Flieg zum Regenbogen -  Rainer Gross

Flieg zum Regenbogen (eBook)

Eine Lebensgeschichte Band 1

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7526-1664-4 (ISBN)
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Ein Suchender. Ein Träumer, ein Dichter, ein Philosoph. Ein Springinsfeld und Taugenichts. Ein Student und Scholar. Motorradfahrer, Teetrinker und Pfeifenraucher. Eine Hochsensible Person. Ein Borderliner. Ein Rebell mit verstecktem Philisterwunsch. Japan-Fan und Zen-Buddhist. Atheist und Mystiker. Fabrikarbeiter, VHS-Dozent, Geldbote. Selbstmordkandidat. Bach-Liebhaber. Grüne-Wähler - dies alles ist oder war Joachim Klein. Der vorliegende Roman berichtet aus seinem Leben, aus Kindheit und Jugend 1962 bis 1984. Warum? Weil ich denke, dass seine Person und seine Geschichte eine ausführliche Darstellung ver-dient haben.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen, stu-dierte Philosophie und Literaturwissenschaft. Heute lebt er mit seiner Frau als freier Schriftsteller wieder in seiner Heimatstadt. Bisher u.a. erschienen: Grafeneck (2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (2008); Kettenacker (2011); Kelterblut (2012); Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödingers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); In der fernen Stadt (2017); Räucherstäbchenjahre (2018); Der Teehändler (2019); Er sollte nicht ahnen (2019); Lebku-chenstadt (2020); Schatzkiste (2020); Ein Nachmittag am Bondi Beach (2020).

11 Kinderseele


Robert Walser schreibt einmal in seinem Prosastück Kleist in Thun über die Kindheit: Dunkel ist es und klein, klein. Das trifft besonders auf Joachim zu.

Vielleicht gibt es solche Momente in jedem Kinderleben, Momente, die still und unerkannt vorbei gehen. Die kein Kind erzählt, weil es zu befangen ist von seiner eigenen Seele, weil es solche Momente für normal hält oder gottgegeben oder unabänderlich.

Augenblicke, in denen sich die Realität leicht verschiebt, mit einem Anflug von Melancholie und Beklemmung, mit einem Weltschmerz, der einem Erwachsenen anstünde.

Solche Augenblicke kannte Joachim.

Er dachte über sie nach.

Erwachsene, wenn sie davon hörten, mussten lachen, weil es so drollig altklug klang.

Aber es war nicht zum Lachen.

Joachim badete gern in der Badewanne. Das Wasser war grün vom Schaumbad und heiß.

Als der Vater noch mit in der Wanne saß, erzählte der immer die Geschichte von dem Mann, der einen Schwamm hatte. Es war einmal ein Mann, der hatte einen Schwamm.

Joachim gefiel die Geschichte sehr. Eine seltsame Geschichte, und diese Seltsamkeit vermittelte ihm eine Abseite der Welt, die er mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis nahm.

Einerseits entzückte sie ihn, weil sie lustig war; andererseits steckte hinter dem Spaß ein verstörender Ernst.

Da hatte ein Mann einen Schwamm, einen nassen, und weil ihm das, was er hatte und wo er war, nie gefiel, ging er auf die Gass‘, in den Wald, nach Berlin und wie auch immer der Vater die Geschichte weitererzählte.

Was war das für ein Mann?

Was war das für eine Welt, in der er unterwegs war?

Gasse, Wald, Berlin – und bei all dem ein nasser Schwamm?

Später, als Joachim allein badete, vergnügte er sich mit seinen eigenen Spielen.

Anfangs stand der Schaum dicht und hoch, sodass er für seinen Plastikdampfer erst Platz schaffen musste.

Dann verflüchtigte sich der Schaum knisternd.

Auf dem Badewannenrand ließ Joachim Cowboys und Indianer einander jagen und aufeinander schießen.

Wenn die Figuren ins Wasser fielen, waren sie nicht tot: Sie konnten schwimmen.

Manchmal füllte Joachim mit dem Zahnputzbecher Wasser in die Seifenschale in der Wand und schaute zu, wie es in dünnem Strahl aus dem Abflussloch strömte.

Das ruhige, gleichmäßige Strömen machte Spaß. Auch, dass so eine Fülle sich nur in einem dünnen Strahl entleerte.

Das hatte etwas Beruhigendes, aber auch Beklemmendes wegen der engen, kleinen Welt, die Gedanken an große Flüsse und Wasserfälle wachrief.

Gegen Ende legte sich Joachim flach hin und hielt das Kinn knapp über Wasser.

Das grüne Wasser, die weiße Wand der Badewanne. Der ferne Horizont eines urzeitlichen Meeres, auf das Joachim hinaus blickte. Eine endlose Öde, aus der seine Knie als letzte Riffe herausragten.

Er lag vollkommen ruhig, und das Meer wurde ganz still und glatt.

Je länger er lag, desto beklemmender wurde das Ganze, bis er es nicht mehr aushielt und sich aufrichtete und den ganzen Spuk verschwinden ließ.

Diese Macht hatte er.

Als das Farbfernsehen eingeführt wurden, brachten sie Kindersendungen und Zeichentrickfilme.

Joachims Eltern hatten nur einen alten Schwarzweißfernseher, sodass das Farbfernsehen für Joachim nichts brachte.

Trotzdem bildete er sich eines Nachmittags ein, dass bei dem Zeichentrickfilm über ein Bächlein die Bilder leuchtender und schöner waren.

Der Film zeigte das Leben eines kleinen Baches.

Er entsprang in den Bergen, eine lustig sprudelnde Quelle.

Er lief durch die Wiesen und wurde allmählich größer.

Er schlängelte sich durch die Auen, wo der Biber baute. Die Tiere kamen und tranken an seinem Ufer.

Dann aber kamen Menschen, die das Bett des Bächleins umleiten wollten.

Sie bauten Wehre und Staustufen und Kanäle, und beinahe verlor das Bächlein seine Richtung, seinen Lauf.

Es verschwand unter der Erde und würde sein Ziel, das weite Meer, nie erreichen.

Er schaute den Film nicht zuende.

Er weinte und war verzweifelt, und die Mutter versuchte, ihn zu trösten.

Das Schicksal des Bächleins hatte ihn tief berührt. Der Gedanke, dass es sein Ziel nicht erreichte, war unerträglich für ihn.

Warum?

Er dachte nicht darüber nach. Er hatte nur immer das Bild von dem friedlichen Bächlein im Kopf, das nichts anderes wollte, als seinem Wesen zu gehorchen und ins Meer zu münden.

Im Grunde weinte er um sich selbst.

Auch er wollte nur sein eigenes Leben leben und sein Ziel erreichen.

Davon wusste Joachim nichts.

Er wusste nur eines, das, was ihm der Film gezeigt hatte: Die Menschen wollten Böses.

Im Vorfrühling machten die Eltern einen Spaziergang mit ihm im nahen Wasenwald.

Die Tannen waren wie immer grün, die Laubbäume standen kahl zwischen Resten von Schnee.

Die Schritte knirschten im Kies der Wege.

Schneeglöckchen blühten schon. Der Vater zeigte sie ihm und ließ die Blüten baumeln.

Der Augenblick war so friedlich, dass die Mutter ein Kinderlied zu singen anfing. Jenes, in dem ein Rehlein im Märzenwald springt.

Joachim gefiel das Lied sehr. Er sang es mit, zuerst laut, dann leiser, weil ihn mit dem Lied eine große Bangigkeit überkam.

Der Wald, der Schnee, das Sonnenlicht waren so andächtig und die Bedrohung durch den Winter noch so gegenwärtig, dass es ihm ganz ernst wurde.

Aber der helle Frühling kam bald.

Komm doch, lieber Frühling, komm doch bald herbei!, beschwor Joachim leise.

Der Winter musste weggejagt werden, ja, es durfte ihn nie wieder geben!

Komm und mach das Leben frei!

Frei für den kleinen Joachim, der leben und glücklich sein will.

In der Pädagogischen Fachschule in der Nähe fand abends ein Kasperletheater in einem großen Saal statt.

Es war aufregend und ein bisschen zu viel für Joachim.

Die vielen Kinder um ihn her, die Eltern, die die Kinder mit den Autos her brachten und wieder wegfuhren, die weiten Flure, das Theater mit dem Vorhang, und der Lärm der Kinder während der Vorführung.

Während des Spiels hatte Joachim seinen Spaß.

Dann war es vorbei, alle brachen auf, ein großes Durcheinander im Saal, alle strömten an Joachim vorbei zu ihren Eltern, die schon bereit standen.

Nur Joachim kam nicht hinterher.

Die Anderen überholten ihn alle.

Als er dann endlich im Flur stand und zusah, wie die Anderen von ihren Müttern begrüßt und umarmt wurden, die Autotüren schlugen und die Motoren ansprangen – da fühlte er sich mutterseelenallein.

Er konnte seine Eltern nirgends entdecken.

Er stand in dem dunklen Flur, der von den Lichtern draußen erhellt wurde.

Er spürte das stille, abendliche Gebäude hinter sich. Ein fremdes Gebäude, in dem er zurück bleiben würde.

Er würde darin umherirren von einem leeren Raum zum anderen.

Er würde sein ganzes Leben in diesem nächtlichen Haus verbringen, tausend Flure entlang gehen und wer weiß welche Seltsamkeiten entdecken.

Es war vielleicht nur ein Augenblick, ein paar Sekunden voller Schreckensvorstellungen, bis die Mutter ihn im Gewimmel fand und ihn umarmte.

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Auto, wo der Vater wartete.

Aber sie reichten aus, ein Bild in der Seele wachzurufen, das nicht mehr verging.

Noch im späten Erwachsenenalter konnte sich Joachim an den Moment und das Gefühl erinnern.

Die Angst vor dem Verlassenwerden wurde zu einer seiner tiefsten Ängste.

Schuhe oder Kleidung zu kaufen mochte Joachim nicht.

Das war langweilig, und alle möglichen Leute fingerten an ihm herum.

Nur wenn es galt, Schuhe bei Salamander zu kaufen, freute sich Joachim.

Er mochte den Geruch nach Leder und Teppichboden beim Eintreten.

Die Kinderschuhabteilung war im Untergeschoss, und neben der Treppe verlief eine Holzrutsche für Kinder.

Joachim durfte sich hinein setzen und nach unten rutschen.

Das Holz war ganz glatt und hart, und die Rutsche ging sogar um die Ecke.

Seine Füße polterten beim Rutschen, es kitzelte im Magen, und mit Schwung landete er unten auf dem Teppichboden.

Dreimal durfte Joachim rutschen: zweimal vor dem Kauf und ein letztes Mal danach.

Was Joachim besonders an Salamander liebte, waren die Lurchihefte.

Bei jedem Schuhkauf kriegte er eines umsonst. Mittlerweile gab es auch fest gebundene Sammelbände mit allen Geschichten darin.

Auf dem Tresen bei der Kasse standen die Figuren aus Gummi: Unkerich, Hopps, Igel, Zwerg Pipping.

Er durfte sie in die Hand nehmen und drücken, dass sie quietschten.

Diese Lurchihefte liebte er.

Wenn er sie las, tauchte er in eine Wichtelwelt ein.

Dort wohnten die Leute in Pilzen oder in Baumhöhlen, eine Glockenblume wurde als Feueralarm geläutet und überall trieben sich kleine Käfer und Bienen und...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7526-1664-4 / 3752616644
ISBN-13 978-3-7526-1664-4 / 9783752616644
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