Der ehemalige Sohn (eBook)

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2021 | 2. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61185-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der ehemalige Sohn -  Sasha Filipenko
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Eigentlich sollte der junge Franzisk Cello üben fürs Konservatorium, doch lieber genießt er das Leben in Minsk. Auf dem Weg zu einem Rockkonzert verunfallt er schwer und fällt ins Koma. Alle, seine Eltern, seine Freundin, die Ärzte, geben ihn auf. Nur seine Großmutter ist überzeugt, dass er eines Tages wieder die Augen öffnen wird. Und nach einem Jahrzehnt geschieht das auch. Aber Zisk erwacht in einem Land, das in der Zeit eingefroren scheint. Wie fühlt sich ein junger, lebenshungriger Mann in Belarus? Eine hochaktuelle Geschichte über die Sehnsucht nach Freiheit.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ?Die Jagd? war ein ?Spiegel?-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ›Die Jagd‹ war ein ›Spiegel‹-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.

In der Stadt der mittelmäßigen Architekten regnete es. Die Dächer und Kirchturmspitzen wurden nass. Es änderten sich die politischen, ökologischen und futtertechnischen Bedingungen. Die Vögel flogen fort. Ohne Visum und Stempel im Pass. Alle aufs Mal, nach vorheriger Absprache. Sie flogen auf über den kaputten Straßenbahnschienen, dem Platz des Sieges und dem für immer erstarrten Riesenrad. Zogen über das graue Haus der Offiziere, den nullten Kilometer und die Klinik, in der Zisk geboren war. Über das Gebäude des Komitees für Staatssicherheit, das Hauptpostamt und die Rote Kirche, wo die verstörte, verheulte Dolmetscherin das einzige ihr bekannte Gebet flüsterte:

»Allmächt’ger Gott!

Du Herr der Welten, der großen Sonnen, Herzen klein!

Lass Belarus, das stille, traute,

von deinem Ruhm erleuchtet sein.

 

Den grauen Arbeitsalltag segne

fürs täglich Brot, fürs Heimatland,

gib Mut und Kraft, führ uns im Glauben

an unsre Wahrheit an der Hand.

 

Gib du dem Roggen pralle Ähren,

schenk unsren Taten du Erfolg!

Du mögest Macht und Glück vermehren

für unser Land und unser Volk!«

Sie betete, und die Vögel zogen weiter. Wie die Vögel flogen die Tage fort. Einer nach dem anderen, scharenweise, um nicht mehr wiederzukehren.

 

Der Chefarzt kam immer seltener vorbei. »Wozu? Ist doch für die Katz! Er liegt so oder so nur da. Ändern wird sich da nie etwas.« Aber so manche Veränderung trat doch ein. Die Nägel wurden länger. Von Zeit zu Zeit spross ein Pickel. An der Oberlippe wuchsen Bartstoppeln. Vieles deutete darauf hin, dass Franzisk noch lebte. Die Republik Belarus betrachtete ihn immer noch als ihren Staatsbürger, wenn auch handlungsunfähig. Die Ärzte empfahlen, sich auf den Tod vorzubereiten. An ein Wunder glaubten sie nicht mehr. Doch im Glauben an das Beste sprach die Großmutter weiterhin beharrlich mit Franzisk. Schwach und gebrechlich, fand sie dazu noch immer die Kraft. In der Annahme, dass es ihn nicht stören würde, drehte sie Hörspiele auf, erzählte Bücher nach und nahm den Enkel auf Spaziergänge mit.

 

»Wohin gehen wir heute, mein Schatz? Einfach nur der Nase nach? Ja? Gut … Wir wohnen, wie du weißt, im sechsten Stock. Von deinem Fenster aus sieht man den ganzen Hof. Die hohen Bäume, den Fußballplatz, die Nachbarhäuser. Übrigens, wenn der Frühling kommt, sieht man vor den Fenstern nur Grün! Die Bäume sind hoch, riesig, sie sind uralt. Man sieht weder die anderen Häuser noch den Platz, auf dem du dir von klein auf die Knie blutig geschlagen hast. Also, du holst den Aufzug, und ich schließe die beiden Türen ab. Wir haben zwei Türen und vier Schlösser. Du maulst immer und schimpfst mich deswegen, aber ich fühle mich so sicherer. Früher ließen wir unsere Wohnung bewachen. Weißt du noch? Ich hab immer angerufen und gesagt: ›Bitte bewachen – Z856.‹ Aber jetzt weiß ich nicht recht – es kostet zu viel. Ich hab nicht so viel Geld übrig jeden Monat. Darum sperre ich die Tür zu, und du holst wie immer den Fahrstuhl. Es ist ein altes Modell. Zuerst musst du eine große Eisentür öffnen – das geht erst, wenn die Kabine da ist, dann stößt du mit dem Fuß die Holztür auf und steigst ein. Du stößt sie immer mit dem Fuß auf, egal wie sehr ich dich bitte. Weißt du noch, wie der Fahrstuhl aussieht? Nein? Rufen wir uns das zusammen in Erinnerung. In der Regel hat ein Aufzug achtzehn Bestandteile. Vertrau nur auf das technische Wissen deiner Großmutter! Maschinenraum, Aufzugwinde, Laufseile. Aufhängung und Fangvorrichtung. Unsere Kabine ist ziemlich hübsch und sieht sogar ein wenig aus wie die in den alten Kriminalfilmen. Ausrücker, Fußstück, Schacht. Fahrkorbführung. Gegengewichtsführung. Gegengewicht. Dämpfer, Schachtgrube, Spannrolle. Das Seil des Geschwindigkeitsbegrenzers, der Geschwindigkeitsbegrenzer selbst. Der Magnet. Das ist eigentlich alles. In so einer Kiste fahren wir zwei also nach unten, mein Lieber. Man kann in alle Stockwerke sehen, an denen wir vorbeirattern. Wenn du siehst, dass im dritten oder zweiten Stock jemand auf den Fahrstuhl wartet, drückst du auf Stopp, öffnest die Tür und lässt die Hausbewohner herein. Alle freuen sich über deine Genesung. Sie lächeln dich an. Da ist Rom – dessen Name dich immer gewundert hat. Wirklich ein seltener Name. Und Katja, seine kleine Schwester. Und da kommt Tante Nastja, die mich sonntags immer auf den Markt mitnimmt. Sie hatten einen Hund, Kora, ein Cockerspaniel, weißt du noch? Kora ist kürzlich gestorben. Tante Nastja überlegt jetzt, ob sie einen neuen kaufen soll oder nicht – ihre Kora hat sehr lang bei ihnen gelebt. Wir wechseln ein paar Worte und gehen hinaus in den Hof. Direkt vor dir steht der Kindergarten. Das heißt, früher war da ein Kindergarten, du hast immer hier gespielt, aber jetzt haben sie zwei Kindergärten zusammengelegt und aus diesem hier ein Polizeirevier gemacht. Deswegen sind in unserem Hof immer viele Uniformierte. Sie sorgen für Ordnung. Tag und Nacht! Gestohlen wird zwar nicht weniger, aber wen interessiert das schon? Hauptsache, die Mobilisierung im Ernstfall klappt. Bei der Polizei nehmen sie alle – und alle wollen dahin. Man verdient besser als überall sonst. Völlig unbegreiflich, wie man an der Akademie der Wissenschaften Texte übersetzen kann, wenn man doch genauso gut mit einem Schlagstock im Park herumspazieren, ein paar Alkis aufscheuchen und dreimal so viel verdienen könnte. Schon gut, lassen wir diese leidigen Themen. Nach rechts geht es zum Wassersportpalast, aber du gehst immer links durch den Torbogen. Im Erdgeschoss unseres Hauses ist ein Friseur. Hier lässt du dir immer die Haare schneiden. Deine Haare wachsen sehr schnell, daher kommst du etwa alle drei Wochen hierher. Die Mädels da mögen dich sehr. Ich glaube, viele sind trotz des Altersunterschieds sogar verliebt in dich. Sie warten alle, bis du mit der Schule fertig bist. Apropos, wir müssen dir mal wieder die Haare schneiden. Also, du gehst durch den Torbogen und dann nach rechts. Hier ist eine Buchhandlung. Seit hundert Jahren. Auf der anderen Straßenseite ist die Staatliche Kunstakademie. Mit großem S! Fruchtbare Erde. Schauspieler, Maler, Bildhauer und Regisseure – alle kommen sie von hier. In letzter Zeit fällt die Ernte allerdings mager aus, auch die Qualität lässt zu wünschen übrig. Der Stolz der letzten Jahre war ein Mädchen von der Schauspielfakultät. Aber nur weil sie sich den Sohn von Sergej Michalkow geangelt hat, du weißt ja, der die sowjetische und die russische Hymne gedichtet hat. Damit war sie in aller Munde. Ich glaube, die kriegt noch ein Denkmal gesetzt. Links und über die Straße geht es zur U-Bahn. Du verdrehst immer den Stationsnamen und sagst ›Epidemie der Wiesenschafe‹. Weißt du das noch? Du hast diese Angewohnheit. ›Ost‹ nennst du ›Lost‹, und das ›Kulturinstitut‹ heißt bei dir ›Sepultura-Institut‹. Ich weiß nicht, was das ist, aber irgendeine Bedeutung wird es schon haben. Wenn du möchtest, fahren wir mit der U-Bahn, aber wo doch das Wetter so schön ist – lass uns lieber Richtung ›Oktober‹ spazieren …«

 

Die Großmutter spazierte oft mit Franzisk durch die Stadt. Sie erzählte von neuen Orten, auf die sie jetzt nur deswegen achtete, um sie später dem Enkel zu beschreiben. Elvira Alexandrowna versuchte, alles in Erfahrung zu bringen, was nur irgendwie sein Interesse wecken, ihn in Erstaunen versetzen, aufwecken könnte. Als sie einen Fernsehapparat ins Krankenzimmer trug, dachten die Schwestern im Chor: »Da haben wir’s, die Nächste hat den Nachwuchs satt.«

 

»Wie ist es dir lieber, Schatz? Soll ich dir das Match nacherzählen, oder sollen wir doch den Kommentatoren zuhören? Obwohl, was bringt es, denen zuzuhören? Die kommentieren ja nicht das Match, sondern brabbeln einfach vor sich hin. Das scheint jetzt so Mode zu sein. Die glauben anscheinend, dass sie hochinteressante Dinge erzählen. Die sollten mal eine Radioreportage machen müssen, das würde ich mir anhören. Aber denen ist doch alles egal. Sie halten sich alle für ach so lustig. Als wäre ihnen auf den Leib geschrieben, nicht Fußball zu kommentieren, sondern Witze über Sportler zu reißen. Und wenn ich ein Match sehe, dann weiß ich nie, wer wem einen Pass zugespielt hat, wer wen ausgetrickst hat, wer nach welchem Schema spielt … Da sitzen sie, besprechen irgendwelche alten Geschichten, und inzwischen sind schon vier Angriffe vorbei … Eins zu null steht es übrigens schon …«

 

Die Großmutter drehte den Bildschirm nicht zu Zisk – der Fernseher stand zu nahe beim Bett. Sie fürchtete, das könnte ihrem Enkel schaden. »Er macht ohnehin schon so viel durch, da fehlt es gerade noch, dass er sich wegen mir die Augen verdirbt.«

 

Manchmal kam Stassik, der letzte der Freunde. Stassik fiel es nicht leicht, Kontakte zu knüpfen, er lernte nie jemanden kennen und tat sich schwer mit neuen Leuten. Seine Mitschüler hatten sich zerstreut, und Stassik Krukowski war allein zurückgeblieben. Hin und wieder witzelte er ein bisschen mit den Kollegen vom Präsidentenorchester, aber das war es dann auch schon. Wenn Stassik einen richtigen Freund hatte, dann war das Franzisk.

 

»Weißt du, was mir richtig leidtut? Dass wir unsere Gespräche in der Mensa nicht auf Diktiergerät aufgenommen haben. Die waren so geil! Unsere Mittagspausen – das war immer so megalustig! Was haben wir gewiehert, hm? Wir Deppen! Wir hätten das...

Erscheint lt. Verlag 24.3.2021
Übersetzer Ruth Altenhofer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alexijewitsch • Alexijewitsch, Swetlana • Belarus • Cello • Coming of Age • Debüt • Demonstrationen • Diktatur • Emigration • Freiheit • Freund • Geschichtsunterricht • Großmutter • Junger Mann • Koma • Korruption • Lukaschenko • Massenpanik • Minsk • Opposition • Prot • Protest • Proteste • Repression • Russische Literatur • Schüler • Sohn • Stagnation • Swetlana • Teenager • Weißrussland
ISBN-10 3-257-61185-4 / 3257611854
ISBN-13 978-3-257-61185-4 / 9783257611854
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