Junischnee (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
192 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07235-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Junischnee - Ljuba Arnautovic
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Ljuba Arnautovic erzählt mit ihrer Familiengeschichte das Drama des 20. Jahrhunderts in Wien, Moskau und im Gulag. Ein poetischer Roman über Schicksal und politische Willkür.
1934 schickt Eva, die in Wien dem Republikanischen Schutzbund angehört, ihre Söhne Slavko und Karl fort, um sie vor den Nationalsozialisten in Sicherheit zu bringen. Die 'Schutzbundkinder' machen Ferien auf der Krim und kommen dann in ein luxuriöses Heim in Moskau. Bis Hitler den Pakt mit Stalin bricht. Slavkos Spuren verlieren sich, Karl wird aufgegriffen, kommt in eine Besserungsanstalt für Kinder und Jugendliche und schließlich als 'Volksfeind' ins Arbeitslager. Im Gulag lernt er seine zukünftige Frau Nina kennen - die Mutter der Autorin. Karl will nach Wien zurück, sobald es die Umstände erlauben, seine Frau zwingt er damit in die Fremde ... Ljuba Arnautovic erzählt anschaulich, poetisch und mitreißend, wie Menschenverachtung und politische Willkür im 20. Jahrhundert das Schicksal der Menschen bestimmten - das Schicksal ihrer eigenen Familie.

Ljuba Arnautovic, geboren 1954 in Kursk (UdSSR), lebt in Wien. Nach dem Studium der Sozialpädagogik arbeitete sie für das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, als Russisch-übersetzerin und Rundfunkjournalistin. Ihr erster Roman, Im Verborgenen, stand auf der Shortlist Debüt für den Österreichischen Buchpreis 2018. Zuletzt erschien 2021 ihr Roman Junischnee bei Zsolnay. 

2


Auch der 1903 geborene Fjodor darf nicht lange Kind sein. Seine Eltern sind arm, und früh muss er, als der ältere der beiden Söhne, im Garten, der hauptsächlich zum Anbau von Kartoffeln und Kohlköpfen genutzt wird, mithelfen. Und im Stall — auch wenn dieser Stall nicht einmal eine Kuh, nur eine Ziege, einige Hasen und eine kleine Hühnerschar beherbergt. Mit neun Jahren schickt man ihn zur Schule, denn Lesen, Schreiben und Rechnen soll der Bub schon können. Nach dem Unterricht und in den Ferien arbeitet er umso härter daheim mit.

Sein Vater Nikolai hat einen Beruf, er ist Dachdecker. Dabei ist er von der Auftragslage und vom Wetter abhängig. Nicht immer kann er einen ausreichenden Lohn heimbringen. Manchmal muss die vierköpfige Familie sich eine Woche lang mit einem Tageslohn begnügen.

Sobald Fjodor zwölf Jahre geworden ist, wird seine Schulbildung nach drei Klassen für ausreichend erachtet. Der jüngere Bruder übernimmt jetzt Stall und Garten, und Nikolai nimmt Fjodor mit auf die Baustellen. So erlernt er das Handwerk des Vaters, ohne Lehrzeugnis, ohne Gesellenprüfung, ohne Meisterbrief. Dass der Bursche von der Mechanik fasziniert ist und davon träumt, Fahrräder zu reparieren oder sogar neuartige Maschinen für die Feldarbeit zu erfinden, interessiert niemanden. Mit vierzehn verdient er halb so viel wie sein Vater. Als er siebzehn ist, tobt ein Bürgerkrieg durch das Land, der sich später Revolution nennen wird, für den Nikolai zu alt und seine Söhne zu jung sind. Häuser werden zerstört, Dächer beschädigt — trotzdem wird der Vater arbeitslos und mit ihm der Sohn.

Fjodor bekommt seine erste Anstellung in der riesigen Getreidemühle, die gerade noch einem Fabrikanten gehört hatte und jetzt unter staatliche Verwaltung gestellt wurde.

Dann folgt die Periode der »Neuen Ökonomischen Politik«, die Privateigentum und freie Berufe toleriert, und Fjodor macht sich selbständig. Mit seinem Vater und zwei weiteren Handwerkern bildet er eine Brigade. Einer von ihnen hat immer einen Auftrag an der Hand. Die Aufbruchsstimmung verspricht dem jungen Mann eine gute Existenz. Doch nach nur vier Jahren werden die Männer wieder in die Fabriken oder Kolchosen beordert. Fjodor geht zurück in die Getreidemühle, als ungelernter Arbeiter. Der Werkmeister erkennt das Geschick seiner Hände und seine Neugier an Maschinen, und er lernt ihn in der Werkstatt als Feinmechaniker an. Bald setzt er ihn als Fachkraft ein, nicht mehr als Hilfsarbeiter. Fjodor wird jetzt bald um Anastasias Hand anhalten können.

1922 war das Land zu einem neuen Staat geworden und heißt jetzt Sowjetunion. 1924 stirbt der Revolutionsführer, und im Jahr darauf wird Fjodors Mentor samt seiner Familie umgesiedelt. Von Kasachstan ist die Rede gewesen — Fjodor hat nie mehr etwas von ihm gehört. Er selbst muss zurück »ins Mehl«, weil jetzt die Vorschriften streng eingehalten werden müssen, und Fjodor kann keine abgeschlossene Berufsausbildung nachweisen.

Regelmäßig geht er in den kleinen Laden neben der Kirche — die jetzt keine mehr ist —, um sich Anastasias Lächeln abzuholen. Um sich zu versichern, dass sie immer noch unverheiratet ist. Sie berichtet von den Enteignungen und »Versetzungen« in der Herkunftsfamilie ihrer Mutter. Und dass sich ihr Großvater rechtzeitig aus dieser Welt verabschiedet habe. Sein Tod habe es ihm erspart, mit ansehen zu müssen, wie seine Familie auseinanderfällt und all sein Zusammengetragenes zertrümmert wird.

Fjodor bewirbt sich beim Betriebsrat der Mühle um einen Ausbildungsplatz zum Feinmechaniker. Er lernt noch einmal Lesen und Schreiben, damit er dem abends stattfindenden Unterricht folgen kann. Die schriftliche Prüfung fällt katastrophal aus. In der praktischen ist er der Beste seines Jahrgangs, darum bewilligt ihm die Kommission ein wiederholtes Antreten. Bis dahin darf er schon einmal als Anwärter in der Werkstätte der Mühle arbeiten — diesen Arbeitsplatz kennt er ja von früher bestens. Beim zweiten Antreten muss jemand beide Augen zugedrückt haben — Schreiben ist einfach nicht sein Ding, wo doch seine Hände so geschickt sind. Pläne und Zeichnungen kann er aber gut lesen. Zu Beginn des Jahres 1927 wird Fjodor regulär als Feinmechaniker in der Werkstätte des Betriebs eingestellt, er tritt der Kommunistischen Partei bei, und jetzt kann er endlich Anastasia fragen, ob sie seine Frau sein möchte.

Fjodor hat breite Unterarme mit blonden Härchen, helles glattes Haar und graue Augen. Als Bub, wenn er in den Laden geschickt wird, hat er immer ein eigentümliches Gefühl — ist das Furcht? Wenn ja, dann fühlt sich diese Furcht irgendwie angenehm an, als würde etwas Weiches über seinen Nacken streichen und ein leichtes Frösteln verursachen. Eines Tages versinkt sein heller Blick in ihren dunklen Augen und will gar nicht mehr wieder auftauchen. Er ist angezogen von der Strenge dieses Mädchens, die viele fürchten und für einen Grund ihrer Ehelosigkeit halten. Hübsch ist sie, kein Zweifel, aber ein Blick aus ihren braunen Augen jagt so manchem in ihrer Umgebung Respekt ein.

Der fünfjährige Fjodor ist noch unsicher in ihrer Gegenwart, aber nicht mehr der achtzehnjährige, und erst recht nicht der 23-jährige. Er sieht, was andere nicht sehen, sogar die Bögen feinsten Flaums über ihren Augen.

Niemand wird je Zeuge von Zärtlichkeiten zwischen den beiden. Aber ihre Blicke lassen sich nicht verbergen, und so sieht es alle Welt: Hier geht ein Liebespaar. Auch nach dem dritten Kind: Hier geht ein Liebespaar. Im Dorf wird gerätselt und getratscht. Verhext wird sie ihn haben, mutmaßen die Frauen bei ihren abendlichen Sitzungen. Das ist doch nicht normal, so ein fescher junger Mann, unsere Mädchen verdrehen die Köpfe nach ihm, und er nimmt sich ausgerechnet die da.

Die Männer stehen mit ihrem feierabendlichen Bier im Kreis, auch sie brauchen eine Erklärung: Ganz sicher stimmt bei dem da oben was nicht. Hat wohl ein einfaches Gemüt, dieser Bursche.

Eine Birke sollte es sein. Fjodor war am Tag der Geburt seiner ersten Tochter Nina, mitten im Winter, auf Geheiß seiner Schwiegermutter Jewgenija ins Wäldchen gegangen, einen jungen Baum ausgraben, um ihn in den Garten hinter dem Haus zu pflanzen, wie es der Brauch will, wenn ein Mädchen geboren wird. Die Birke würde gemeinsam mit dem Kind wachsen, und Gestalt und Wesen des Mädchens würden jener ihres Baumes ähneln — aufrecht, licht und anmutig. Bei Bedarf würden ihre Großmutter Jewgenija oder ihre Mutter Anastasia mit einem Büschel Laub von diesem Baum und mit bestimmten Worten allerlei Unheil, schädliche Blicke und Krankheit von dem Mädchen fernhalten. Später, an Ninas Hochzeitstag, würde im Brautstrauß ein Zweiglein ihrer Birke stecken. Dieses Zweiglein würden die älteren Frauen vor der Hochzeitsnacht unter die Matratze des Brautlagers legen. Sie hätten dabei im Sinn, das erste Kind möge ein Mädchen sein — wenn auch nebenan die schon ziemlich angetrunkenen Männer den Jungvermählten lautstark und anzüglich einen Sohn wünschten.

Als der Frühling kommt und den Bäumen Blätter wachsen, bemerken alle den Irrtum. Es ist ein Pappelbaum und keine Birke. Der junge Vater wird von der Nachbarschaft verspottet als einer, der wohl jeden weißen Stamm für eine Birke hält — und die erstbeste Frau für eine Braut; als einer, der im Birkenhain ausgerechnet den einzigen Fremdling erwischt; als einer, der sich in eine um zehn Jahre ältere, mürrisch dreinblickende Frau verliebt.

Die Pappel wieder aus dem Garten zu entfernen hätte Unglück gebracht. So bestimmen die Frauen eine andere junge Birke zu Ninas Baum. Die steht neben dem Weg zum Brunnen, und so kann Anastasia beim täglichen Wasserholen den Stamm berühren und jene Worte murmeln, die der Brauch verlangt. Dass ihre Tochter später die Heimat verlassen wird, würde sie nicht verhindern können, und auch sonst niemand, das ist jetzt wohl so vorbestimmt. Einen Menschen ohne feste Wurzeln kann nichts halten.

Die junge Pappel indes wächst viel schneller, als eine Birke es getan hätte, und sie erweist sich als nützlich. Abgesehen vom flaumigen Samenflug, dem Junischnee, der die Kinder mitten im Sommer entzückt, die Jugendlichen zum gefahrlosen Zündeln verführt, und von dem die Erwachsenen behaupten, er würde die Luft reinigen, wird der Baum bald zu einem unverzichtbaren Möbel. Fjodor befestigt einen Wasserspender, eine kleine Tonne aus Zink, an seinem Stamm. Nach der Gartenarbeit oder bei der Rückkehr vom Plumpsklo kann man sich die Hände waschen. Und an einem Ast, der in die Waagrechte gezwungen wurde, hängt Fjodor später die Schaukel für seine drei Kinder auf, die Anastasia in den ersten vier Jahren ihrer Ehe zur Welt...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1934 • 20. Jahrhundert • Familiengeschichte • GULAG • Hitler • Im Verborgenen • Kommunismus • Moskau • Natascha Wodin • Nationalsozialismus • Nichtangriffspakt • Österreich • Russland • Schutzbund • Stalin • Wien
ISBN-10 3-552-07235-7 / 3552072357
ISBN-13 978-3-552-07235-0 / 9783552072350
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