Schilf im Wind (eBook)

Roman. Überarbeitete Neuausgabe, kommentiert von Jochen Reichel
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Manesse (Verlag)
978-3-641-27534-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schilf im Wind -  Grazia Deledda
Systemvoraussetzungen
14,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein poetisches Meisterwerk der italienischen Moderne
In der Kunst, mit wenigen Worten Stimmungen zu zaubern, ist Grazia Deledda bis heute unerreicht. Auf der abgeschiedenen Insel der Granatapfelbäume und der wilden Kaktusfeigen siedelt die Erzählerin ihr archaisch anmutendes Drama um Schuld und Sühne an. Wie Schilf im Wind finden sich die Insel-Menschen vom Schicksal erfasst, geknickt, zu Boden gedrückt und zuweilen wieder aufgerichtet. Was an Deleddas Prosa jedoch am meisten bezaubert, sind die poetischen Natur- und Landschaftsbeschreibungen ihrer Heimat Sardinien: an den Ufern der türkisen Flüsse gelbliche Binsen, von Silberfäden umsponnen, Mandel- und Pfirsichhaine vor stahlblauem Himmel, meergrünes Schilf und Palmengestrüpp, inmitten hügeliger Flure da und dort weiße Dörfer mit Glockentürmen, zerfallenes Gartengemäuer, abbröckelnde Hauswände, Überbleibsel von Höfen, dazwischen heilgebliebene Katen, und hoch darüber thronend eine schwarze Schlossruine ...

Für die Jubiläumsausgabe anlässlich des 150. Geburtstags Deleddas am 27.9.2021 wird die Manesse-Übersetzung aus dem Jahre 1954 gründlich überarbeitet und kommentiert.

Grazia Deledda (1871-1936) ist eine der bedeutendsten italienischen Erzählerinnen und Wegbereiterin der literarischen Moderne. Das alles umspannende Thema ihres Werks ist die Insel Sardinien, auf der sie geboren wurde. Die großartige sardische Landschaft, die Sitten und Gebräuche der Menschen, die Seele eines einfachen Inselvolks, Religiosität, Naturverbundenheit und Fatalismus, Leidenschaft und Sinnlichkeit bestimmen ihre suggestive Erzählkunst. 1926 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

I.

Den ganzen Tag über hatte Efix1, der Knecht der Damen Pintor, an der Verstärkung des einfachen Damms gearbeitet, den er im Lauf der Jahre nach und nach und mit großer Mühe längs des Flusses in der Talsenke2 des kleinen Landguts eigenhändig errichtet hatte. Und bei Anbruch des Abends saß er vor seiner Hütte unterhalb des grünblauen Schilfsaums, auf halber Höhe des weißen Taubenhügels3, und übersah sein Werk von oben.

Dort zu seinen Füßen liegt still das kleine Anwesen, auf dem nur hie und da das Wasser in der Dämmerung schimmert und das Efix mehr als seinen Besitz als den seiner Herrinnen betrachtet: Dreißig Jahre der Bewirtschaftung und der Arbeit haben es recht eigentlich zu seinem Eigentum gemacht. Und die beiden Hecken aus Feigenkakteen, die es vom Hügel bis zum Fluss wie zwei graue, sich über die Terrassenfelder hinabwindende Steinmauern umfrieden, erscheinen ihm wie die Grenzen der Welt.

Auch weil das Land jenseits der Hecken vor langer Zeit einmal seinen Herrinnen gehört hatte, schaute der Knecht nicht über die Grenzen des Gutes hinaus. Wozu die Vergangenheit heraufbeschwören? Nutzloses Bedauern. Besser war es, an die Zukunft zu denken und auf die Hilfe Gottes zu vertrauen.

Und Gott verhieß ein gutes Jahr. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass alle Mandel- und Pfirsichbäume im Tal von Blüten übersät waren. Und das Tal selbst zwischen den beiden weißen Hügelketten – aus der Ferne schimmerten blau die Berge im Westen und das Meer im Osten herüber – erinnerte mit seinen Frühlingswiesen, seinen Rinnsalen, seinen Blumen und Sträuchern und dem eintönigen Gemurmel des Flusses an die mit grünen, wehenden Schleiern und hellblauen Bändern geschmückte Wiege eines einschlummernden Kindes.

Doch die Tage waren schon zu heiß, und Efix dachte auch an die jähen Wolkenbrüche, die den ungebändigten Fluss anschwellen, gleich einem Ungeheuer über die Ufer steigen und alles zerstören ließen. Man durfte hoffen, doch nicht allzu sehr vertrauen; man musste wachsam sein, wie das Schilfrohr auf dem Hang dort, dessen Spitzen bei jedem Windhauch aneinanderschlugen, als wollten sie einander vor der Gefahr warnen.

Aus diesem Grund hatte er den ganzen Tag gearbeitet und betete jetzt, in Erwartung der Nacht, zu Gott um den Bestand seiner Arbeit, während er, um keine Zeit zu verlieren, damit beschäftigt war, eine Binsenmatte zu flechten. Was bedeutete schon ein kleiner Damm, wenn Gottes Wille ihn nicht gewaltig wie einen Berg werden ließ?

Sieben Binsenstreifen durch eine Weidengerte also und sieben Gebete zum Herrn und zu unserer Lieben Frau, der Madonna del Rimedio4, gesegnet sei sie; dort unten lagen jetzt im letzten blassen Blau der Abenddämmerung die kleine Kirche und das Geviert der Hütten wie ein vorzeitliches, seit Jahrhunderten verlassenes Dorf. Zu dieser Stunde, während der Mond wie eine große Rose zwischen den Sträuchern auf dem Hügel erblühte und die Wolfsmilch am Flussufer ihren Duft verströmte, beteten auch seine Herrinnen. Donna Ester, die älteste, gesegnet sei sie, dachte dabei gewiss auch an ihn, den Sünder. Das war ihm schon genug: Er fühlte sich zufrieden und für seine Mühsal entlohnt.

Ferne Schritte ließen ihn aufschauen. Er glaubte sie wiederzuerkennen; es war der rasche und leichte Gang eines Kinds, der Schritt jenes Engels, der alles Freudige und alles Traurige verkündet. Gottes Wille geschehe! Er ist es, der uns die guten und die schlechten Botschaften sendet. Doch sein Herz begann zu zittern, und auch seine schwarzen, rissigen Finger zitterten und die silbrigen Binsen, die im Mondlicht wie feine Wasserstrahlen glitzerten.

Jetzt waren die Schritte nicht mehr zu hören. Aber Efix verharrte noch immer regungslos und wartete.

Vor ihm stieg der Mond immer höher, und die Stimmen des Abends sagten dem Menschen, dass sein Tag zur Neige ging. Da war der gleichförmige Ruf eines Kuckucks, das Zirpen der ersten vorwitzigen Grillen, das Klagen eines Vogels; da war das Seufzen des Schilfes und die immer reiner tönende Stimme des Flusses; da war, vor allem, ein Hauch, ein geheimnisvoller Atem, der aus dem Herzen der Erde selbst zu kommen schien. Gewiss, der Tag des arbeitenden Menschen ging zur Neige; aber es begann das fantastische Leben der Kobolde, der Feen und der rastlosen Gespenster. Die Geister der einstigen Barone kamen von den Ruinen des alten Bergschlosses über dem Dorf Galte5 herab, dort oben am Horizont, zur Linken von Efix, und durchquerten die Gestade des Flusses auf der Jagd nach Ebern und Wölfen; ihre Waffen blitzten durch die niedrigen Erlenbüsche am Ufer, und das ferne heisere Bellen von Hunden verriet, wo sie vorbeikamen. Efix hörte das Geräusch, das die Panas6 (bei der Niederkunft verstorbene Frauen) machten, wenn sie unten im Fluss ihre Kleider wuschen und mit den Knochen der Toten ausschlugen; er glaubte zu sehen, wie der Ammattadore7, ein Kobold mit sieben Hüten, unter denen er einen Schatz verbarg, zwischen den Mandelbäumen hin und her sprang, gefolgt von Vampiren mit erzenen Schwänzen8.

Wo er sich seinen Weg bahnte, funkelten Zweige und Steine im Mondlicht auf. Zu den bösen Geistern gesellten sich die Geister der ungetauften Kinder, weiße Gespenster, die durch die Luft flogen und sich in silberne Wölkchen hinter dem Mond verwandelten. Die Zwerge und die Janas9, kleine Feen, die tagsüber in ihren Felshäusern an goldenen Webstühlen goldene Stoffe wirkten, tanzten im Schatten der weitläufigen Macchia aus Steinlinden, während die Riesen mit ihren gewaltigen grünen Rossen10, die nur sie allein zu besteigen verstehen, zwischen den Bergzacken im Schein des Monds auftauchten. Die Zügel in den Händen, hielten sie Ausschau, ob sich dort unten in den Niederungen voll verderblicher Wolfsmilch nicht ein Drache versteckte oder die sagenumwobene kanaanäische Schlange11, die seit Christi Zeiten über die sandigen Ränder des Sumpflands schlich.

Besonders in Mondnächten erweckt dieses geheimnisvolle Volk die Hügel und Täler zum Leben; der Mensch hat nicht das Recht, es durch seine Gegenwart aufzustören, wie ja auch die Geister ihn achten, während die Sonne ihren Lauf nimmt. Es ist also an der Zeit, sich zurückzuziehen und die Augen unter der Obhut der Schutzengel zu schließen.

Efix bekreuzigte sich und stand auf, wartete aber noch eine Weile, ob nicht doch noch jemand daherkäme. Dann schob er das Brett vor, das ihm als Türe diente, und lehnte ein großes Kreuz aus Schilfrohr dagegen, damit den Kobolden und den Versuchungen der Zutritt in die Hütte verwehrt bliebe.

Der Mondschein fiel durch die Ritzen in den schmalen, zu den Ecken hin abfallenden Raum. Für ihn indessen, der klein und hager wie ein Jüngling war, bot er ausreichend Platz. Vom kegelförmigen Dach aus Schilfrohr und Binsen, das auf grob gefügten Steinwänden ruhte und in dessen Mitte sich ein Loch für den Abzug des Rauches befand, hingen Zöpfe von Zwiebeln und Sträuße getrockneter Kräutern herab, Kreuze aus Palmzweigen und geweihte Olivenzweige, eine bemalte Wachskerze, eine Sichel gegen die Vampire und ein Säckchen voll Gerste gegen die Panas. Bei jedem Windhauch geriet alles in Bewegung, und die Spinnweben glitzerten im Mondlicht. Unten auf dem Boden ruhte die Kanne, die Henkel in die Seiten gestützt, und ihr zur Seite schlief ein umgedrehter Kochtopf.

Efix breitete seine Schilfmatte aus, legte sich aber noch nicht hin. Er meinte immer noch Kinderschritte zu hören. Irgendjemand würde bestimmt noch kommen, und tatsächlich begannen die Hunde auf den Nachbargehöften plötzlich zu bellen. Und über das ganze Land, das noch wenige Augenblicke zuvor unter dem Gebetsmurmeln der nächtlichen Stimmen eingeschlafen zu sein schien, ging ein Zittern und Klingen, als sei es jäh erwacht.

Efix machte die Tür wieder auf. Eine schwarze Gestalt stieg den Abhang hinauf, dort, wo die Ackerbohnen sich silbern im Mondlicht kräuselten; und er, dem in der Nacht selbst alle menschlichen Wesen unheimlich vorkamen, bekreuzigte sich erneut. Doch eine ihm bekannte Stimme rief ihn an: Es war die lebhafte, aber ein wenig atemlose Stimme eines jungen Burschen, der in unmittelbarer Nachbarschaft der Damen Pintor wohnte.

«Onkel Efisè12! Onkel Efisè!»

«Was ist geschehen, Zuannantò? Geht’s meinen Damen gut?»

«Ja, es geht ihnen gut, glaube ich. Sie haben mich nur hierhergeschickt, um Euch zu sagen, dass Ihr morgen in aller Frühe ins Dorf kommen sollt, weil sie mit Euch sprechen müssen. Vielleicht wegen eines gelben Briefs, den ich in der Hand von Donna Noemi gesehen habe. Sie las ihn vor, und Donna Ruth, die gerade dabei war, den Hof zu fegen, und mit dem weißen Tüchlein auf dem Kopf ausschaute wie eine Nonne, blieb stehen, stützte sich auf den Besenstiel und hörte ihr zu.»

«Ein Brief? Du weißt nicht, von wem?»

«Nein, ich nicht. Ich kann doch nicht lesen. Aber meine Großmutter sagt, er ist vielleicht von Don Giacinto, dem Neffen Eurer Herrinnen.»

Ja, Efix spürte es; so musste es sein; dennoch kratzte er sich nachdenklich an der Wange und senkte den Kopf, während er zugleich hoffte und fürchtete, dass er sich irrte.

Der Junge hatte sich inzwischen müde auf den Stein vor der Hütte gesetzt, schnürte seine schweren Schuhe auf und fragte,...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2021
Reihe/Serie Manesse Bibliothek
Nachwort Federico Hindermann
Übersetzer Bruno Goetz
Sprache deutsch
Original-Titel Canne al vento
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Familiengeschichte • Frauenroman • Italien • Jubiläum • Klassiker • Light Academia • Moderne • Nobelpreis • Sardinien • Schuld und Sühne • Weltliteratur
ISBN-10 3-641-27534-2 / 3641275342
ISBN-13 978-3-641-27534-1 / 9783641275341
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99