Kleine Freiheit (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
271 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76468-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kleine Freiheit - Nicola Kabel
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Gerade vierzig geworden, kümmert sich die Richterin Saskia in Elternzeit um ihre beiden Söhne, während ihr Mann Christian zwischen dem Heimatort in der norddeutschen Provinz und einer Kanzlei in Hamburg pendelt. Da bringt ein geplanter Windpark vor ihrer Haustür Saskias geordnetes Leben ins Wanken.Als sie sich in einer Bürgerinitiative engagiert, schenkt ihr Joachim von Wedekamp besondere Aufmerksamkeit. Sie gerät in seinen konservativen Zirkel und erlebt beunruhigt, dass sich hinter dessen Widerstand gegen den Windpark eine viel grundsätzlichere Kritik an der heutigen Gesellschaft, der Zuwanderung, dem Wertewandel verbirgt. Wedekamp steht mit seiner väterlich-höflichen Art im Kontrast zu ihrem eigenen Vater, dem Alt-68er Hans, den sie liebt und der ihr doch oft peinlich ist. Bei ihm sind Saskia und ihre kleine, chaotische Schwester Sophie in bunten WGs aufgewachsen, nachdem die Mutter die Familie verlassen hatte. Als Jurist durchaus erfolgreich, hat er sich dennoch seine wütende Kritik an der grassierenden Ungleichheit, am globalen Kapitalismus und der Konsumgesellschaft bewahrt, ist so unkonventionell wie eh und je und schont auch keine Verwandten. In ihrem feinfühligen Debütroman erzählt Nicola Kabel eine berührende Vater-Tochter-Geschichte, die zugleich den Finger in die Wunden legt, die die Zerreißproben der Gegenwart uns zufügen.

Nicola Kabel, geboren 1978, studierte Geschichte und öffentliches Recht in Hamburg und war mehrere Jahre Redakteurin der Deutschen Presse-Agentur. Seit 2012 arbeitet sie in der politischen Kommunikation. Sie lebt mit ihrer Familie in Lübeck.

I.


Die Dinge brauchen ihren Platz, und dort neben der Einfahrt ist der richtige. Da wächst zwar die Thujahecke, aber es gibt noch etwas ungepflasterten Boden. Saskia krempelt die Blusenärmel hoch, bindet ihre Schürze um und streift Gartenhandschuhe über. Sie holt das eingerollte Transparent, schlüpft an der Haustür in die Crocs, läuft über die roten Pflastersteine der Einfahrt zur Straße. Sie hat nicht viel Zeit, gleich kommen die Kinder, das Essen ist im Ofen, der Tisch gedeckt.

Am Fußweg lehnt Saskia die Rolle gegen das Gartentor, geht in die Hocke, scharrt mit der Hand zwei Mulden in den Erdboden, zupft Unkraut aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen und richtet sich wieder auf. Das Transparent ist hoch, es überragt die Hecke und reicht Saskia bis zur Brust. Sie sticht die erste Metallstange vorsichtig in den Boden, rollt den Stoff aus, dann kommt die zweite. Das Transparent wackelt, kippt nach vorn. Saskia beißt sich auf die Unterlippe, saugt die Luft durch die Nase ein, atmet scharf aus, hebt es wieder auf. Nächster Versuch. Dieses Mal rammt sie die Stangen kraftvoll in den schmalen Streifen zwischen Hecke und Gehweg. Als das Transparent gespannt ist, treibt sie mit einem Hammer die Stangen noch fester in den Boden, Zähne zusammengepresst.

Saskia tritt zurück. Da steht es, schwarz auf weiß, wie bei den Schröders und Andresens nebenan, den Meyers und Meiers gegenüber: «Kein Windpark.» Ob das Transparent den Westwind aushält?

Saskia hatte lange überlegt, wo sie es aufstellen sollte. An der Garagentür hätte es beim Öffnen gestört, im Fenster Licht geschluckt. Das kannte sie noch. Die eine Stoffbahn hatte die Räume in dunkles Gelb getaucht, die andere in Grün. War es die mit dem Frieden und den Waffen oder die mit dem Wald? Die Transparente waren immer mit umgezogen – erst von Hamburg ins Dorf in Niedersachsen, dann wieder nach Hamburg, nach Frankfurt, später München. Die Transparente blieben auch hängen, als Meggie ging.

Sie hatten sie beim Vornamen genannt, alles andere fand Meggie spießig. Nur wenn Saskia allein gewesen war, hatte sie manchmal «Mama» ausprobiert, «Mami» oder ganz selten «Mutti». Aber die Worte blieben fremd auf ihren Lippen. Dass Meggie mit vollem Namen Margarete Christine Bergmann hieß, hatte Saskia zum ersten Mal auf ihrer Grabplatte gesehen. Da war sie dreizehn und weinte nicht. Sie hatte Meggie seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen.

«Mama.» Saskia hört zwei Stimmen, nicht im Chor, son-dern leicht versetzt, Mamama, noch mal Mamama. Es ist der Sirenenton, der sie zusammenzucken lässt. Johann ist Julius dicht auf den Fersen, packt den kleinen Bruder am Ranzen, haut mit der anderen Hand hinten drauf. «Du Arsch», schreit er. Julius schreit gleichzeitig: «Mama, Mama, Johann haut mich!» Sie rangeln, Johann wirft Julius auf den Boden, Saskia ist da, packt beide, zieht sie hoch, ihr Gesicht wird rot, aber nur ein «Scht» zischt zwischen ihren Zähnen hervor, noch mal: «Scht.» Jetzt sind es die Jungen, die zusammenzucken. Saskia zieht die beiden an den Handgelenken zum Haus, ein Blick auf die Straße, die anderen Häuser, keiner guckt.

Im Flur blickt sie ihre Söhne von oben bis unten an. Johann acht, Julius sechs, beide braunhaarig, Johann dunkler als Julius, beide mit Dreck im Gesicht und Tränen in den Augen, Rotz unter der Nase und auf den Jeans braune Flecken. «Zieht euch um, wascht euch – Gesicht und Hände. Ich wasch die Anziehsachen …» Die Jungen ziehen die Schultern hoch. Mit dem Mutterblick im Nacken schlurfen sie die dunkle Holztreppe hoch. Saskia hatte dieses Zischen nie gewollt. Sie wollte eine gute Mutter sein.

*

Sie sitzen zu dritt am Esstisch in einem großen, hellen Raum, der Esszimmer, Wohnzimmer und Küche zugleich ist, die offene Küche etwas erhöht, drei Stufen rauf, um Nachschlag aus den Töpfen auf dem Herd zu holen, drei Stufen wieder runter, Teller auf den Tisch, und die Jungen schaufeln selbst gestampften Kartoffelbrei und Erbsen in sich rein.

«Mama, was is’n das für’n Plakat?» Julius nuschelt. Er hat es, trotz seiner Heulerei, draußen noch gesehen.

«Ham die Nachbarn auch. Is’ wegen dem Windpark», sagt Johann. Kartoffelbrei quillt ihm aus dem Mund.

«Des Windparks. Bitte kau aus, bevor du sprichst. Und nimm die Ellenbogen runter», sagt Saskia.

«Was heißt ‹wegen dem Windpark›?», fragt Julius.

«Da sollen Windräder hin», sagt sein Bruder.

«Wo», fragt Julius.

«Auf der Wiese, vorm Wald.»

«Findest du das doof, Mama?»

Saskia antwortet nicht. Sie blickt aus der Terrassentür auf den noch jungen, jetzt fast blattlosen Apfelbaum in ihrem Garten, der durch einen Zaun vom Grundstück eines kleinen, alten Backsteinhauses gegenüber getrennt ist. Das Backsteinhaus steht da noch so in der Landschaft herum, wie aus Versehen.

«Mama, findest du das doof? – Mama?»

*

Es ist schon einige Zeit her, dass die Pläne für den Windpark bekannt geworden sind. Hinter dem Backsteinhaus erstrecken sich Felder und Wiesen, vorne Mais, dann Weizen, dann Grünland und hinten am Horizont ein kleines Waldstück. Wenn Sas morgens am bodentiefen Fenster des Wohnzimmers steht, kann sie den Mais sehen. Der dunkle Acker färbt sich im Frühsommer grün, erst gescheckt, dann ein Teppich, der dichter und dichter wird, und bald steht der Mais so hoch, dass das Weizenfeld und die Wiesen dahinter nicht mehr zu erkennen sind. Auf einer dieser Wiesen, auf denen schon längst keine Kühe mehr weiden, soll der Windpark entstehen, fünf Windräder, 140 Meter hoch. Anfangs hatte sie nicht darüber nachgedacht. Aber dann kamen die anderen Grundschulmütter aus dem Ort, der mal ein Dorf gewesen war und inzwischen fast nahtlos in die mittelgroße Stadt überging. Alte, rote Backsteinhäuser säumten die Hauptstraße. An der Ostseite der Hauptstraße stand die alte Kirche. Wenn die Abendsonne ihr Licht auf sie legte, leuchtete sie rot. Etwas weiter, ortsauswärts, lagen drei Höfe, zwei davon waren nur noch Rest, ohne Tiere, ohne Felder, ohne Bauern, dafür mit ausgebauten Scheunen, und drinnen wohnten Städter. Nur der dritte Hof wurde noch betrieben, von einem der zwei Bauern im Ort. Östlich und westlich der Hauptstraße standen Siedlungshäuser, viele saniert mit gläsernen Eingangstüren, auf den Rückseiten hatten sie Anbauten aus Glas und Holz, die Gärten waren verkleinert worden, um Platz für Wohnküchen und Wintergärten zu schaffen. Die jüngeren Häuser im Umkreis waren weiß gestrichen und hatten Türen mit gewölbten Glasscheiben. Weiter draußen die Neubauten, manche verkleidet mit wärmedämmenden Holzfassaden, manche ganz aus Holz. Die Grundstücke waren groß, hier war ja Platz, auch für die Grundschule, die Sporthalle und den Fußballplatz, die wegen des Zuzugs von so vielen Städtern gebaut worden waren. Im Norden schloss sich der Ort an die mittelgroße Stadt an, mit Blöcken von Mehrfamilienhäusern auf der einen und frisch gebauten Reihenhäusern auf der anderen Seite einer großen Straße. In den schmalen Gartenstücken sprossen erste Grashalme aus dem Boden, einzelne Apfelbäumchen waren gesetzt, Sandkästen und Schaukeln gebaut. Und die Bagger rollten weiter, hoben Erde für die nächste Reihe aus.

Im Ort summte es: «Hast du schon gehört? Wie findest du? … Wir sind doch rausgezogen, um hier Natur zu haben … Und jetzt … Das macht hier die Landschaft kaputt … Weißt du eigentlich, wie laut die sind … Ohnehin, diese Energiewende». Das Summen schwoll an: «Haben die mal gefragt, ob wir das wollen …» Die, die es nicht schlimm fanden, ließen das Summen bleiben.

Als Saskia an einem Spätsommermorgen die Kinder zur Haustür brachte, die Reste der Sonnencreme auf ihren Nasen und Wangen verteilte, sah sie, dass die Meiers von gegenüber jetzt auch gegen Windkraft waren, die Buchstaben auf dem Schild waren nicht zu übersehen. Sie räumte den Tisch ab, wischte die Krümel von der Arbeitsplatte, zog ihre bunten Turnschuhe an und lief Richtung Wald. Sie stiefelte über die frisch abgeernteten Felder, den stoppeligen Weizenrest, es knackte leicht unter den Schuhen. Der Spätsommerboden war trocken. Sie blieb stehen, schaute über die Wiese. Dort also würden die Windräder in den Himmel ragen, mächtig. Sie würden sich drehen, drehen, drehen, mit ihren spitzen Flügeln aus Stahl, die regelmäßig ihre Schatten über die Wiese werfen würden. Der Wind war ja fast immer da, wehte, wie er wollte, und scherte sich um nichts.

In Saskia klang etwas leise an. Es war ewig her, vergraben in ihrem Inneren, unten auf dem Grund eines Stroms, jetzt wurde es hochgespült, eine Melodie, darin einzelne Worte: Wind, weiß und wieder Wind....

Erscheint lt. Verlag 22.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alt-68er • Belletristik • Bürgerinitiative • Deuschland • Elternzeit • Hamburg • Jurist • Kanzlei • Kapitalismus • Konsumgesellschaft • Kritik • Literatur • Nicola Kabel • Norddeutschland • Richterin • Roman • Tochter • Ungleichheit • Vater • Wertewandel • Widerstand • Windpark • Zuwanderung
ISBN-10 3-406-76468-1 / 3406764681
ISBN-13 978-3-406-76468-4 / 9783406764684
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99