermittwoch im Fischbrunnen, Madame de Pompadour und Dürers Apostel in der Pinakothek, ozapft is, auf einem Hügel ein Tempel im größten Stadtpark weltweit, Surfer auf Innenstadtbächen, Fußball, Autos und marmorne Promenadesäle in der Oper.

Die Stadträtin schaute auf ihre Uhr.

Wie immer zu früh.

Bereits als Schülerin hatte sie oft als Erste und allein im Klassenzimmer gesessen. Nicht aus Lerneifer, sondern aus Angst, zu spät zu kommen. Wie dumm. Urlaubsflüge hätte sie am liebsten einen Tag zuvor angetreten, um ganz sicher das Hotel auf Zakinthos zu erreichen. Ein bisschen verspannt das alles. Und beim Verlieben hatte sie gemeint, man müsse sich sofort küssen, ein Zögern würde Desinteresse signalisieren. Wahrscheinlich ein frühes Leistungssyndrom. Das steigerte sich mit dem Alter oder verlagerte sich. Zum Beispiel in die Schultermuskulatur.

«Du Arsch.»

Die Stadträtin schrak zusammen, erbleichte, was hatte sie verbrochen?

«Tomaten sind noch in der Schüssel!» Die junge Frau, die jetzt unters Gewölbe trat, sprach nicht sie an. «Scheiße, ich hab die Anchovis vergessen.»

«Typisch, Scheiße», antwortete leicht verzerrt eine Männerstimme aus dem Phone.

«Dann besorg du sie, fauler Sack.»

«Selber Sack», sagte er.

«Bin um sieben zurück. Hoffe, du hast dann alles.»

Natürlich kein Ohrschmuck, sondern ein weißer Stöpsel. Die vielleicht Dreißigjährige mit flauschigem Schal ging mit ihrem Open-air-Telefonset wieder fort. – Ein ungezwungenes Benehmen. Der neue Tonfall auch des jungen Mittelstands? Emanzipation gärte und spielte sich in vielen Bereichen und Variationen ab. Mindestens im Vulgären, das den Männern vorgeworfen wurde, hatte die Passantin mit ihrem Gefährten gleichgezogen. Menschliche Impulse änderten sich kaum. Bei viel verlangter und gebotener Korrektheit mochte es plötzlich umso rabiater zugehen. Gefährlich … Möglicherweise war die Telefoniererin in ihrem Umfeld sogar von Anfang an brutaler gewesen als er, sogar heimtückisch. Wer benutzte dieses...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2021
Zusatzinfo mit 3 Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Biografischer Roman • Deutschland • Fin-de-Siècle • Götterbaum • Historischer Roman • Leben • Literatur • Literaturnobelpreis • München • Paul Heyse • Pleschinski • Reichtum der Kultur • Roman • Ruhm • Vergänglichkeit • Villa • Werk
ISBN-10 3-406-76632-3 / 3406766323
ISBN-13 978-3-406-76632-9 / 9783406766329
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