Frühling (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-22299-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frühling -  Ali Smith
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Frühling, die Kraft, die verbindet und wandelt: Was verbindet einen unbekannten Regisseur, der um verlorene Zeiten trauert, und die Angestellte eines Flüchtlingszentrums, die in modernen Zeiten gefangen ist? Was haben Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke mit Twitter und Fake News zu tun? Und warum schafft es ein 12-jähriges Mädchen, verkrustete Strukturen zu sprengen und allen die Augen zu öffnen? Ali Smith erzählt die unmögliche Geschichte einer unmöglichen Zeit und stößt in einer Welt, die zunehmend von Mauern und Schließungen geprägt ist, eine Tür auf. Frühling, die Zeit der Hoffnung.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.

Vorigen März. Fünf Monate vor ihrem Tod. Meilenweit stapft er durch Schneematsch von seiner Wohnung zu ihrer. Läutet an der Tür. Einer der Zwillinge macht ihm auf. Paddy ist hinten. Als sie ihn in der Diele hört, ruft sie:

Ist das mein geliebter König der Künste?

Sie ist so mager, dass man meint, ihr Arm könnte brechen, wenn sie einen Becher Tee anhebt. Doch als er vor ihr steht, bläst ihm der Sturm ihrer Worte entgegen: Sein Haar ist zu lang, sein Hemd voller Flecken, was hast du gemacht, gegessen wie ein Irrer? Sieh dir deine Hose an, hast du keine Stiefel? Sieh dir deine arme schöne Hühnerbrust in dem bekleckerten Hemd an, Dick, wofür hältst du dich, für Perikles von Tyrus?

Perikles von Müd und Matt, sagt er. Sechs Meilen durch Schneestürme, um mit dir über gutes Benehmen zu sprechen.

Ach, du bist der Müde, du hemmungsloser Jammerlappen. Ich bin diejenige, die stirbt, sagt sie. Zieh deine nassen Schuhe aus.

Du wirst niemals sterben, Paddy, sagt er.

O doch, das werde ich.

Nein, wirst du nicht.

Werd erwachsen, sagt sie, das ist kein Kasperletheater, wir werden alle sterben, das ewige Leben ist ein modernes Märchen, eine rechte Misere, darauf darf man nicht reinfallen, und jetzt bin ich es, die in das Boot mit dem Loch steigen muss, nicht du, also komm mir nicht so.

Wir sitzen alle im selben Boot, Pad, sagt Richard.

Hör auf, mir meine Tragödie zu stehlen, sagt sie. Stell die Schuhe auf den Heizkörper. Runter mit den Socken und rauf damit auf den Heizkörper. Dermot, hol ein Handtuch und setz Wasser auf.

Das Schiff der liberalen Welt, sagt er. Wir dachten, wir wären Schiffskameraden und würden für immer in den Sonnenuntergang segeln.

Das war einmal, aus und vorbei, sagt sie. Wie macht sich das Schiff der neuen Weltordnung da draußen?

Er lacht.

Wie in einem Computerspiel, sagt er. Digital konzipiert, damit man es mit Torpedos beschießen kann.

Menschlicher Einfallsreichtum, sagt sie. Man muss ihn beklatschen, wenn er so interessante neue Arten erfindet, Spaß am Zerstören zu haben. Wie geht’s dir, abgesehen vom Ende der liberalen kapitalistischen Demokratie? Ich meine, schön, dich zu sehen, aber was willst du?

Er berichtet ihr seine Neuigkeit. Er ist gerade Martin Terps neuestem Werk zugeteilt worden.

Terp? Ach herrje.

Ich weiß, sagt Richard.

Möge Gott dir beistehen, und den Beistand wirst du auch brauchen, sagt sie. Zugeteilt wofür? Um was zu tun?

Er erzählt ihr von dem Roman über die zwei Schriftsteller, die 1922 zufällig beide in derselben kleinen Ortschaft in der Schweiz lebten, sich aber nie begegneten.

Katherine Mansfield?, sagt sie. Wirklich? Bist du dir sicher?

Das ist der Name.

Eine Nachbarin von Rilke? Und das stimmt?

Die Danksagung hinten im Roman beteuert, dass es stimmt, sagt er.

Was für ein Roman? Geschrieben von wem?

Ein literarischer, sagt er. Der zweite Roman von Nella irgendwas, Bella. Viel Sprache. Wenig Handlung.

Und so ein Projekt haben die Terp anvertraut?, sagt sie.

Es ist ein Bestseller. Stand auf allen Shortlists, sagt er.

Die Ecke habe ich nicht mehr so auf dem Radar, sagt sie. Taugt das Buch was?

Im Klappentext des Paperbacks steht, ein Idyll der Ruhe und des Friedens, ein Geschenk aus der Vergangenheit, mitreißend, richtig zum Schwelgen, Auszeit von der Epoche des Brexit, all so was, sagt er. Mir hat es sehr gefallen. Zwei Menschen, die ein ruhiges Schriftstellerleben führen und ab und zu in einem Hotelflur aneinander vorbeigehen. Die eine vollendet ein Lebenswerk, obwohl sie es nicht weiß. Sie ist krank. Um den Streitereien mit ihrem Ehemann, der oben auf dem Berg lebt, zu entkommen, ist sie in das Hotel weiter unten gezogen und wohnt dort mit ihrer Freundin, die etwas verhuscht wirkt. Der andere Schriftsteller, wie sprichst du den Namen aus?

Rilke, sagt Paddy.

Er hat Anfang des Jahres ein Lebenswerk vollendet, sagt Richard, und ist erschöpft. Der Turm, in dem er lebt, wird gerade renoviert, deshalb ist er für die Dauer der Sanierung in dasselbe Hotel unten an der Straße gezogen. Die ist beendet, er geht nach Hause und verlässt das Hotel genau in dem Moment, in dem sie eintrifft, mit Freundin, die wie ein Packpferd sämtliche Taschen auf dem Rücken trägt. Er isst aber gern dort und wandert deshalb abends meistens zum Essen die Straße hinunter, es ist ein Skiresort und Sommer, deswegen ist im Hotel und in der Stadt nicht viel los, und manchmal ergibt es sich, dass die beiden Schriftsteller nicht weit voneinander entfernt im selben Speisesaal sitzen. Manchmal gehen sie in den Hotelanlagen aneinander vorbei. Der Roman macht aber auch ziemlich viel Gewese darum, dass oben die Berge sind und sie da unten und so weiter, dass sie vor dieser prächtigen Alpenkulisse einfach ihr Leben führen.

Und was passiert?, sagt Paddy.

Ich hab dir gerade die ganze Handlung erzählt, sagt er.

Hm.

Eine neue Jahreszeit beginnt, sagt er. Sie lernen sich nie kennen. Pferde, Glockenhüte und schmale Westen, hohes Gras und Weiden mit grasenden Kühen, die Glocken um den Hals haben. Ein Kostümstück.

Sie schüttelt den Kopf.

Aber Terp, sagt sie. Eine Katastrophe. Kannst du dir das vom Hals schaffen?

Er hält die Manschette seines Hemds hoch, damit sie sieht, wie durchgescheuert die ist. Dann hält er ihr die andere Manschette hin, genauso durchgescheuert.

Hast du schon ein Drehbuch gesehen?, fragt sie.

Ja.

Kommen Terroristen drin vor?

Sie lachen beide. Im vorigen Jahr haben sie sich zusammen die komplette iPlayer-Staffel des National Trust angesehen, Martin Terps letztes Drama, von den Medien durch die Bank hymnisch besprochen: fünf von zwerchfellerschütternden Detonationen strotzende Episoden über eine gemeinsame Operation von Polizei und Geheimdienst gegen eine Gruppe islamistischer Terroristinnen, die sich mit Sprengstoffwesten am Leib in einem Herrensitz im Norden Englands verschanzt und ein paar Prominente und einen frisch zertifizierten Fremdenführer durch das historische England als Geiseln genommen hatten.

Ich bin heute hier, um dir Folgendes mitzuteilen, Paddy, sagt Richard. Es gibt Schlimmeres als Terroristen.

Martin Terp, sagt er, hat bereits einige grob umrissene Sexszenen herumgeschickt, und die Leute bei dem britischen Sender, der die Romanadaption ursprünglich in Auftrag gegeben hat, sowie die Leute bei dem mächtigen Online-Händler, der den Film hauptsächlich finanziert, waren davon alle sehr angetan.

Sexszenen?, sagt Paddy.

Er nickt.

Zwischen Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke? Wann, in welchem Jahr sagtest du – 1922?

In seinem Turm, in ihrem Hotelzimmer, in verschiedenen anderen Hotelbetten, inklusive dem ihrer Freundin, wodurch es zusätzlich einen lesbischen Touch bekommt, und – warte, ich bin noch nicht fertig – in den Hotelanlagen in einer kleinen Grotte, in der sonst ein Streichquartett spielt, im Hotelflur, hinter einer Kübelpflanze, in eine Gardine eingewickelt, und im Billardzimmer des Hotels auf dem Billardtisch, während die Bälle in alle Richtungen davonrollen. Komödiensex.

Paddy lacht laut los.

Ich lache nicht über den Komödiensex, sagt sie. Ich lache, weil es nicht nur lachhaft ist, sondern unmöglich. Erstens hatte Mansfield 1922 Tuberkulose im Endstadium. Sie starb Anfang 1923 daran.

Ich weiß, sagt er. Von ihrer Tuberkulose bin ich hier schon ganz wund.

Er nimmt Paddys magere Hand und legt sie auf seine Brust. Sie lächelt ihn an, hebt eine Braue.

Fish are jumping, Doubledick.

Somatize and the living is easy. Seit ihrer ersten Gemeinschaftsarbeit, seit See von Plagen, als er für die Dauer der sechswöchigen Dreharbeiten buchstäblich irisch-grün im Gesicht war, wie sie es nannte und was sie als Seekrankheit diagnostizierte, hat Paddy die Theorie, dass es ein gutes Omen ist, wenn sich das, was er tut, in seinem Körper manifestiert. Dann kommt etwas Gutes dabei heraus.

Er grinst, lässt ihre Hand los.

Ohne dich bringe ich doch nichts Gutes zustande, sagt er.

Da würde ich dir ja gern widersprechen, aber wie kann ich das, nachdem ich von dir höre, dass Terp mich ersetzen wird, sagt sie. Verärger mich nicht noch mehr. So einen Film mit dir zu machen, dafür würde ich viel geben. Katherine Mansfield, Herrgott, ein Drehbuch über Katherine Mansfield. Und Rilke. Giganten der Literatur. Mansfield und Rilke, selbe Zeit, selber Ort. Unglaublich.

Wenn dich das interessiert, sagt Richard.

Und ob es mich interessiert!, sagt sie. Die Erzählungen, die Mansfield in der Schweiz geschrieben hat, waren ihre besten. Und er hat die Elegien endlich zu Ende gebracht und schreibt die Sonette an Orpheus. Zwei scharfsinnige Geister steigen hinab ins Dunkel und loten aus, wie man über das Leben und den Tod sprechen soll. Und verwenden dabei bahnbrechende neue Formen. Am selben Ort, zur selben Zeit. Die bloße Vorstellung! Überwältigend, wenn es denn stimmt, Dick. Wirklich.

Wenn du das sagst.

Sie schüttelt den Kopf.

Rilke, sagt sie. Und Mansfield.

Jetzt dämmert es Richard, jetzt fällt bei ihm der Groschen. Katherine Mansfield wird eine der vielen Schriftstellerinnen sein, von denen Paddy ihm die ganze Zeit erzählt hat, eine der Autorinnen, von denen sie seit Jahrzehnten spricht. Er hat aber nie zugehört und sich nicht weiter darum gekümmert.

Er sagt, was ihm gerade einfällt, er hätte sich die von ihr...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2021
Übersetzer Silvia Morawetz
Sprache deutsch
Original-Titel Spring
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Culloden • Dickens • eBooks • Fake News • Filme • Flüchtlingszentrum • Hoffnung • Jahreszeitenquartett • Katherine Mansfield • London • Nr.-1-Bestseller aus Großbritannien • Rainer Maria Rilke • Roman • Romane • Schottland • Shakespeare • Twitter
ISBN-10 3-641-22299-0 / 3641222990
ISBN-13 978-3-641-22299-4 / 9783641222994
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