Dein Schatten tanzt in der Küche (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2653-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dein Schatten tanzt in der Küche - Barbara Frischmuth
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'Eine große, souveräne Erzählerin mit vielen Registern.« Der Standard.

Barbara Frischmuth hat schon immer von starken, sensiblen, sinnlichen Frauen erzählt, die sich behaupten müssen. Darya, Agnes, Amelie und Paula hat das Leben bereits zugesetzt, sie haben existenzielle Entscheidungen getroffen, und sie zahlen einen hohen Preis: Sie können nicht über ihre Gefühle sprechen, und vor allem sind sie einsam. Gibt es ein Entkommen aus dieser Einsamkeit?

Fünf Variationen über Selbstbehauptung und Einsamkeit, fünf Frauenschicksale, fünf Versuche, sich nicht unterkriegen zu lassen - weder von den Zeitläuften noch von Männern und schon gar nicht vom Alter.

'Sie konnten nicht aufhören, einander Geschichten zu erzählen, Geschichten von früher, die sie schon vor Zeiten zurechtgeschliffen hatten. Geschichten zum Lachen, wahre Geschichten, die erst recht den Anklang an Literatur atmeten. Vor allem solche, die von Niederlagen sprachen, wobei die Niederlage der Gescheiterten sie erst recht zu Heroen machte.'



Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee (Steiermark) geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik und ist seitdem freie Schriftstellerin. Seit über 25 Jahren lebt sie wieder in Altaussee.

Nach ihrem von der Kritik hochgelobten Debüt »Die Klosterschule« und dem Roman »Das Verschwinden des Schattens in der Sonne« wurde sie vor allem mit der zauberhaften und verspielten Sternwieser-Trilogie bekannt, der die Demeter-Trilogie folgte. Neben weiteren Romanen wie »Die Schrift des Freundes«, »Der Sommer, in dem Anna verschwunden war«, »Vergiss Ägypten«, »Woher wir kommen« und »Verschüttete Milch« veröffentlichte sie u. a. Erzählungen und Essays. »Der unwiderstehliche Garten« war das vierte ihrer literarischen Gartenbücher.

Dein Schatten tanzt in der Küche


Sie wurde angeschwemmt. Das Schlauchboot, ein älteres Modell, hatte einen Riss bekommen, nachdem eines der kleineren Kinder in einem unbeachteten Moment ein Taschenmesser gefunden und an der Schlauchbootwand versucht hatte, dessen Tauglichkeit zu prüfen.

Land war in Sicht, aber Adnan wollte nicht aus dem Boot, dem langsam, aber spürbar die Luft ausging. Er hatte nie auch nur angedeutet, dass er nicht schwimmen konnte. Das Boot war bereits so gut wie leer, als er Darya erklärte, dass er sich so lange daran festhalten wolle, bis die Küstenwache komme und ihn berge.

Bis die Küstenwache kommt, ist es zu spät, rief sie, dabei brach ihr beinah die Stimme. Dennoch versuchte sie, gelassen zu wirken, und schlug ihm vor, sich mit ihr ins Wasser zu lassen, sich auszustrecken und an ihren Schultern festzuhalten. Er müsse so ruhig wie möglich bleiben und sich so wenig wie möglich bewegen. Sie traue sich zu, ihn auf diese Weise an Land bringen zu können.

Das eher kleine Boot war nicht nur preiswert, sondern auch schlecht ausgestattet und bei Weitem überfrachtet. Die vorhandenen Schwimmwesten waren vor der Abfahrt auf die paar Kinder und deren des Schwimmens unkundige Mütter verteilt worden. Adnan war voller Scham und Hoffnung gewesen, die Überfahrt ohne Schwimmweste überstehen zu können.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es dämmerte schon. Gut so, denn die Lampen, die für spärliches Licht gesorgt hatten, waren längst über Bord gegangen, als die Ersten das Boot verließen. Rundum versuchten die Mütter, sich an die Schwimmwesten zu gewöhnen, das hieß, mit ihrer Hilfe zu schwimmen, wobei die Kinder sich an ihnen festhielten. So versuchten sie, sich mit Wasserschlägen und ungezielten Beinbewegungen dem Ufer zu nähern. Wobei die schwimmenden Väter ihnen die Tempi vormachten und Mut zusprachen, während sie gleichzeitig husteten und immer wieder Wasser, nämlich das von ihnen aufgewirbelte Wasser, schluckten, das in ihre offenen Münder schäumte.

Erst als das Boot unter Wasser war und sie kaum mehr seinen Boden unter den Füßen verspürten, schien auch Adnan bereit zu sein, sich Daryas Hilfe zu überlassen. Als ihm dann das eiskalte Wasser bis zum Hals reichte und sie ihm noch einmal erklärt hatte, wie er seine Hände auf ihre Schultern legen und sich von ihr ziehen lassen sollte, griff er nach ihr, doch als sein Körper absackte, begann er zu zappeln, und sein Griff wurde zusehends verkrampfter.

Bleib ruhig, beweg dich nicht, schrie sie, schon hatte auch sie den Mund voll und erbrach den Schwall sofort, was auch ihre Achseln zum Zucken brachte, während Adnan an ihr rüttelte und mit den Beinen wie wild nach dem Wasser trat, um wieder nach oben zu kommen. Sie hörte, wie ihr Name, einer Welle gleich, über sie hinwegschwappte. Darya, Darya! Und spürte zur selben Zeit, wie Adnan sie nach unten zog.

Es war eingetreten, was sie sich vor Jahren in einem Wasserrettungskurs zu lernen vorgenommen hatte. Der nächste Schritt wäre gewesen, Adnan mit einem Faustschlag so weit zu betäuben, dass er bewegungslos auf der Wasseroberfläche lag und sie ihn unterm Kinn fassen und auf dem Rücken schwimmend ans Ufer ziehen konnte. Sie hatte die Bilder von jenem Kurs noch vor Augen, jedoch fehlten ihr die Kraft und der Halt, Adnan bewusstlos zu schlagen. Im Gegenteil, seine Umklammerung wurde immer bedrohlicher, auch sie, Darya, war bereits unter Wasser, bekam keine Luft mehr, und anstatt Adnan wie eine Rettungsschwimmerin ins Trockene zu holen, verfiel sie selbst in Panik. Ihr eigener Körper begann, ob sie es wollte oder nicht, um sein Leben zu kämpfen, und das mit derselben Härte, mit der Adnans Körper um das seine kämpfte, ob er es wollte oder nicht.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie es ihr möglich gewesen war, sich von Adnan zu trennen. Hatte sie ihn tatsächlich geschlagen, oder hatte er, weil schon länger unter Wasser als sie, so ohne Luft nicht mehr die Kraft gehabt, sie weiter mit sich hinunterzuziehen?

Sie wusste nur, dass sie geschwommen war und das Land in der Sonne glänzte, während sie ihm näher kam.

Als sie wieder bei Bewusstsein war, kniete jemand neben ihr, drückte mit beiden Händen auf ihre Brust, und jedes Mal schoss ein Schwall Meerwasser aus ihrem Mund.

Glück im Unglück! Der wasserdichte Rucksack hatte der Flut standgehalten. Sie hoffte, dass Reisepass und Zertifikate, die ihren Abschluss als Pharmazeutin sowie ihre Qualifikation als Englischlehrerin bestätigten, es ihr nicht nur erleichtern würden, einen Asylantrag zu stellen, sondern auch gute Gründe dafür nennen zu können, und das in bestem Englisch, das sie nicht bloß ihrem Studium, sondern vor allem ihrer Mutter, einer Engländerin, verdankte, die einen Araber und Pharmazeuten geheiratet hatte.

Als der Beamte es genauer wissen wollte, erklärte sie ihm, wie ihr Vater (er gehöre einer nicht muslimischen Minderheit an, derselben wie der Präsident des Landes) von ihr verlangt hatte, den Sohn eines der höchstrangigen Generäle, eines Protegés des Präsidenten, zu heiraten, um ihre Familie zu schützen. Es habe sie sehr getroffen, aber ihr Vater habe den Präsidenten im Familienkreis oft kritisiert, und vielleicht war er nicht vorsichtig genug gewesen und deshalb so unter Druck geraten. Und da ihre Geschwister (ein bereits Eingezogener und ein demnächst Wehrpflichtiger, dazu zwei Mädchen, acht und zehn, also noch im Schulalter) diesen Schutz unbedingt brauchen würden, habe er diese Heirat für unumgänglich gehalten.

Warum sie dem Wunsch ihres Vaters nicht nachkommen habe wollen, fragte der Beamte, der ihre Dokumente offen vor sich liegen hatte.

Weil sie bereits mit einem anderen Mann, den sie sehr geliebt habe, heimlich verlobt gewesen war, der noch dazu einer anderen, dem Präsidenten gegenüber eher feindlich gesinnter Minderheit angehörte, der jedoch bei der Überfahrt ertrunken sei. Es fiel ihr schwer, das zu sagen, ohne dass ihre Stimme sich veränderte.

Der Beamte schaute auf und ihr gerade ins Gesicht, so als würde er sie erst jetzt als Person wahrnehmen.

Es war ihr unangenehm, von ihm so unverhohlen gemustert zu werden, und sie fügte hinzu, dass sie die Flucht deshalb riskiert habe, weil sie wisse, dass Zwangsheiraten in Europa unter Strafe gestellt seien.

Und Ihre Familie?, fragte der Beamte.

Ich fühle mich mehrfach schuldig, sagte sie. Aber sobald der Sohn des Generals von ihrem Geliebten erfahren hätte, und das hätte er bestimmt irgendwann, wäre ihr weiteres Leben zum Skandal geworden, und das konnte und wollte sie ihrer Familie erst recht nicht antun.

Verstehe, sagte der Beamte und überprüfte weiter ihre Papiere.

Glauben Sie mir, sagte sie ungefragt, ich fühle mich tatsächlich mehrfach schuldig, aber es war mir nicht möglich, anders zu handeln.

Darya hatte, nachdem sie am Strand der Insel aufgegriffen worden war, als traumatisiert gegolten und war mit einem Flüchtlingskontingent in ein Auffanglager gebracht worden, von dem sie einige Zeit später in ein Flüchtlingsheim des Landes, in dem sie jetzt lebte, überstellt wurde. Aufgrund ihrer Traumatisierung wurden ihr einige Sitzungen bei einer Therapeutin genehmigt, die tatsächlich hilfreich gewesen waren. War doch die Therapeutin die einzige Person, der sie anvertrauen konnte, was sie mit nichts zu begründen können glaubte, nämlich dass sie nicht ihrer Muttersprache – ihre Mutter habe meist Englisch mit ihr gesprochen –, sondern ihrer Vatersprache verlustig gegangen sei. Und am schlimmsten sei, sagte sie zur Therapeutin, dass sie sich nicht einmal mehr an den Namen ihres Geliebten erinnern könne. Sie habe versucht, sich diese ihre Vatersprache durch Lektüre wieder in Erinnerung zu rufen, indem sie arabische Zeitungen kaufte, was dort, wo sie untergebracht war, gar nicht so einfach gewesen sei, aber es habe nicht funktioniert. Die Buchstaben würden ihr zwar einigermaßen bekannt vorkommen, manchmal verstehe sie auch ungefähr, was gemeint sei, aber sobald sie die Zeitung zur Seite gelegt habe, sei ihr auch das Gelesene wieder entfallen. Wohingegen sie sich die Vokabeln, die sie im Deutschkurs zu lernen habe, sofort merke. Ja sogar das Lehrbuch habe sie bereits zur Gänze in sich aufgenommen, obgleich sie im Kurs über Lektion vier noch nicht hinausgekommen seien.

Die Therapeutin, die zugab, noch nie einen Fall wie diesen gehabt zu haben, riet ihr, sich ihre offensichtliche Sprachbegabung zunutze zu machen und sie als gute Chance für einen positiven Asylbescheid zu sehen.

Aber was mache ich, wenn jemand mich auf Arabisch anspricht oder mich um eine Übersetzung bittet?

Die Therapeutin dachte eine Weile nach. Versuchen Sie, Situationen wie diesen aus dem Weg zu gehen, und warten Sie ab. Sie haben viel Schlimmes erlebt, sehr Schlimmes, das muss erst verarbeitet werden und braucht Zeit.

Aber wie kann man eine Sprache, die man von Kindheit an gesprochen und geschrieben hat, also die eigene Landessprache, vergessen?, fragte Darya. Ich schäme mich so dafür. Und was, wenn ich auch mein Englisch verliere?

Wenn Ihr Gehirn das für nötig erachtet hätte, hätten Sie es schon verloren.

Die Tränen rannen Darya bis in den Mund hinein, was sie für einen Augenblick an das Schlucken von Meerwasser erinnerte.

Die Therapeutin legte ihr den Arm um die Schultern und schaute auf die Uhr: Es gibt kein Mittel, um den Verlust Ihrer Landessprache auf der Stelle ungeschehen zu machen. Denken Sie nicht daran, konzentrieren Sie sich auf das Neue, auf die neue...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Barbara Frischmuth • Entscheidungen • Frauen • Frauenfigur • Frauenschicksal • Lebensgeschichten • Liebe • Migration • Österreich • Starke Frauen
ISBN-10 3-8412-2653-1 / 3841226531
ISBN-13 978-3-8412-2653-2 / 9783841226532
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