Räuber (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
544 Seiten
Blessing (Verlag)
978-3-641-26710-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Räuber -  Eva Ladipo
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Wem gehört die Stadt?

Als die Sozialwohnung verkauft wird, in der er mit seiner Mutter lebt, weiß Olli Leber, was das zu bedeuten hat: Menschen wie er haben kein Recht mehr auf ein Leben im Zentrum Berlins. Doch der junge Bauarbeiter will sich nicht stillschweigend entsorgen lassen und bläst zum Gegenangriff.

In Amelie Warlimont findet Olli eine unverhoffte Mitstreiterin, denn die bekannte Journalistin hat alte Rechnungen zu begleichen und ihre eigenen Gründe, sich von der Stadt verraten zu fühlen. Gemeinsam ziehen die beiden in einen Kampf um Gerechtigkeit. Ein Kampf, der immer mehr außer Kontrolle gerät.

Eva Ladipo, geboren 1974, studierte in Cambridge Politische Wissenschaften und wurde mit einer Arbeit über das russische Steuersystem promoviert. Sie begann als Journalistin bei der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und arbeitete zuletzt für die »Financial Times«. Sie lebte längere Zeit in Russland und Kolumbien und wohnt jetzt mit ihrem Mann und zwei Kindern in London. 2015 veröffentlichte sie ihren ersten Roman: »Wende«.

1


»Schläfst du?«, flüsterte sie. Ihr blieb nicht viel Zeit, bald wurde es hell. Sobald das Baby aufwachte, musste sie aufbrechen, um den Plan umzusetzen, den sie in der zurückliegenden Nacht entwickelt hatten. Weil er nicht reagierte, versuchte sie es noch einmal. »Olli?«

Er zuckte.

»Bist du wach?« Sie strich ihm über den verschwitzten Kopf. Es hatte noch immer etwas Unwirkliches, diesen Fremden, der auf ihr lag, überhaupt anzureden. Sie sprach den Namen behutsam aus, wie eine Zauberformel, als sei er der Schlüssel zu dem ganzen Wahnsinn. Als müsste sie die zwei Silben nur richtig betonen, um das Rätsel der vergangenen Wochen zu lösen und zu begreifen, was sie zu tun imstande war. »Olli.«

Er rollte zur Seite und landete halb auf dem Boden. Die fleckige Matratze war zu schmal, als dass sie nebeneinander Platz fanden. Vom Liebesspiel benommen und doch aufnahmefähiger als zuvor, sah er sie an, das Gesicht auf die Hand gestützt. Auch er hatte das Bedürfnis, die gemeinsame Legende wiederaufzunehmen und weiterzuspinnen und sich gegenseitig zu versichern, dass sie das Richtige taten. Wenn sie sich die Dinge so zurechtlegten, dass sie auf der Seite des Guten und Gerechten standen, dass sie für die Armen und gegen die Reichen kämpften, dann legte das ein Ende nahe, in dem der Plan gegen alle Wahrscheinlichkeit aufging. David hatte Goliath am Ende schließlich auch bezwungen.

»Weißt du, was ich glaube?« Ihr Blick war nach oben gerichtet. Dort, wo einmal die Lampe angebracht war, hing jetzt ein Knoten aus dünnen Kabeln von der vergilbten Decke. Während er wartete, dass sie weitersprach, folgte er ihrem Blick. Er sah genauer hin und stellte fest, dass der Nullleiter fehlte. Es war ein uralter Elektroanschluss. Die ungeschützten Kabeladern waren nicht einmal richtig abgeklemmt.

»Ich glaube, dass es viel mehr perfekte Verbrechen gibt, als man denkt.«

»Was?«

»Dabei werden keine Spuren hinterlassen. Perfekte Verbrechen werden nicht nur nicht aufgeklärt, sondern sie werden nicht einmal bemerkt. Wahrscheinlich wird jeden Tag eine Unzahl an Straftaten begangen, von denen niemand etwas mitbekommt.«

»Außer den Opfern.«

»In vielen Fällen begreift nicht einmal das Opfer, was passiert.«

Er stieß die Luft aus. »In unserem schon.«

»Das stimmt. In unserem Fall können wir das Opfer leider nicht verschonen.« Sie legte eine kurze Gedenkpause ein. »Aber ich meine jetzt allgemein. Wenn es ständig überall passiert und es nur keiner merkt – dann ist das, was wir vorhaben, gar nicht so außergewöhnlich. Ich finde das beruhigend. Denn wenn andere das schaffen, dann schaffen wir das auch. Verstehst du?«

Er streckte sich behaglich neben ihr aus. Allein ihre Stimme wirkte erbauend. Ihr Zuspruch war wie ein Zaubertrank, mit dem er das nötige Maß an Größenwahnsinn in sich aufnahm, das er brauchte, um dem Schicksal die Stirn zu bieten.

»Siehst du die Kabel da oben?«, fragte er.

»Ja.«

»Die haben keine Schutzisolierung. Da reicht ein einziger Funke, und das ganze Haus steht in Flammen.« In seiner Stimme schwang Genugtuung mit, denn jede Fahrlässigkeit dieser Art war ein weiterer Beweis dafür, wie antastbar die Würde des Menschen geworden war, und rechtfertigte ihr Vorhaben. »Wahrscheinlich wäre ihnen das gar nicht mal so unrecht. Dann könnten sie sich die Abrissbirne sparen und sich auf höhere Gewalt berufen, um uns loszuwerden. Und niemand würde dahinterkommen.«

»Stimmt. Von Leuten wie euch hätten sie nichts zu befürchten.«

»Denn Leute wie wir wehren sich nicht«, spann er den Faden leise weiter. »Leute wie wir ziehen nicht vor Gericht. Wir wissen nicht einmal, wie das geht. Leute wie wir lassen sich einfach rausschmeißen.«

Sie drehte sich zu ihm und starrte auf das wenige, das von ihm aus dieser Nähe zu erkennen war. »Nur du nicht«, flüsterte sie. »Du wehrst dich. Du lässt nicht zu, dass sie euch entsorgen.«

Als seien sie seine Zeugen, ließ er die feuergefährlichen Drähte nicht aus den Augen.

Ihre Ermutigung tat so gut wie der körperliche Akt. Er konnte nicht genug davon bekommen. Er wollte es wieder und wieder und wieder hören. »Meinst du?«

»Was wäre denn die Alternative?« Sie lag auf dem Rücken und redete mit der Decke. »Die Alternative wäre, dass du dich geschlagen gibst. Dass du brav beiseitetrittst und Platz machst. Das wäre die Alternative. Und danach müsstest du mit der Schande weiterleben, nichts getan zu haben.«

»Alle anderen tun doch auch nichts.«

Sie wusste so gut wie er, dass er nur widersprach, damit sie nicht verstummte. »Deshalb fangen sie dann auch an, sich zu betäuben und zu saufen und um sich zu schlagen und AfD zu wählen. Du nicht.«

»Sondern?«

»Was du stattdessen machst?«

Er nickte.

»Na ja, du landest auf keinen Fall im Gefängnis, weil es ja nicht auffliegt. Die Sache klappt, und du bist ein gemachter Mann, der sämtliche Kabelanschlüsse in seinem Haus erneuern kann.«

»Das ist alles?«

»Was willst du denn noch?«

Er atmete aus. »Weiß nicht.«

Sie stützte sich auf den Ellenbogen, wobei das Laken ihre Brüste mit den erweiterten Brustwarzen freigab. »Ab und zu kannst du noch an die schwäbische Hausfrau denken, die sich für dich zur Gangsterbraut gemacht hat.«

Er lachte leise, ohne die Einladung, sie zu berühren und erneut die Welt zu vergessen, anzunehmen. Das hob er sich auf. Vorerst sah er sie nur an, so unbeirrt und schamlos, wie es nur Kinder und Verliebte können, und fragte: »Warum eigentlich?«

»Warum was?«

»Warum steigst du nicht aus und bringst dich in Sicherheit?«

»Das habe ich dir doch schon so oft erklärt.«

Es stimmte. Er stellte die Frage in immer neuen Varianten, weil er sie noch immer nicht verstand. Ihn selbst trieb der Mut der Verzweiflung. Doch was trieb sie? Sie besaß alles – alles –, was man sich wünschen konnte. Er hatte oft genug beobachtet, wie unbeschwert sie war, egal, in welcher Umgebung. Sie sah gut aus, konnte reden, besaß Geld. Obwohl sie zweifache Mutter war, wirkte sie unbekümmerter als die meisten Frauen seines Alters. Warum setzte man so ein Leben aufs Spiel? Nur weil ihr Ehemann ein paar Monate lang fremdgegangen war? Wenn sie davon anfing – was sie dankenswerterweise selten tat –, meinte er, sie machte Witze.

»Du weißt doch, dass ich noch eine Rechnung mit ihm offen habe.«

»Mit deinem Mann?«

»Nein, nicht mit Stefan.« Der Tonfall entrüstet, als wäre ihr der Gedanke nie gekommen. »Ich meine mit Falk.«

Falk Hagen war das Opfer. Der Mann, der sich anbot, jenes Unrecht zu sühnen, das er als Senator über die Stadt gebracht hatte. Eigentlich war es reiner Zufall, dass die Wahl auf ihn gefallen war. Er war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen, oder zur falschen Zeit am falschen Ort, je nach Perspektive. Doch seit sie ihn auserkoren hatten, arbeiteten sie daran, diesem Schlenker des Schicksals eine unbedingte Logik zu verleihen und ihn umzudeuten in Absicht und Vorsatz.

»Falk Hagen schuldet mir mindestens zwei Monate meines Lebens. Und in meinem Alter« – sie küsste ihn dicht unters Ohr, wobei ihr schwerer Busen seinen Arm streifte – »in meinem Alter zählt so was.«

Seine Finger spreizten sich, er spürte die wiederkehrende Begierde. Viel länger würde er nicht widerstehen können. Doch er hielt sich im Zaum, denn er wollte mehr erfahren. »Sag mal, wie findest du den eigentlich? Als Mensch, meine ich.«

»Den Ex-Senator?«

»Das ist kein Arschloch, oder?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Der ist umgänglich und nett. Richtig herzlich. Den kann man wahrscheinlich nicht einmal nicht leiden, wenn man es will.«

»Im Ernst?«

»Aber darin ist er keine Ausnahme.« Sie griff nach seiner Hand, die auf ihrer Hüfte lag, und verschränkte ihre Finger mit seinen. Auch sie hatte Buße zu tun. Es war nicht die Politik allein, die für die Verschiebung der Verhältnisse sorgte, dafür, dass die Balance verloren ging, weil die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher wurden. Sie war selbst mitverantwortlich. Als Journalistin hatte sie gemeinsam mit der überwältigenden Mehrheit der Kollegen versagt. Sie hatte nicht aufgepasst. Sie war zu bequem gewesen, um genau hinzusehen. Die Dinge hatten sich vor ihren Augen verändert, jedes Jahr ein bisschen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Sie war abgelenkt gewesen von immer neuen Sensationen und anderen Nebensächlichkeiten. Und selbst wenn sie zufällig ein paar Puzzleteile erwischt hatte, war sie nicht in der Lage gewesen, sie ins Gesamtbild einzufügen. »Ich glaube, dass die wenigsten Politiker, die so großen Schaden anrichten wie er, unangenehm sind. Die meisten sind total sympathisch. Wenn sie Arschlöcher wären, würde man sie nicht gewähren lassen. Dann würde ihnen niemand derart auf den Leim gehen.«

»Hm.«

»Ich glaube sogar, dass es eine Art trauriges Gesetz gibt.« Sie dachte nach. »Ein Gesetz, nach dem die Bösen einen entscheidenden Vorteil haben. Zumindest in der Politik ist das so. Denn Politiker, die der gerechten Sache dienen, sind oft überheblich. Die meisten von ihnen sind unangenehme Gutmenschen. Arrogante Langweiler, die alles besser wissen, weil sie es ja wirklich besser wissen. Ihre Gegner dagegen, die Schlechtes im Sinn haben, müssen sich mehr Mühe geben. Sie können die Wahrheit nicht für sich sprechen lassen. Auch um die eigenen Zweifel zu unterdrücken,...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alt-Linke • Bauarbeiter • Berlin • Berlin-Roman • eBooks • High-Society-Hochzeit • München • Roman • Romane • Sanierung • Ungewöhnliche Liebesgeschichte • Wohnungsnot
ISBN-10 3-641-26710-2 / 3641267102
ISBN-13 978-3-641-26710-0 / 9783641267100
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