Robinsons Tochter (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
320 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26871-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Robinsons Tochter - Jane Gardam
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'In Robinsons Tochter steht alles drin, was ich zu sagen habe.' (Jane Gardam) Über das Leben einer zutiefst ungewöhnlichen Frau. Einfühlsam, witzig und raffiniert erzählt, wie man es von der Bestseller-Autorin der britischen Trilogie um 'Old Filth' kennt.
England 1904 - Polly, mit sechs Jahren schon eine Pflegefamilien-Veteranin, kommt zu ihren frommen Tanten in das gelbe Haus am Meer. Hier gibt es kaum Unterhaltung, aber es gibt Bücher, und lesend entwickelt sich Polly unbemerkt zu einer stillen, unbeugsamen Rebellin. Ein Buch liest sie immer wieder: 'Robinson Crusoe' wird zu ihrem Kompass in jeder Lebenslage. Ihre eigene einsame Insel verlässt Polly Flint nie ganz. Doch am Ende ihres fast ein Jahrhundert umspannenden Lebens wird sie Liebe und Enttäuschung, Depression und rettende Freundschaft kennengelernt und ihre Bestimmung gefunden haben. Ein großer Roman voller hinter gepolsterten Türen verborgener Geheimnisse, so raffiniert und klug, wie nur Jane Gardam sie inszenieren kann.

Jane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren und lebt heute in East Kent. Für ihr viel bewundertes schriftstellerisches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Nach der Bestseller-Trilogie um Old Filth sowie dem Erzählungsband Die Leute von Privilege Hill erschienen bei Hanser Berlin zuletzt die Romane Bell und Harry (2019) und Robinsons Tochter (2020).

Ich bin Polly Flint. Ich bin in das Gelbe Haus gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Ich stand auf den Stufen im Wind und im aufwirbelnden Sand, und mein Vater zog an der Messingklingel neben der großen Haustür. Gemeinsam lauschten wir dem fernen Bimmeln und den sich nähernden, tapsenden Schritten. Mein Vater vollführte ein kleines Tänzchen auf seinen kurzen Beinen und pfiff.

Es folgten knappe Szenen der Verwirrung und Bestürzung. »Tür zu. Tür zu. Der Sand, der Sand!«, und Menschen standen in der Eingangshalle auf farbigen Fliesen herum.

Wir waren nicht erwartet worden. Mein Vater brachte mich zu meinen Tanten, weil ich dort wohnen sollte — bei der spröden Miss Mary und der sanftmütigen Miss Frances. Sie waren die ältlichen Schwestern meiner jungen Mutter. Meine Mutter war tot.

Ein dickes Hausmädchen führte mich in die Küche, wo ich Tee bekam, und dann wurde ich von der sanftmütigen Tante in ein riesiges Gewölbezimmer geführt, es muss das kleine Morgenzimmer gewesen sein. Ich machte mit der sanftmütigen Tante ein Puzzle, so groß wie ein Kontinent. Ich sah nicht so weit auf, dass ich das Gesicht der Tante gesehen hätte, aber ich beobachtete unsere vier Hände, die über dem Mahagonimeer schwebten.

Dann und wann ging eine Tür auf der anderen Seite des Flurs auf und man hörte schneidende Gespräche, und einmal kam eine Frau mit einem grünen Gesicht und schwarzem Strickzeug in der Hand und gestrickter, schwarzer Kleidung und starrte mich von der Tür des Morgenzimmers aus an. Sie sagte: »Sie sieht tuberkulös aus«, hielt sich das Taschentuch vor den Mund und ging.

Vielleicht ist mein Vater ein paar Tage im Gelben Haus geblieben. Ich erinnere mich an einen Nachmittagsspaziergang mit ihm am Meer, daran, den Wellen davonzuhüpfen, und wie er (schändlicherweise schon morgens) in einem Polstersessel neben dem katafalkartigen Kaminsims im Wohnzimmer saß und döste.

Und an einem Abend hat er gesungen. Ich wusste, dass er ein wirklich fürchterlicher Sänger war, aber er tanzte dazu, und ich wusste, dass er gut tanzte — ein kleiner, schwerer Mann auf leichten Füßen. Seemannsfüßen. Er drehte Pirouetten und wirbelte im Zimmer herum, und Aunt Frances spielte in einer Kaninchenfellpelerine Klavier. Es war ein Lied von der Seefahrt.

Aunt Mary saß abseits. Die gestrickte kleine Frau hatte sich ans andere Ende des Raumes zurückgezogen und beugte sich in einer Laube aus Topffarnen über ihr Strickzeug, und das Mädchen kam mit Kohlen für das Feuer herein, stellte sie ab und barg das Gesicht in seiner Schürze, als es den Gesang hörte. Das war, wie ich bald herausfand, gar nicht ihre Art, denn Charlotte war farblos und beinahe unsichtbar. Aber sie hatte mal in einem Chor gesungen.

Ich saß auf einem Hocker und wusste, dass mein Vater all diese sonderbaren Leute um den Finger wickelte.

Es war 1904, und zwei Monate später starb mein Vater auf der Brücke seines Schiffs in der Irischen See, bei einer Kohlentour nach Belfast. Man sagte mir, er hätte einen Platz im letzten Rettungsboot abgelehnt und sei auf die traditionelle Weise an Bord geblieben — strammstehend in der Kapitänsuniform der Handelsmarine — aber schwankend und eine große Steingutflasche Gin schwenkend. Er war immer ein schnurriger Typ gewesen, sagte Aunt Frances.

Die Türschwelle, die kalten Wellen, der Polstersessel waren meine einzigen Erinnerungen an meinen Vater — dies und die Reise in das Gelbe Haus, die wir zusammen unternommen hatten. Meine Mutter war kurz vor meinem ersten Geburtstag gestorben, und die folgenden fünf Jahre hatte ich bei verschiedenen Pflegemüttern in Hafenstädten verbracht, in denen der Captain möglicherweise hätte anlegen können, das aber meistens nicht tat. Diese Leute verschwammen alle, und am meisten verschwamm die letzte, obwohl sie sich hätte einprägen müssen, denn sie war eine Quartalssäuferin und verbrachte einen beträchtlichen Teil ihres Lebens unter dem Küchentisch. Auch ich verbrachte viel Zeit auf dem Küchenfußboden, zusammen mit den anderen drei oder vier — glaube ich — Kindern in ihrer Obhut. Ich lernte, nicht ins Feuer zu fallen, und wie die Schlösser zur Speisekammer funktionierten, falls ich etwas essen wollte. Manchmal nahm sie mich in den Arm.

Eines Tages tauchte Captain Flint unerwartet auf und stieg mit mir in einen Eisenbahnwaggon erster Klasse (er neigte zur Prasserei), und in einer ganzen Reihe solcher Waggons reisten wir von Wales in den Nordosten.

Ich erinnere mich an Licht und Schatten auf fahlen Feldern — schwarze Städte, kalte Moore —, Steinmauern im Regen und eine Nacht in einem Eisenbahnhotel, nehme ich an, denn unter dem Fenster war ein verrußtes Glasdach. Durch die Ritzen darin stiegen kleine Dampfsäulen auf. Es donnerte und schepperte. Angst und Freude.

Auf den weichen Polstern des vorletzten Waggons, mit den bestickten Deckchen an den Kopfstützen — die für mich viel zu hoch waren —, saßen der Captain und ich nebeneinander. In der Gepäckablage über mir lag ein sehr kleiner Koffer. Auf dem Sitz neben mir ein chinesisches Nähkästchen voller chinesischer Nähsachen — ein Mitbringsel meines Vaters, seine letzte Reise war lang gewesen —, eine kaputtgeliebte Puppe oder so, und ein Porzellanchinese.

Der Zug zuckelte zwischen pflaumenfarbenen Backsteinen hindurch, den Bahnschuppen des Nordens. Sehr edel. Dann kamen hohe Blechschornsteine, Tausendfüßler aus klapprigen Güterwagen, Schlangennester aus Rohren, dann das Watt mit weißlich schimmernden Tümpeln. Es gab feuerspuckende Hochöfen, und manchmal konnte man einen Blick auf glühende Stangen erhaschen, die von riesigen Feuerzangen mitten in die Flammen gehalten wurden.

Vor dem Fenster auf der anderen Seite des Zuges erstreckten sich Felder weit hin bis zu farblosen Hügeln, auf deren Kuppe eine Reihe Bäume stand. Das Licht, das durch sie hindurchfiel, ließ sie aussehen wie Strickmaschen, die von den Nadeln gezogen worden waren. Der Zug schaukelte, und mein Vater pfiff durch die Zähne.

Der letzte Zug hielt an Bahnhöfen, die nur aus hölzernen Bahnsteigen bestanden. Dort stiegen Männer mit entschlossenen Gesichtern ein und aus, aber niemand kam in die Nähe der ersten Klasse. Wenn der Zug anhielt, war es still genug, dass man die Stimmen der Männer durch die Wände hören konnte, und als sie an unserem Fenster vorbeigingen, sah ich ihre markanten Gesichter und leuchtenden Augen und hörte das Quietschen ihrer verbeulten, blechernen Henkelmänner. Die Männer waren allesamt schwarz, aber nicht so schwarz wie die schwarzen Seeleute in Wales, die manchmal ins Haus der Pflegemutter kamen und die, wenn sie sich gewaschen hatten, immer noch schwarz waren. Diese Männer hier waren nur sehr schmutzig, und ihnen rann der Schweiß von der Stirn und hinterließ weiße Streifen. Die Männer in Wales hatten mich in die Luft geworfen, als ich klein war, und mich wieder aufgefangen. Große, weiße Zähne.

Nachdem die letzten Männer ausgestiegen waren, fuhr der Zug aus dem Ruß hinaus und von den Schornsteinen weg und hinauf in die Dünen. In den Dünen sah man in der Ferne das kalte Leuchten des Meeres.

Der Captain teilte eine riesige Fleischpastete. Er nahm sie aus einer fettigen Pappschachtel, riss sie mit der Hand in zwei Teile und legte die beiden Stücke ganz behutsam auf das chinesische Nähkästchen. Ich spürte interessante Widersprüche in meinem Vater. »Das«, sagte er, »ist eine herrliche Pastete. Es gibt wirklich gute Fleischpasteten. Dies ist eine herrliche Pastete.«

Es war Aunt Mary, die ältere Schwester, die mir mitteilte, dass er tot war. Sie stand sehr aufrecht an meiner Schlafzimmertür und wartete, bis Aunt Frances mir das Haar fertig gebürstet und geflochten hatte. Ich erinnere mich nicht an den Wortlaut, nur an die gestärkte weiße Schleife unter Aunt Marys Kinn. Ihr Haar unter der Haube war silbrig fahl, und die Stoppeln an ihrem Kinn waren ebenfalls silbrig. Hinter ihr im Regal stand das chinesische Nähkästchen mit dem Porzellanchinesen obendrauf. Sein Kopf steckte in einem Loch in den Porzellanschultern und nickte im Gleichtakt mit dem Auf und Ab der gestärkten Schleife. Durch das offene Schlafzimmerfenster wehte ein kalter Wind herein. Ein gläserner, blitzender, erbarmungsloser Morgen, das Meer brüllte.

Ich sagte (glaube ich): »Kann ich jetzt rausgehen zu den Hühnern?«, und rannte an Aunt Mary vorbei auf den Hof. Durch die Rauten des Hühnerzauns nickten der Chinese und die Schleife immer noch im Takt. »So ist das jetzt«, sagten sie. »Es ist passiert. Das muss man ertragen.«

Die Hühner hüpften auf ihre Stangen und wieder hinunter und...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Übersetzer Isabel Bogdan
Sprache deutsch
Original-Titel Crusoe's Daughter
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Alkohol • Bell und Harry • Bücherwurm • Charles Dickens • Charlotte Brontë • Daniel Defoe • Dichter • Einzelgängerin • Eisenhütten • Emanzipation • Erster Weltkrieg • Freundschaft • Haus am Meer • Indien • Jane Austen • Kindertransport • Klassengesellschaft • Konfirmation • Künstler • Lehrerin • Lewis Caroll • Little Women • Liverpool Street • Marschlandschaft • Mission • Nonnen • #ohnefolie • ohnefolie • Old Filth • Pflegefamilie • Rebellin • Robinson Crusoe • Schule • Weit weg von Verona • Whiskey • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-446-26871-5 / 3446268715
ISBN-13 978-3-446-26871-5 / 9783446268715
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